Mini Shopaholic Sophie Kinsella Kurzbeschreibung Schnäppchen – Schnuller – Shoppingtüten! Becky Brandon, geborene Bloomwood, hatte sich ihr Dasein als Mutter leichter vorgestellt. Die zweijährige Minnie ist tatsächlich ein sehr lebhaftes, willensstarkes Kind – man könnte sie auch als Teufelsbraten bezeichnen. Ihr Lieblingswort ist »Meins!«, und eine Vorliebe für Markenartikel ist nicht zu übersehen. Woher sie das nur hat? Becky jedenfalls kauft angesichts der Krise nur noch das Notwendigste – Handtaschen, Schuhe, Spielsachen für Minnie ... auch die Firma ihres Mannes leidet unter der Wirtschaftslage, und um Luke aufzuheitern, plant Becky heimlich eine Party zu dessen Geburtstag. Inzwischen soll die aus dem Fernsehen bekannte »Nanny Sue« aus Minnie einen Gemüse liebenden Wonneproppen machen. Kann das alles gutgehen? Pressestimmen „Unterhaltung in wunderbarer Vollendung: eine liebenswerte Heldin, seitenweise Spaß und die enorm wohltuende Gewissheit, dass wir hemmungslosen Shopaholics nicht allein auf der Welt sind.“ (Sunday Independent ) »Sophie Kinsella ist die Königin der romantischen Komödie! Ihre Figuren haben genau die richtige Dosis liebenswerter Schrullen.« (New York Post ) Click Clock Kinderladen The Old Barn 4 Spence Hill Oxshott Surrey Mrs. Rebecca Brandon                                     1. September 2005 The Pines 43 Elton Road Oxshott Surrey Liebe Mrs. Brandon, es war uns ein Vergnügen, Sie und Minnie gestern kennengelernt zu haben. Ganz bestimmt wird sie sich in unserem fröhlichen Kinderladen sehr wohl fühlen, und wir freuen uns schon darauf, sie nächste Woche wiederzusehen. Mit freundlichen Grüßen Teri Ashley Kinderladenleitung PS. Machen Sie sich bitte keine Gedanken wegen des kleinen Zwischenfalls mit den Farbspritzern. Wir sind an Kinder gewöhnt und können die Wand jederzeit neu streichen. Tick Tock Kinderladen The Old Barn 4 Spence Hill Oxshott Surrey Mrs. Rebecca Brandon                                                                      4. Oktober 2005 The Pines 43 Elton Road Oxshott Surrey Liebe Mrs. Brandon, nur ein kleiner, fürsorglicher Hinweis, was Minnie angeht. Sie ist ein süßes, lebhaftes Kind. Allerdings muss sie lernen, dass sie nicht jeden Tag alle Sachen aus der Verkleidekiste anziehen kann und die "Prinzessinnen«-Schuhe zum Spielen im Freien nicht geeignet sind. Vielleicht könnten wir das bei unserem bevorstehenden Eltern-Kind-Vormittag besprechen. Mit freundlichen Grüßen Teri Ashley Kinderladenleitung PS. Machen Sie sich bitte keine Gedanken wegen des kleinen Zwischenfalls mit dem Klebstoff. Wir sind an Kinder gewöhnt und können den Tisch jederzeit neu lackieren. Tick Tock Kinderladen The Old Barn 4 Spence Hill Oxshott Surrey Mrs. Rebecca Brandon                                                            9. November 2005 The Pines 43 Elton Road Oxshott Surrey Liebe Mrs. Brandon, vielen Dank für Ihren Brief. Wie schön, dass Sie sich auf den Eltern-Kind-Vormittag freuen. Leider wird es keine Verkleidekiste für Erwachsene geben und auch keine "Tauschbörse für Designerklamotten für die anderen Eltern«, wie von Ihnen vorgeschlagen. Erfreulicherweise hat Minnie ihre Aktivitäten in der Spielgruppe zwischenzeitlich erweitert und verbringt nun viel Zeit in unserem neuen »Kaufmannsladen«. Mit freundlichen Grüßen Teri Ashley Kinderladenleitung PS. Machen Sie sich bitte keine Gedanken wegen des kleinen Zwischenfalls mit der Tinte. Wir sind an Kinder gewöhnt, und Mrs. Soper kann sich ihre Haare jederzeit neu färben. 1 Okay. Keine Panik. Ich habe alles im Griff. Ich, Rebecca Brandon (geborene Bloomwood), bin hier die Erwachsene. Nicht meine zweijährige Tochter. Ich weiß nur nicht, ob sie es auch weiß. »Minnie, Schätzchen, gib mir das Pony!« , Ich versuche, ruhig und selbstsicher zu klingen, genau wie Nanny Sue im Fernsehen. »Ponyyyyyy.«  Jetzt hält Minnie das Spielzeugpony erst richtig fest. »Kein Pony.« »Mein!«, schreit sie hysterisch. »Meeeeiiiin Pony!« Mmpf. Ich bin mit einer Million Einkaufstüten bepackt, mir steht der Schweiß auf der Stirn, und darauf könnte ich jetzt echt verzichten. Es lief doch so gut. Ich habe das ganze Einkaufszentrum abgeklappert und die restlichen Kleinigkeiten von meiner Weihnachtsliste besorgt. Minnie und ich waren auf dem Weg zur Weihnachtsmannwerkstatt, und ich war nur kurz stehen geblieben, um mir ein Puppenhaus anzusehen. Woraufhin Minnie ein Spielzeugpony vom Regal nahm und sich weigerte, es wieder zurückzustellen. Und jetzt bin ich mitten im Pony-Schlamassel. Eine Mutter in hautengen J-Brand-Jeans kommt mit ihrer tadellos gekleideten Tochter vorbei und mustert mich mit diesem strengen Mutter-Blick. Ich zucke zusammen. Seit Minnie auf der Welt ist, muss ich feststellen, dass dieser Mutter-Blick noch viel brutaler ist als der Manhattan-Blick. Mit dem Mutter-Blick schätzen sie nicht nur bis auf den letzten Penny deine Kleidung ein. Oh, nein. Sie schätzen auch die Kleidung deines Kindes, die Buggy-Marke, die Windel-Marke, den Babybrei und ob dein Kind lächelt, schnottert oder schreit. Was für einen kurzen Blick sehr viel auf einmal ist -aber glaubt mir: Mütter sind wahre Multi-Tasker. Minnie bekommt definitiv Topnoten für ihr Outfit. (Kleid: Danny-Kovitz-Einzelstück, Mantel: Rachel Riley, Schuhe: Baby Dior). Und ich habe ihr einen Laufgurt umgeschnallt (Bill Amberg aus Leder, echt cool, war in der vogue). Statt jedoch engelsgleich zu lächeln wie das kleine Mädchen auf dem Werbefoto, stemmt sie sich dagegen wie ein Stier, den es in den Ring drängt. Ihre Augenbrauen sind vor Zorn zerknittert, ihre Wangen sind rosig, und sie holt gerade Luft, um gleich wieder loszukreischen. »Minnie!« Ich lasse los und nehme sie in die Arme, damit sie sich sicher und geborgen fühlt, genau wie es Nanny Sue in ihrem Buch (Wie man seinen Frechdachs zähmt) empfiehlt. Ich habe es neulich gekauft, um es kurz durchzublättern. Nur so aus Interesse. Ich meine, es ist ja nicht so, als hätte ich Probleme mit Minnie. Oder als wäre sie schwierig. Oder gar unbeherrscht und starrsinnig, wie die blöde Lehrerin in der Kindermusikgruppe gesagt hat. (Was weiß die denn schon? Die kann ja nicht mal richtig Triangel spielen.) Minnie ist nur ... lebhaft. Sie hat eben eine klare Meinung zu allem und jedem. Zum Beispiel Jeans (trägt sie nicht) oder Möhren (isst sie nicht). Und momentan ist sie eben der Ansicht, dass sie ein Spielzeugpony besitzen sollte. »Minnie, Schätzchen, ich liebe dich sehr«, gurre ich sanft, »und es würde mich sehr glücklich machen, wenn du mir das Pony geben würdest. So ist es recht, gib es Mama...«  Fast habe ich es geschafft. Meine Finger schließen sich um den Kopf des Ponys ... Ha. Gewusst wie. Ich hab's. Unwillkürlich sehe ich mich um, weil ich doch gern wissen möchte, ob jemand Zeuge meiner fachmännischen Erziehungsmethoden geworden ist. »Meeeeiiin!« Minnie reißt sich aus meinen Armen los und flüchtet mit dem Pony quer durch den Laden. Mist. »Minnie! MINNIE!«, schreie ich. Ich schnappe mir meine Tüten und haste Minnie hinterher, die schon in der Superhelden-Abteilung verschwunden ist. Mein Gott, ich weiß gar nicht, wozu wir uns die Mühe machen, die vielen Athleten für die Olympischen Spiele zu trainieren. Wir sollten einfach ein Team aus Kleinkindern aufstellen. Als ich sie einhole, pfeife ich aus dem letzten Loch. Irgendwann muss ich echt mit den postnatalen Übungen anfangen. »Gib mir das Pony!«  Ich versuche, es ihr abzunehmen, aber sie saugt sich daran fest wie eine Napfschnecke. »Meeeeiin Ponyyyy!« Ihre dunklen Augen blitzen mich entschlossen an. Wenn ich Minnie manchmal so betrachte, sieht sie ihrem Vater dermaßen ähnlich, dass ich zusammenzucke. Apropos, wo ist Luke eigentlich? Eigentlich wollten wir die Weihnachtseinkäufe gemeinsam erledigen. Als Familie. Aber er ist schon vor einer Stunde verschwunden, hat irgendwas davon gemurmelt, er müsste mal kurz telefonieren, und seitdem habe ich nichts mehr von ihm gesehen. Wahrscheinlich sitzt er irgendwo im Cafe, gönnt sich einen gepflegten Cappuccino und liest Zeitung. Typisch. »Minnie, das gibt es nicht«, sage ich so entschlossen wie möglich. »Du hast schon reichlich Spielzeug, und du brauchst kein Pony.« Eine Frau mit strähnigen Haaren, grauen Augen und zwei kleinen Jungen im Zwillingsbuggy nickt wohlwollend mit dem Kopf. Prompt mustere ich sie selbst auch mit dem MutterBlick. Sie ist eine von diesen Müttern, die Crocs und selbst gestrickte Strümpfe tragen. (Warum machen manche Leute so was? Warum?) »Das ist Wucher, oder?«, sagt sie. »Diese Ponys kosten vierzig Pfund! Meine beiden fragen gar nicht erst », fügt sie hinzu und betrachtet ihre zwei Jungs, die stumm in der Karre lümmeln, die Daumen im Mund. »Wenn man ihnen einmal nachgibt, ist das der Anfang vom Ende. Meine sind gut erzogen. » Angeberin. »Absolut «  sage ich würdevoll. »Da bin ich ganz Ihrer Meinung.« »Manche Eltern würden ihrem Kind dieses Pony kaufen, nur um ihre Ruhe zu haben. Disziplinlos. Es ist erbärmlich.« »Furchtbar«, stimme ich ihr zu und will mir das Pony schnappen, doch Minnie weicht mir geschickt aus. Verdammt. »Man darf ihnen auf keinen Fall nachgeben.« Die Frau mustert Minnie mit steinhartem Blick. »Das ist die Wurzel allen Übels.« »Also, ich gebe meiner Tochter niemals nach«, sage ich eilig. »Du kriegst das Pony nicht, Minnie. Das ist mein letztes Wort!« »Ponyyyyy!« Minnies Klagen wird zu herzzerreißendem Schluchzen. Sie ist eine echte Drama Queen. (Das hat sie von meiner Mum.) »Na, dann viel Glück!« Die Frau geht weiter. »Und ein frohes Fest!« »Minnie, hör auf damit!«, zische ich sie wütend an, sobald die Frau verschwunden ist. »Das ist so was von peinlich! Wozu willst du das blöde Pony denn überhaupt?« »Ponyyyyy!« Sie presst das Pony an ihre Brust wie ein verloren geglaubtes, treues Haustier, das in die Fremde verkauft wurde und sich nun aus Sehnsucht nach ihr auf wunden Hufen fünfhundert Meilen bis zur heimischen Farm geschleppt hat. »Es ist doch nur ein albernes Spielzeug«, sage ich ungeduldig. »Was ist denn da so besonders dran?« Und zum ersten Mal sehe ich mir das Pony richtig an. Wow. Ehrlich gesagt ist es ziemlich cool. Es ist aus weiß bemaltem Holz, mit kleinen Glitzersternchen und einem super süßen, handgemalten Gesicht. Und es hat kleine, rote Räder. »Du brauchst wirklich kein Pony, Minnie«, sage ich, wenn auch nicht mehr mit derselben Entschlossenheit wie vorher. Gerade habe ich den Sattel bemerkt. Ist das echtes Leder? Und es hat echtes Zaumzeug mit Schnallen, und die Mähne ist aus echtem Pferdehaar. Und dazu gibt es Putzzeug! Da sind vierzig Pfund gar nicht mal so teuer. Ich stoße eins der kleinen, roten Räder an, und es dreht sich perfekt. Wenn ich es recht bedenke, hat Minnie noch gar kein Spielzeugpony. Da ist eine unübersehbare Lücke in ihrem Spielzeugregal. Ich meine, nicht dass ich nachgeben würde. »Es lässt sich auch aufziehen», höre ich eine Stimme hinter mir, und als ich mich umdrehe, sehe ich eine ältliche Verkäuferin auf uns zukommen. »Da ist ein Schlüssel im Fuß. Sehen Sie mal!« Sie dreht den Schlüssel, und Minnie und ich sehen fasziniert, wie sich das Pony zu klimpernder Musik wie auf einem Karussell auf und ab bewegt. Oh, mein Gott! Dieses Pony ist das Größte! »Zum Weihnachtsfest kostet es bei uns nur vierzig Pfund», fügt sie hinzu. »Normalerweise liegt der Ladenpreis bei siebzig Pfund. Diese Ponys werden in Schweden handgefertigt.«  Fast fünfzig Prozent runtergesetzt. Ich wusste, dass es ein guter Deal ist. Hatte ich nicht gesagt, dass es ein guter Deal ist? »Das gefällt dir, was, meine Kleine?«  Die Verkäuferin lächelt Minnie an, die strahlend zu ihr aufblickt, gar nicht mehr trotzig. Ich will ja nicht prahlen, aber sie sieht ziemlich süß aus mit ihrem roten Mantel, den dunklen Zöpfen und ihren Grübchen in den Wangen. »Möchten Sie es gern haben?«  »Ich ... äh ... ,« Ich räuspere mich. Komm schon, Becky. Sag nein. Sei eine gute Mutter. Geh einfach raus. Unauffällig streichelt meine Hand die Mähne.  Aber es ist so zauberhaft! Sieh sich nur einer das süße, kleine Gesichtchen an! Und ein Pony ist ja nicht irgendeine alberne Modeerscheinung. Es ist ein Klassiker. So was wie die Chanel-Jacke unter den Spielzeugen. Und Weihnachten steht vor der Tür. Und es ist heruntergesetzt. Und plötzlich fällt mir ein, dass sich vielleicht herausstellen könnte, dass Minnie eine begabte Reiterin ist. Ein Spielzeugpony könnte genau der Anstoß sein, den sie braucht. Ich sehe sie schon vor mir, wie sie mit zwanzig neben einem prachtvollen Pferd steht, in einer roten Jacke, bei den Olympischen Spielen, wie sie in die Fernsehkamera sagt: »Angefangen hat alles eines Tages zu Weihnachten, als ich ein Geschenk bekam, das mein Leben verändert hat ... « Meine Gedanken rattern wie ein Superrechner der Zukunft. Es muss eine Möglichkeit geben, wie ich gleichzeitig: 1. nicht Minnies Wutanfall nachgebe, 2. eine gute Mutter bleibe und 3. das Pony kaufe. Ich brauche eine von diesen cleveren, kreativen Lösungen, für die Luke seinen Finanzberatern viel Geld bezahlt ... Und dann fällt mir die Lösung ein. Eine total geniale Idee. Ich kann gar nicht glauben, dass ich nicht vorher draufgekommen bin. Ich zücke mein Handy und schreibe Luke eine SMS. Luke! Eben kam mir ein guter Gedanke. Ich finde, Minnie sollte Taschengeld bekommen. Sofort plingt eine Antwort: Wozu das denn? Damit sie sich was kaufen kann!,schreibe ich schon, dann überlege ich es mir anders. Ich lösche den Text und tippe stattdessen: Kinder sollten frühzeitig lernen, wie man mit Geld umgeht. Habe ich gerade gelesen. Es stärkt sie und fördert ihr Verantwortungsbewusstsein. Kurz darauf simst Luke: Können wir ihr nicht einfach die Financial Times kaufen? Schnauze,tippe ich. Sagen wir zwei Pfund die Woche, okay? Bist du irre?,kommt zurück. 10p die Woche sind reichlich. Indigniert starre ich das Handy an. Zehn Pence? Er ist echt ein Geizkragen. Was soll sie sich denn davon kaufen? Und bei 10p die Woche können wir uns das Pony niemals leisten. 50p die Woche,tippe ich entschlossen. Das ist der Schnitt.(Das prüft er nie im Leben nach.) Wo steckst du eigentlich? Ist schon fast Zeit für den Weihnachtsmann! OK, meinetwegen. Bin gleich da,kommt als Antwort. Ja!!! Als ich mein Handy wegstecke, rechne ich im Kopf alles durch. 50p pro Woche, zwei Jahre lang, macht52. Ganz einfach. Mein Gott, wieso hab ich noch nie an Taschengeld gedacht? Ist doch perfekt! Da bekommen unsere Shopping-Ausflüge eine völlig neue Dimension. Ich drehe mich zu Minnie um und bin ganz stolz auf mich. » Hör zu, Süße«, verkünde ich. »Ich werde dir dieses Pony nicht kaufen, denn schließlich hatte ich ja vorher schon nein gesagt. Aber du kannst es dir von deinem eigenen Taschengeld kaufen. Ist das nicht aufregend?« Minnie betrachtet mich etwas verunsichert. Ich interpretiere das als ja. »Da du noch nichts von deinem Taschengeld ausgegeben hast, bleiben dir zwei volle Jahresbeträge. Da kommt einiges zusammen. Siehst du, wie toll Sparen ist?«, füge ich strahlend hinzu. »Siehst du, wie viel Spaß es macht?« Als wir zur Kasse gehen, bin ich ausgesprochen zufrieden mit mir. Thema: verantwortungsvolle Erziehung. Ich konfrontiere mein Kind frühzeitig mit den Prinzipien der Finanzplanung. Ich könnte Fernseh-Guru werden! Super Nanny Becky: Erziehungstipps für Fiskalisch Verantwortungsvolle Eltern. Ich könnte in jeder Sendung andere Stiefel tragen ... »Kutsche.« Abrupt schrecke ich aus meinem Tagtraum auf und sehe, dass Minnie das Pony weggeworfen hat und jetzt eine Monstrosität aus pinkem Plastik an sich drückt. Woher hat sie das Ding? Es ist Winnie Poohs Schubkarre. »Hupka?« Voller Hoffnung blickt sie zu mir auf. Was? »Die Schubkarre kaufen wir aber nicht, Schätzchen«, sage ich geduldig. »Du wolltest das Pony. Das süße Pony, weißt du noch?« Gleichgültig betrachtet Minnie das Pony. »Hupka.« »Pony!« Ich hebe das Pony vom Boden auf. Es ist echt frustrierend. Wie kann sie dermaßen wankelmütig sein? Das hat sie bestimmt von Mum. »Hupka!« »Pony!» sage ich lauter als beabsichtigt und schwenke das Pony nach ihr. »Ich will das Ponyyyyyy ... « Plötzlich kribbelt es in meinem Nacken. Ich drehe mich um und sehe die Frau mit den beiden Jungen. Sie steht ein paar Schritte entfernt und starrt mich mit ihren steinernen Augen an. »Ich meine ...« Mit heißen Wangen lasse ich das Pony sinken. »Ja, du darfst dir das Pony von deinem Taschengeld kaufen. Simple Finanzplanung«, füge ich eilig hinzu, an die Frau mit dem steinernen Blick gewandt. »Heute haben wir gelernt zu sparen, bevor man sich etwas kaufen kann, nicht wahr, Liebes?«  Minnie hat ihr ganzes Taschengeld für das Pony ausgegeben, und es war eine gute Wahl ... » »Ich habe das andere Pony gefunden!«  Plötzlich taucht die Verkäuferin wieder auf, keuchend und mit einer staubigen Schachtel in der Hand. »Ich wusste, dass wir noch eins im Lager haben. Ursprünglich war es nämlich ein Paar, wissen Sie ... ?« Es gibt noch ein Pony? Unwillkürlich stöhne ich auf, als sie es hervorholt. Es ist mitternachtsblau mit rabenschwarzer Mähne, voller Sternchen und mit goldenen Rädern. Es ist absolut hinreißend. Es ist die perfekte Ergänzung für das andere. Oh, Gott, wir müssen beide kaufen. Wir müssen einfach. Irritierenderweise steht die steinäugige Frau mit ihrem Buggy da und beobachtet uns. »Schade, dass du dein ganzes Taschengeld schon ausgegeben hast, was?«, sagt sie zu Minnie, mit so einem verklemmten, unfreundlichen Lächeln, das darauf hindeutet, dass sie weder Spaß noch Sex hat. Mir scheint, das sieht man Menschen eigentlich immer an. »Ja, nicht?«, sage ich höflich. »Da haben wir ein Problem. Wir müssen uns etwas einfallen lassen.« Einen Moment lang denke ich angestrengt nach, dann wende ich mich Minnie zu. »Schätzchen, hier kommt deine zweite Lektion in Finanzplanung. Wenn man auf ein einmaliges Angebot stößt, darf man sich über die Spar-Regel hinwegsetzen. Das nennt man dann: >ein Schnäppchen machen<.« »Sie wollen es ihr kaufen? Einfach so?«, sagt die steinäugige Frau ungläubig. Was geht sie das an? Gott, ich hasse Mütter. Dauernd müssen sie sich einmischen. Sobald man ein Kind hat, kommt man sich vor wie ein Kästchen auf einer Website, in dem steht: >Bitte fügen Sie hier Ihre unverschämten Kommentare ein.< »Selbstverständlich werde ich es ihr nicht kaufen«, sage ich etwas hölzern. »Sie wird es von ihrem Taschengeld bezahlen. Schätzchen ... « Ich gehe in die Hocke, um Minnies Aufmerksamkeit auf mich zu lenken. »Wenn du das Pony bei 50p die Woche von deinem Taschengeld bezahlst, dauert es etwa ... sechzig Wochen. Du wirst einen Vorschuss brauchen. So etwas wie einen >Überziehungskredit<.« Ich artikuliere deutlich. »Damit hast du also mehr oder weniger dein ganzes Taschengeld ausgegeben, bis du dreieinhalb bist. Okay?« Minnie macht einen leicht verwirrten Eindruck. Aber vermutlich habe ich auch etwas verwirrt ausgesehen, als ich mein Konto das erste Mal überzogen hatte. Das gehört wohl dazu. »Alles klar.« Ich strahle die Verkäuferin an und reiche ihr meine Visa Card. »Danke, wir nehmen beide Ponys. Siehst du, meine Süße?«, füge ich an Minnie gewandt hinzu. »Die Lektion, die wir heute gelernt haben, lautet: »Gib niemals auf, wenn du etwas wirklich willst. So widrig die Lage auch erscheinen mag, es findet sich immer ein Ausweg.«, Ich bin richtig stolz auf mich, als ich diese güldene Weisheit von mir gebe. Darum geht es in der Erziehung. Seinem Kind beizubringen, wie es in der Welt so läuft. »Weißt du, mir hat sich auch mal eine ganz erstaunliche Gelegenheit geboten», füge ich hinzu, während ich meine PIN Nummer eintippe. »Ein Paar Stiefel von Dolce & Gabbana, um neunzig Prozent heruntergesetzt! Nur war meine Kreditkarte leider am Limit. Aber habe ich aufgegeben? Nein! Natürlich nicht!« Minnie hört so begeistert zu, als würde ich die Geschichte von den Drei Bären erzählen. »Ich bin in meiner Wohnung herumgerannt und habe meine Tüten und Taschen durchwühlt und alles Kleingeld zusammengesammelt ... und weißt du was?« Um die Wirkung zu steigern, lege ich eine Pause ein. »Das Geld reichte! Ich konnte mir die Stiefel kaufen! Hurrah!«  Minnie klatscht in die Hände, und zu meinem Entzücken fangen auch die bei den kleinen Jungen heiser an zu jubeln. »Wollt ihr noch eine Geschichte hören?« Ich strahle sie an. »Soll ich euch vom Musterverkauf in Mailand erzählen? Eines Tages laufe ich die Straße entlang, als ich dieses mysteriöse Schild sehe.« Ich reiße die Augen weit auf. »Und was glaubt ihr, was da geschrieben stand?«  »Lächerlich.«  Abrupt dreht die steinäugige Frau ihren Buggy um. »Kommt, Kinder, wir müssen nach Hause.« »Geschichte!«, heult einer der Jungen. »Wir werden uns diese Geschichte nicht anhören«, schnauzt sie ihn an. »Sie sind doch gestört«, fügt sie über die Schulter hinzu, als sie geht. »Kein Wunder, dass Ihr Kind so verwöhnt ist. Was hat sie denn für Schühchen an? Gucci?« Verwöhnt? Mir schießt das Blut in die Wangen. Sprachlos starre ich sie an. Wie kommt sie denn darauf? Und von Gucci gibt es solche Schuhe überhaupt nicht. »Sie ist nicht verwöhnt!«,  bringe ich schließlich hervor. Doch die Frau ist schon hinter dem Postman-Pat-Regal verschwunden. Nun, ich werde ihr bestimmt nicht hinterherrennen und schreien:«Jedenfalls lümmelt mein Kind nicht den ganzen Tag Daumen nuckelnd im Buggy herum, und außerdem: Haben Sie eigentlich schon mal daran gedacht, Ihren Kindern die Nase zu putzen?«  Denn das wäre kein gutes Vorbild für Minnie. »Komm schon, Minnie.« Ich gebe mir Mühe, mich zu fangen. »Sehen wir uns mal die Weihnachtsmannwerkstatt an. Danach geht es uns bestimmt besser.«  2 Nie im Leben ist Minnie verwöhnt. Im Leben nicht. Okay, manchmal hat sie so ihre Momente. Wie wir alle. Aber verwöhnt ist sie nicht. Ich müsste es doch wissen, wenn sie verwöhnt wäre. Schließlich bin ich ihre Mutter. Trotzdem merke ich auf dem Weg zur Weihnachtsmannwerkstatt, dass ich leicht aus der Fassung bin. Wie kann man sich so danebenbenehmen? Noch dazu an Heiligabend. »Zeig jetzt einfach, wie wohlerzogen du bist, Süße«, raune ich Minnie zu, als wir Hand in Hand gehen. »Sei einfach ein kleiner Engel, wenn du vor dem Weihnachtsmann stehst, okay?« Jingle Bells bimmelt aus den Lautsprechern, und unwillkürlich bessert sich meine Laune, als wir näher kommen. Als kleines Mädchen bin ich zu genau derselben Weihnachtsmannwerkstatt gegangen. »Guck mal, Minnie!« Aufgeregt zeige ich mit dem Finger. »Sieh dir die Rentiere an! Die vielen Geschenke!« Da steht ein Schlitten mit zwei lebensgroßen Rentieren, und alles ist voll mit Kunstschnee und Mädchen in grünen Kostümen, als Elfen verkleidet. Das ist neu. Am Eingang blinzle ich überrascht die Elfe an, die uns mit sonnenstudiogegerbtem Dekolleté begrüßt. Sucht sich der Weihnachtsmann seine Elfen heutzutage bei Modelagenturen? Und sollten Elfen violette Acrylnägel tragen? »Fröhliche Weihnachten!«, begrüßt sie uns und stempelt mein Ticket ab. »Besuchen Sie auch unseren Wunschbrunnen, und geben Sie dort Ihren Weihnachtswunsch ab. Der Weihnachtsmann wird später alle Wünsche lesen!« »Hast du das gehört, Minnie? Wir dürfen uns was wünschen!« Ich sehe zu Minnie hinunter, die wortlos staunend die Elfe betrachtet. Seht ihr? Sie benimmt sich mustergültig. »Becky! Hier drüben!«, Ich drehe meinen Kopf und sehe, dass Mum schon in der Schlange steht, mit festlich glitzerndem Schal. Sie hält die Griffe von Minnies Buggy fest, der mit Tüten und Paketen beladen ist. »Der Weihnachtsmann macht gerade seine Teepause«, fügt sie hinzu, als wir uns zu ihr gesellen. »Es wird bestimmt noch mindestens eine halbe Stunde dauern. Dad hat sich auf die Suche nach Camcorder-Disks gemacht, und Janice kauft ihre Weihnachtskarten.« Janice ist Mums Nachbarin von nebenan. Sie kauft ihre Weihnachtskarten jedes Jahr Heiligabend zum halben Preis, schreibt sie am 1. Januar und legt sie für den Rest des Jahres in die Schublade. Sie nennt es >sich selbst überholen<. »Schätzchen, würdest du dir mal ansehen, was ich für Jess gekauft habe?« , Mum wühlt in einer Tüte herum und holt vorsichtig ein hölzernes Kästchen hervor. »Ist das okay?« Jess ist meine Schwester. Meine Halbschwester, um genau zu sein. Sie kommt in ein paar Tagen aus Chile zurück, weshalb wir für sie und Tom ein zweites Weihnachten inszenieren, mit Truthahn und Geschenken und allem, was dazugehört! Tom ist Jess' Freund. Er ist der einzige Sohn von Janice und Martin, und ich kenne ihn schon mein Leben lang, und er ist wirklich ... Nun. Er ist wirklich ... Egal ... entscheidend ist, die beiden lieben sich. Und schwitzige Hände sind in Chile wahrscheinlich nicht so schlimm, oder? Ich finde es toll, dass sie kommen, besonders da es bedeutet, dass wir Minnie endlich taufen können. (Jess wird ihre Patentante.) Aber ich begreife, wieso Mum gestresst ist. Jess ein Geschenk zu kaufen ist problematisch. Sie mag nichts, was neu oder teuer ist oder Plastik oder Parabene enthält oder in einer Tasche steckt, die nicht aus Hanf ist. »Ich habe ihr das hier gekauft.« Mum klappt den Deckel des Kästchens auf und legt eine ganze Reihe ausgefallener Glasfläschchen frei, die sich dort ins Stroh kuscheln. ,»Es ist Duschgel«,  fügt sie eilig hinzu. »Nicht für die Badewanne. Wir wollen nicht schon wieder schuld am DrittenWeltkrieg sein!« Es gab da diesen kleinen, peinlichen Zwischenfall, als Jess letztes Mal hier war. Wir feierten ihren Geburtstag, und Janice schenkte ihr ein Schaumbad, woraufhin uns Jess eine zehnminütige Standpauke hielt, wie viel Wasser ein Wannenbad verbraucht und dass die Leute in den westlichen Wohlstandsländern von Reinlichkeit besessen sind und jeder nur einmal die Woche fünf Minuten duschen sollte -so wie Jess und Tom es machen. Janice und Martin hatten sich vor Kurzem erst einen Whirlpool einbauen lassen, deshalb kam Jess' Bemerkung bei ihnen nicht sonderlich gut an. »Was meinst du?«, sagt Mum. »Weiß nicht.« Sorgfältig lese ich den Aufkleber am Kästchen. »Sind da irgendwelche künstlichen Zusätze drin? Werden bei der Herstellung Menschen ausgebeutet?« »Ach, Liebes, ich weiß es nicht.« Zögerlich betrachtet Mum das Kästchen, als wäre es eine Nuklearwaffe. ,»Da steht rein natürlich«, meint sie schließlich. »Das ist gut, oder?« »Ich denke, das müsste gehen.« Ich nicke. »Aber erzähl ihr nicht, dass du es aus einem Einkaufszentrum hast. Sag, du hast es in einem kleinen Ökoladen gekauft.« »Gute Idee.« Mum strahlt. »Und ich wickle es in Zeitungspapier. Was hast du für sie?« »Ich habe ihr eine Yogamatte gekauft, handgefertigt von Bäuerinnen in Guatemala« sage ich ein wenig selbstzufrieden. »Damit werden dörfliche Farmprojekte finanziert, und sie verwenden recycelte Plastikkomponenten von Computern.« »Becky!«, sagt Mum voller Bewunderung. »Wie bist du denn darauf gekommen?« »Ach ... Recherche.« Ich zucke leichthin mit den Schultern. Ich werde nicht zugeben, dass ich „grün moralisch vertretbar Geschenk recycelt Umwelt Geschenkpapier gegoogelt habe“. »Weih-machen! WEIH-MACHEN!« Minnie zerrt so fest an meiner Hand, dass sie mir noch den Arm abreißen wird. »Geh mit Minnie zum Wunschbrunnen, Liebes«, schlägt Mum vor. »Ich halte dir den Platz frei.« Ich lege die Ponys in den Buggy und führe Minnie zum Wunschbrunnen. Er ist von künstlichen Weißbirken umgeben, an deren Ästen Feen baumeln, und wenn nicht alles voll kreischender Kinder wäre, hätte es bestimmt was Magisches. Die Wunschzettel liegen auf einem künstlichen Baumstumpf bereit. Ich nehme mir so einen Zettel mit der verschnörkelten grünen Aufschrift »Weihnachtswunsch« und reiche einen der Filzstifte an Minnie weiter. Gott, ich weiß noch, wie ich als kleines Mädchen Briefe an den Weihnachtsmann geschrieben habe. Meist wurden sie ziemlich lang und ausführlich, mit Illustrationen und Bildern, die ich aus Katalogen ausgeschnitten hatte, damit er mich bloß nicht falsch verstand. Zwei etwa zehnjährige Mädchen mit rosigen Wangen geben ihre Wünsche ab, flüsternd und kichernd, und bei ihrem bloßen Anblick werde ich ganz wehmütig. Ich muss hier mitmachen, sonst verderbe ich vielleicht noch alles. Lieber Weihnachtsmann, sehe ich mich auf den Zettel schreiben. Hier ist Becky wieder. Ich stutze, überlege einen Moment, dann schreibe ich hastig ein paar Sachen auf. Ich meine, nur drei ungefähr. Ich will ja nicht gierig rüberkommen oder so. Minnie kritzelt ihren ganzen Zettel voll und hat Filzer an den Händen und der Nase. »Der Weihnachtsmann versteht bestimmt, was du meinst«, sage ich sanft, als ich ihr den Zettel abnehme. »Werfen wir sie in den Brunnen!« Einen Zettel nach dem anderen werfe ich hinein. Winzig kleine Kunstschneeflocken driften von unten herauf, und aus einem Lautsprecher in der Nähe flötet >Winter Wonderland<, und plötzlich ist mir dermaßen weihnachtlich zumute, dass ich die Augen schließe, nach Minnies Hand greife und mir etwas wünsche. Man weiß ja nie ... »Becky?« Eine tiefe Stimme dringt in meine Gedanken, und meine Augen klappen auf. Vor mir steht Luke, sein dunkles Haar und der blaue Mantel sind mit Kunstschnee übersät. Die Augen glitzern amüsiert. Zu spät merke ich, dass ich mit zusammengekniffenen Augen inbrünstig  »Bittebitte ... « vor mich hin geflüstert habe. »Oh!«, sage ich etwas nervös. »Hi. Ich hab gerade ... « »Mit dem Weihnachtsmann gesprochen?« »Red keinen Quatsch.« Ich finde meine Haltung wieder. »Wo warst du überhaupt?« Luke antwortet mir nicht, sondern geht weg und winkt mir, ihm zu folgen. »Lass Minnie mal einen Moment bei deiner Mutter, sagt er. »Ich muss dir was zeigen.« Dreieinhalb Jahre bin ich jetzt mit Luke verheiratet, aber ich weiß manchmal immer noch nicht, was in ihm vorgeht. Während wir gehen, kneift er den Mund zusammen, und ich werde fast nervös. Was könnte es sein? »Hier.« In einer einsamen Ecke des Einkaufszentrums bleibt er stehen und zückt seinen BlackBerry. Auf dem Bildschirm sehe ich eine E-Mail von seinem Anwalt. Sie besteht aus einem einzigen Wort. »Angenommen.« »Angenommen?« Für den Bruchteil einer Sekunde begreife ich nicht. Dann habe ich plötzlich einen Geistesblitz. »Doch nicht ... Arcodas? Sie haben angenommen?« »Jep.« Und jetzt sehe ich ein winzig kleines Lächeln glimmen. »Aber ... du hast nie was gesagt ... ich hatte keine Ahnung ... « »Ich wollte keine falschen Hoffnungen schüren. Wir verhandeln schon seit drei Wochen. Es ist nicht der tollste Deal für uns ... aber er ist okay. Entscheidend ist: Es ist vorbei.« Meine Beine fühlen sich etwas zittrig an. Es ist vorbei. Einfach so. Die Sache mit Arcodas hängt schon so lange drohend über uns, dass sie schon fast zur Familie gehört, wie eine Verwandte. (Selbstverständlich keine liebe, nette Verwandte. Eher die böse, alte Hexentante mit der Warze auf der Nase und dem fiesen Gackern.) Es ist zwei Jahre her, dass Luke sich in die Schlacht gegen Arcodas gestürzt hat. Ich sage »Schlacht«. Es war nicht so, als hätte er einen Brandanschlag oder irgendwas verübt. Er weigerte sich nur, für sie zu arbeiten, und zwar aus Prinzip. Und das Prinzip war, dass er keine Bande von Rüpeln repräsentieren wollte, die ihr Personal schlecht behandelt. Luke gehört eine PR-Firma, Brandon Communications, und die meisten seiner Angestellten sind schon seit Jahren bei ihm. Nie habe ich ihn so wütend erlebt wie in dem Moment, als er herausfand, wie Arcodas sich seinen Leuten gegenüber benahm. Also hat er Arcodas gekündigt, und sie haben ihn wegen Vertragsbruchs vor Gericht gezerrt. (Was nur beweist, wie übel und anmaßend sie sind.) Woraufhin Luke sie wiederum vor Gericht gezerrt hat, weil sie nicht für die bereits geleisteten Dienste bezahlen wollten. Man hätte meinen sollen, der Richter hätte sofort gemerkt, wer der Gute ist, und zu Lukes Gunsten entschieden. Ich meine: Hallo?, haben Richter denn keine Augen im Kopf? Aber stattdessen gab es unsinnige Anhörungen und zahllose Unterbrechungen, und die ganze Sache zog sich hin und wurde total stressig. Ich muss sagen, dass ich danach eine erheblich schlechtere Meinung von Anwälten, Richtern, sogenannten »Vermittlern« und dem gesamten Rechtssystem hatte. Was ich ihnen gern persönlich gesagt hätte, wenn sie mich nur hätten zu Wort kommen lassen. Ich wollte unbedingt, dass Luke mich als Zeugin benennt. Ich hatte meine Outfit und alles schon bereit. (Dunkelblauer, enger Rock, weiße Rüschenbluse, Lackpumps.) Und ich hatte diese grandiose Rede geschrieben, die ich immer noch auswendig kann. Sie fängt an: »Meine sehr verehrten Damen und Herren Geschworenen. Ich bitte Sie, einen Blick in Ihre Herzen zu werfen. Und dann bitte ich Sie, sich die beiden Männer anzusehen, die dort vor Ihnen stehen. Ein ehrenhafter, aufrechter Held, dem das Wohlergehen seiner Mitarbeiter mehr bedeutet als Geld ... « (woraufhin ich auf Luke zeigen würde) ) ... und ein widerwärtiger, sexistischer Kerl, der alle Welt schikaniert und weder Integrität besitzt noch sich zu kleiden weiß.« (Woraufhin ich auf Iain Wheeler von Arcodas deute.) Das hätte Schwung in den Laden gebracht, und der Richter hätte seinen Hammer schlagen und rufen müssen: »Ruhe! Ruhe im Gericht!« Und dann hätte ich die Geschworenen taxiert, wie in John Grishams Romanen, und diejenigen aussondiert, die auf unserer Seite wären. Jedenfalls hatte Luke meine Pläne vollständig zunichtegemacht, als er meinte, es gäbe da gar keine Geschworenen, so ein Gericht sei das nicht. Und dann hat er gesagt, das Ganze sei sowieso ein Sumpf und er wollte nicht, dass ich da mit reingezogen werde, und ich sollte zu Hause bei Minnie bleiben. Was ich dann auch getan habe, obwohl ich vor lauter Frust fast gestorben bin. Jetzt seufzt Luke schwer und fahrt mit beiden Händen durch sein Haar. »Vorbei«, sagt er wie zu sich selbst. »Endlich.« »Gott sei Dank.« Als ich ihn umarmen will, sehe ich die Erschöpfung in seinem Gesicht. Die ganze Sache hätte Luke fast geschafft. Er musste seine Firma leiten, mit dem Verfahren klarkommen, seine eigenen Leute motivieren und neue Kunden gewinnen. »Also ... « Er legt seine Hände auf meine Schultern und sieht mir in die Augen. »Zeit für einen Tapetenwechsel.« Es dauert einen Moment, bis ich begreife, was er meint. »Wir können das Haus kaufen!« Mir stockt der Atem. »Ich habe das Angebot gleich abgegeben.«Er nickt. »Sie meinten, bis heute Abend hätten wir eine Antwort.« »Oh, mein Gott!« Vor lauter Aufregung kann ich mir einen kleinen Hüpfer nicht verkneifen. Ich kann es nicht fassen, dass es endlich so weit sein soll! Der Prozess ist vorbei! Endlich können wir bei Mum und Dad ausziehen und kriegen unser eigenes Zuhause! Wir haben schon früher versucht auszuziehen. Offen gesagt: schon öfter. Wir hatten bereits Verträge für vier Häuser aufgesetzt, aber irgendwie war es wie verhext. Entweder wollte der Verkäufer gar nicht wirklich verkaufen (Haus drei), oder plötzlich wollte er viel mehr Geld (Haus eins), oder das Haus gehörte ihm gar nicht, sondern seinem Onkel in Spanien, und das Ganze war der reine Betrug (Haus vier), oder es ist abgebrannt (Haus zwei). Ich dachte schon, wir würden das Pech nie abschütteln, und deshalb meinte Luke, wir sollten vielleicht lieber warten, bis die Sache mit Arcodas ausgestanden wäre. »Ob die Fünf unsere Glückszahl wird?« Hoffnungsvoll sehe ich Luke mit hochgezogenen Augenbrauen an. Er drückt nur die Daumen und grinst. Alles spricht für dieses Haus. Es liegt in einer hübschen Straße in Maida Vale, es hat einen zauberhaften Garten mit einer Schaukel am Baum, und drinnen ist es geradezu erstaunlich geräumig. Und es gehört so gut wie uns! Plötzlich ergreift mich ein Hochgefühl. Ich muss mir unbedingt die neue Living Etc. kaufen, so schnell wie möglich. Und die Elle Deco und Hause & Garden und Wallpaper ... »Wollen wir zurückgehen?«, sage ich beiläufig. »Vielleicht guck ich unterwegs kurz bei W. H. Smith rein und hol mir ein paar Zeitschriften ...« Ich sollte mir auf alle Fälle auch noch Grand Designs und World Interiors und 25 Beautiful Homes besorgen ... »Moment noch.« Irgendetwas an Lukes Stimme macht mich stutzig, und als ich aufblicke, sehe ich, dass er zwei Schritte zurückgetreten ist. Er hat sich abgewandt und beißt die Zähne zusammen. Irgendwas ist mit ihm los. »Hey, alles okay bei dir?«, sage ich vorsichtig. »Du hast doch nicht noch eine schlechte Nachricht, oder?«  »Nein. Aber da ist noch etwas, was ich dir kurz ... erzählen wollte.« Er macht eine Pause, faltet die Hände im Nacken, blickt  ins Leere, als könnte er sich nicht dazu bewegen, mich anzusehen. »Mir ist gerade was Merkwürdiges passiert. Ich war bei Waterstones und habe auf den Anruf von Arcodas gewartet. Bin einfach so herumspaziert ... « Wieder macht er eine Pause, diesmal länger. »Und dann habe ich Annabel ein Buch gekauft. Das neue von Ruth Rendell. Es hätte ihr gefallen.« Einen Moment schweigen wir beide. Ich weiß nicht, wie ich reagieren soll. »Luke«, beginne ich zögerlich. »Ich habe ihr allen Ernstes ein Weihnachtsgeschenk gekauft.« Er presst die Fäuste an seine Schläfen. »Verliere ich jetzt langsam den Verstand?« »Natürlich verlierst du nicht den Verstand! Du bist nur ... « Hilflos stocke ich und wünschte, ich hätte etwas Kluges und Profundes zu sagen. Verzweifelt versuche ich, mich an irgendwas aus diesem Buch über die Kunst des Trauerns zu erinnern, das ich extra gekauft habe. Denn das ist das andere Schlimme, was in diesem Jahr passiert ist. Lukes Stiefmutter ist im Mai gestorben. Sie war nur einen Monat krank, dann war sie plötzlich nicht mehr da, und Luke war sechs Monate am Boden zerstört. Ich weiß, dass Annabel nicht seine leibliche Mutter war, aber sie war seine wahre Mum. Sie hat ihn aufgezogen, und sie verstand ihn wie niemand sonst, und das Schlimmste ist, dass er sie vor ihrem Tod kaum besuchen konnte. Auch als sie schon richtig krank war, konnte er nicht alles stehen und liegen lassen und nach Devon hetzen, weil er diese Anhörungen in London hatte, die schon so oft vertagt worden waren, dass man sie unmöglich noch mal verschieben konnte. Er darf deswegen kein schlechtes Gewissen haben. Das habe ich ihm schon hunderttausend Mal gesagt. Es hätte nichts geändert. Aber ich weiß, dass er sich trotzdem schuldig fühlt. Und jetzt ist sein Dad bei seiner Schwester in Australien. Was heißt, dass Luke nicht mit ihm zusammen sein und alles wiedergutmachen kann. Was seine richtige Mutter angeht ... die wird bei uns nicht mehr erwähnt. Niemals. Lukes Beziehung zu EIinor war schon immer eher eine Hassliebe. Was leicht nachvollziehbar ist, da sie ihn und seinen Dad verlassen hat, als Luke noch ganz klein war. Aber die beiden gingen eigentlich ganz zivilisiert miteinander um, bis sie es vergeigt hat, und zwar richtig. Es muss irgendwann kurz nach der Beerdigung gewesen sein, als er sie wegen irgendeiner familiären Angelegenheit besucht hat. Ich weiß bis heute nicht genau, was sie eigentlich zu ihm gesagt hat. Irgendwas über Annabel. Irgendetwas Unsensibles und -wie ich vermute -wahrscheinlich bodenlos Taktloses. Er hat es mir weder im Detail erzählt, noch ist er je wieder auf den Zwischenfall zu sprechen gekommen -ich weiß nur, dass ich ihn noch nie so kreidebleich gesehen habe, so starr vor Zorn. Und seitdem wird Elinors Name nicht mehr erwähnt. Ich glaube kaum, dass er sich je wieder mit ihr versöhnt, in seinem ganzen Leben nicht. Was mir nur recht ist. Als ich zu Luke aufblicke, spüre ich, wie sich mir das Herz zusammenkrampft. Der Stress des letzten Jahres hat ihm zugesetzt. Zwischen seinen Augen hat er zwei kleine Falten, die nicht mal verschwinden, wenn er lächelt oder lacht. Es ist, als könnte er nie mehr hundertprozentig glücklich aussehen. »Komm schon!« Ich schlinge meinen Arm durch seinen und drücke ihn an mich.« Sehen wir uns den Weihnachtsmann an!« Während wir so gehen, lenke ich Luke unauffällig auf die andere Seite des Einkaufszentrums. Ohne bestimmten Grund eigentlich. Nur weil die Läden hübscher sind. Wie zum Beispiel der Goldschmied ... und dieser Laden mit den Seidenblumen und Enfant Cocotte, wo es handgefertigte Schaukelpferde und Designer-Bettchen aus Palisander gibt. Meine Schritte sind immer langsamer geworden, und ich gehe auf das hell erleuchtete Schaufenster zu, getrieben von einem unbestimmten Verlangen. Sieh sich einer diese entzückenden Sachen an! Die winzigen Strampler und die kleinen Deckchen! Wenn wir noch ein Baby hätten, könnten wir uns nagelneue Deckchen kaufen. Und es wäre voll schnuckelig und niedlich, und Minnie könnte helfen, ihr Geschwisterchen im Kinderwagen herumzuschieben, und wir wären eine richtige Familie ... Ich blicke zu Luke auf, um nachzusehen, ob er vielleicht dasselbe denkt wie ich und mir mit sanftem, liebevollem Blick in die Augen sieht. Stattdessen starrt er stirnrunzelnd auf seinen BlackBerry. Also, ehrlich. Wieso geht er nicht mehr auf meine Gedanken ein? Wir sind doch verheiratet, oder nicht? Er sollte mich verstehen. Er sollte merken, wieso ich ihn zu einem Babyladen führe. »Das ist doch echt süß, oder?«  Ich zeige auf ein Teddybär Mobile. »Mmmhmm.«  Luke nickt, ohne aufzublicken. »Wow! Guck dir mal den Kinderwagen an!« Begehrlich deute ich auf ein atemberaubendes Hi-Tech-Vehikel mit dicken Rädern, die aussehen, als stammten sie von einem Hummer. »Ist der nicht toll?«  Wenn wir noch ein Baby bekämen, könnten wir auch einen neuen Kinderwagen kaufen. Ich meine, wir müssten sogar einen neuen haben. Die klapprige, alte Kiste, die Minnie hatte, ist total im Eimer. (Nicht, dass ich noch ein Baby möchte, nur um eine coole Karre zu kaufen. Aber es wäre so was wie ein Bonus.) »Luke.« Ich räuspere mich.»Ich dachte gerade ... so ... über uns. Ich meine ... uns alle. Unsere Familie. Einschließlich Minnie. Und da habe ich mich gefragt ... « Er hebt eine Hand und hält seinen BlackBerry ans Ohr. »Ja, hi« Gott im Himmel, ich hasse diese Stummschaltung. Man wird kein bisschen vorgewarnt, wenn er einen Anruf bekommt. »Bin gleich wieder bei dir», sagt sein Mund lautlos zu mir, dann wendet er sich wieder seinem BlackBerry zu. »Jo, Gary, ich hab deine E-Mail bekommen.« Okay, jetzt ist also nicht der richtige Moment, den Kauf eines Kinderwagens für ein noch zu zeugendes, zweites Baby zu besprechen. Na gut. Dann verschiebe ich es eben auf später. Während ich zur Werkstatt des Weihnachtsmanns laufe, wird mir plötzlich bewusst, dass ich Minnies Auftritt unter Umständen gerade verpasse, und ich fange an zu rennen. Als ich jedoch keuchend um die Ecke schliddere, sitzt der Weihnachtsmann noch nicht mal wieder auf seinem Thron. »Becky!« Mum winkt ganz vorn in der Schlange.»Wir sind die Nächsten! Ich hab den Camcorder schon bereit ... oh, guck mal!« Eine Elfe mit breitem, leerem Lächeln hat die Bühne erklommen. Sie strahlt in die Runde und tippt ans Mikrofon, um sich Aufmerksamkeit zu verschaffen . »Hallo, liebe Kinder!«, ruft sie. »Ruhe bitte! Der Moment für eure Weihnachtswünsche ist gekommen! Wir ziehen den Wunsch eines Glückskindes, den der Weihnachtsmann dann ganz bestimmt erfüllen wird! Einen Teddy vielleicht? Oder ein Puppenhaus? Oder einen Scooter?« Das Mikrofon funktioniert nicht richtig, und genervt tippt sie noch mal dagegen. Dennoch geht eine Woge der Aufregung durchs Publikum, und alles drängt nach vorn. Camcorder werden geschwenkt, und kleine Kinder drängen mit leuchtenden Augen zwischen den Beinen der Leute hindurch, um etwas sehen zu können. »Minnie!«, sagt Mum aufgewühlt. »Was hast du dir gewünscht, Liebes? Vielleicht wählen sie dich aus!« »Und gewonnen hat ... Becky! Bravo, Becky!« Die plötzlich verstärkte Stimme der Elfe lässt mich zusammenzucken. Nein. Das kann nicht sein ... Es muss eine andere Becky sein. Bestimmt gibt es haufenweise kleine Mädchen, die Becky heißen ... »Und die kleine Becky hat sich gewünscht. .. « Blinzelnd betrachtet sie den Wunschzettel. »Ein Zac-Posen-Top in Aquamarin, das eine mit der Schleife, Größe 36.«  »Mist.« »Ist Zac Posen eine Figur aus einer neuen Fernsehserie?« Ratlos wendet sich die Elfe einer Kollegin zu. »Ist das so was wie ein Brummkreisel?« , Ehrlich, wie kann man in einem Kaufhaus arbeiten und noch nie von Zac Posen gehört haben? »Wie alt ist Becky?« Die Elfe lächelt in die Runde. »Becky, Mäuschen, bist du hier? Wir führen keine Brummkreisel, aber vielleicht möchtest du dir ein anderes Spielzeug vom Schlitten des Weihnachtsmanns aussuchen?«  Vor lauter Verlegenheit ziehe ich den Kopf ein. Ich bringe es nicht fertig, meine Hand zu heben. Die haben vorher nicht gesagt, dass sie die bescheuerten Weihnachtswünsche laut vorlesen wollen. Man hätte mich warnen sollen. »Ist Beckys Mami da?«  »Hier bin ich!«  ruft Mum und schwenkt selig ihren Camcorder. »Schscht, Mum!«, zische ich. »Tschuldigung!«, rufe ich mit glühenden Wangen. »Das bin ... äh, ich. Ich wusste nicht, dass Sie ... nehmen Sie einen anderen Zettel. Einen Kinderwunsch. Bitte. Werfen Sie meinen Zettel weg!« Aber die Elfe kann mich in dem Tumult nicht hören. »Außerdem diese Marni-Schuhe, die ich bei Suze gesehen habe, nicht die mit den hohen Absätzen, die anderen.«, Sie liest noch immer vor, und ihre Stimme kräht aus den Lautsprechern. »Kommt das jemandem bekannt vor?« »Und ... «( Sie sieht sich den Zettel genauer an. »Steht da: »Ein Geschwisterchen für Minnie«? Ist Minnie deine Puppe, Mäuschen? Ooooh, ist das nicht süß?« »Aufhören!«, schreie ich entsetzt und schiebe mich durch die Menge der kleinen Kinder. »Das ist vertraulich! Das sollte niemand lesen!« »Aber vor allem, lieber Weihnachtsmann, wünsche ich mir, dass Luke ...« »Halt die KLAPPE!« Verzweifelt stürze ich mich förmlich in die Werkstatt. »Das ist privat! Das geht nur den Weihnachtsmann und mich was an!« Ich greife nach der Elfe und reiße ihr den Zettel aus der Hand. »Autsch!«, schreit sie. »Verzeihung«, keuche ich. »Aber ich bin Becky.« »Sie sind Becky?« Ihre geschminkten Augen werden schmal, dann wirft sie noch einen Blick auf den Zettel, und ich sehe, dass es ihr dämmert. Einen Moment später wird ihre Miene sanfter. Sie faltet den Zettel zusammen und gibt ihn mir zurück. »Ich hoffe, Ihr Weihnachtswunsch geht in Erfüllung«, sagt sie leise, vom Mikro abgewandt. »Danke.« Ich zögere, dann sage ich: »Gleichfalls. Frohe Weihnachten.« Ich drehe mich um und will zurück zu Mum -und im Dickicht der Köpfe erkenne ich Lukes dunkle Augen. Er steht da, ganz hinten. Mein Magen steht kopf. Was hat er mit angehört? Da kommt er auf mich zu, bahnt sich einen Weg durch die Familien, mit undurchschaubarer Miene. »Oh, hi.« Ich versuche, entspannt zu klingen. »Tja ... da haben sie doch glatt meinen Weihnachtswunsch vorgelesen. Ist das nicht komisch?« »Mh-hm.« Er gibt nichts preis. Betretenes Schweigen macht sich breit. Er hat seinen Namen gehört. Ich sehe es ihm an. Eine Ehefrau hat einen unfehlbaren Instinkt, was solche Dinge angeht. Er hat seinen Namen gehört und fragt sich jetzt, was ich mir von ihm gewünscht habe. Es sei denn, er denkt nur an seine E-Mails. »Mami!« Eine schrille, unverkennbare Stimme schneidet durch meinen Kopf, und ich vergesse alles, was mit Luke zu tun hat. »Minnie!«  Ich drehe mich um und kann sie einen panischen Moment lang nicht sehen. »War das nicht Minnie?« Auch Luke ist alarmiert. »WO ist sie?« »Sie war bei Mum ... Scheiße!« Ich packe Lukes Arm und deute voller Entsetzen auf die Bühne. Minnie sitzt oben auf einem der Rentiere vom Weihnachtsmann und hält sich an den Ohren fest. Wie zum Teufel ist sie da raufgekommen? »Verzeihung ... «  Ich dränge mich zwischen Eltern und Kindern hindurch. »Minnie, komm da runter!« »Pferdchen!« Minnie tritt fröhlich auf das Rentier ein, was eine hässliche Beule im Pappmache hinterlässt. »Könnte bitte jemand dieses Kind von hier wegschaffen?«, sagt eine Elfe ins Mikrofon. « »Könnten bitte die Eltern dieses Kindes umgehend auf die Bühne kommen?« »Ich hab sie nur eine Sekunde losgelassen!«, verteidigt sich Mum, während Luke und ich Richtung Rentier hechten. »Sie ist mir entwischt!«  »Okay, Minnie«, sagt Luke entschlossen, als er die Bühne betritt. »Schluss mit lustig.« »Schlitten!« Sie klettert darauf. »Mein Schlitten!«  »Das ist kein richtiger Schlitten, und du kommst jetzt da runter!« Er fasst Minnie um die Taille und zieht, aber sie hat ihre Beine hinterm Sitz verhakt und hält sich mit Superheldenkräften fest. »Würden Sie sie bitte herunternehmen?«, sagt die Elfe mit einem Mindestmaß an Höflichkeit. Ich nehme Minnie bei den Schultern. « Okay«, raune ich Luke zu. »Du nimmst die Beine. Wir reißen sie los. Bei drei. Eins-zwei-drei ... (, Oh, nein. Oh ... Scheiße. Ich weiß nicht, wie es passiert ist. Ich weiß nicht, was wir gemacht haben. Aber der ganze verfluchte Schlitten kollabiert. Alle Geschenke fallen herunter, mitten in den Kunstschnee. Bevor ich zwinkern kann, stürzt sich die ganze Kinderhorde darauf, um sich die Gaben zu schnappen, während ihre Eltern schreien, sie sollen zurückkommen, aber sofort, Daniel, sonst gibt es nichts zu Weihnachten! Es ist das reinste Tohuwabohu. »Schenk!«, heult Minnie, streckt die Arme aus und trampelt gegen Lukes Brust.« ,Schenk!« »Schaffen Sie das verdammte Kind hier weg!«, bricht es zornig aus der Elfe hervor. Ihr Blick schweift böse über mich und Mum, und selbst über Janice und Martin, die aus heiterem Himmel aufgetaucht sind, beide in festlichen Pullis mit Rentieren darauf und voll bepackt mit Tüten vom WeihnachtsDiscountshop. »Ich möchte, dass Sie und Ihre Familie auf der Stelle den Laden verlassen!« »Aber wir sind als Nächstes dran«, erwidere ich kleinlaut. »Es tut mir wirklich schrecklich leid wegen des Rentiers, und wir bezahlen den Schaden ... « »Absolut«, stimmt Luke mit ein.« Und meine Tochter wünscht sich doch so sehr, den Weihnachtsmann zu treffen ...« »Ich fürchte, wir haben da eine kleine Regel«, sagt die Elfe sarkastisch. »Kinder, die den Schlitten des Weihnachtsmanns kaputt machen, haben das Recht auf einen Besuch verwirkt. Ihre Tochter ist hiermit vom Besuch der Weihnachtsmannwerkstatt ausgeschlossen.« »Ausgeschlossen?« Bestürzt starre ich sie an. »Sie meinen ... «  »Besser gesagt: Das gilt für Sie alle!« Mit dunkelrot lackiertem Fingernagel deutet sie zur Tür. »Na, das ist ja eine tolle Weihnachtsstimmung!«, wirft Mum ein. »Wir sind hier treue Kunden, und Ihr Schlitten war offensichtlich Stümperwerk. Am liebsten würde ich Sie der Gewerbeaufsicht melden!« »Hinaus!« Die Elfe steht noch immer da, mit ausgestrecktem Arm. Tief beschämt nehme ich die Griffe des Buggys. Schweigend traben wir hinaus und sehen, wie uns Dad in seiner wasserdichten Jacke entgegeneilt, das ergrauende Haar ein wenig zerzaust. »Hab ich es verpasst? Hast du den Weihnachtsmann gesehen, Minnie, Liebchen?« »Nein.« Ich bringe es kaum fertig, es zuzugeben. »Wir wurden aus der Weihnachtsmannwerkstatt verbannt.« Dads Miene sackt in sich zusammen. »Ach, du je. Oh, Liebes.«  Er seufzt schwer. »Nicht schon wieder!« »Mh-hm.« »Wie oft jetzt schon?« , fragt Janice und verzieht das Gesicht. »Vier Mal.«  Ich sehe zu Minnie hinunter, die jetzt brav dasteht, Lukes Hand hält und wie ein kleiner Engel aussieht. »Was ist diesmal passiert?«, fragt Dad. »Sie hat den Weihnachtsmann doch nicht gebissen, oder?«  »Nein«, sage ich trotzig. »Natürlich nicht!«  Die ganze Sache mit dem Beißen vom Weihnachtsmann bei Harrods war ein totales Missverständnis. Und deren Weihnachtsmann war auch ein echter Waschlappen. Er hätte nicht gleich in die Notaufnahme gehen müssen. »Luke und ich waren schuld. Wir haben den Schlitten demoliert, als wir sie vom Rentier holen wollten.«  »Ah.«  Dad nickt wissend, und wir wenden uns trübsinnig dem Ausgang zu. »Minnie ist ein echter kleiner Wildfang, was?«, sagt Janice nach einer Weile vorsichtig. »Du kleiner Racken«, sagt Martin und kitzelt Minnie unterm Kinn. »Du hältst einen ordentlich auf Trab.« Vielleicht bin ich überempfindlich. Aber irgendwie trifft mich dieses ganze Gerede vom »in Trab halten« und »Rackern«  und »Energiebündeln«  an einem wunden Punkt. »Du willst doch wohl nicht behaupten, dass Minnie verwöhnt ist, oder?«, sage ich plötzlich und komme auf dem Marmorboden abrupt zum Stehen. »Mal ehrlich.«  Janice holt tief Luft. »Na ja«, sagt sie und wirft Martin einen Blick zu, als bräuchte sie Unterstützung. »Ich wollte ja eigentlich nichts sagen, aber ...« »Verwöhnt?« Mum schneidet ihr mit einem kleinen Lachen das Wort ab.« Unsinn! Mit Minnie ist alles in Ordnung, oder, Schätzchen? Sie weiß nur, was sie will!« Liebevoll streichelt sie Minnies Haar, dann blickt sie wieder auf. »Becky, Liebes, du warst in ihrem Alter genauso. Ganz genauso. « Augenblicklich entspanne ich mich. Mum sagt immer das Richtige. Ich sehe zu Luke hinüber, doch zu meiner Überraschung erwidert er mein erleichtertes Lächeln nicht. Er sieht aus, als plage ihn ein neuer, beunruhigender Gedanke. »Danke, Mum.« Ich umarme sie liebevoll. »Du machst immer alles wieder gut. Komm, lass uns nach Hause gehen!« Bis Minnie im Bett liegt, hat sich meine Laune gebessert. Tatsächlich ist mir richtig festlich zumute. Darum geht es doch beim Weihnachtsfest. Glühwein und Pastetchen und White Christmas im Fernsehen. Wir haben Minnies Strumpf aufgehängt (traumhafter roter Gingharn aus dem Conran Shop) und dem Weihnachtsmann ein Glas Sherry hingestellt, und jetzt sind Luke und ich im Schlafzimmer und packen ihre Geschenke ein. Mum und Dad sind wirklich großzügig. Sie haben uns das ganze Obergeschoss des Hauses überlassen, sodass wir doch einiges an Privatsphäre genießen. Der einzige Nachteil ist der kleine Kleiderschrank. Aber das macht nichts, denn ich habe auch den Schrank im Gästezimmer übernommen und außerdem alle meine Schuhe in den Bücherborden auf dem Treppenabsatz einsortiert. (Die Bücher habe ich in Kisten gepackt. Die liest doch sowieso keiner mehr.) Außerdem habe ich eine Kleiderstange in Dads Arbeitszimmer aufgehängt und ein paar Hutschachteln in der Waschküche gestapelt. Und mein versammeltes Make-up steht auf dem Esstisch, der genau die richtige Größe hat. Im Grunde ist er wie dafür gemacht. Meine Wimperntusche passt in die Messerschublade, meine Glätteisen passen perfekt auf das Beistellwägelchen, und meine Zeitschriften stapeln sich auf den Stühlen. Außerdem habe ich ein paar winzige Kleinigkeiten in der Garage verstaut, etwa meine alten Stiefel und diese beiden wunderschönen alten Truhen, die ich aus einem Antiquitätenladen habe, außerdem eine Power-Plate (die ich bei eBay gekauft habe und unbedingt endlich mal benutzen muss). Ich fürchte, da drinnen wird es langsam etwas eng, aber Dad stellt sein Auto ja sowieso nie in die Garage, oder? Nachdem Luke ein Puzzle eingepackt hat, nimmt er eine Zaubertafel in die Hand. Stirnrunzelnd sieht er sich im Zimmer um. »Wie viele Geschenke kriegt Minnie eigentlich?«  »Nur das Übliche« , sage ich eher defensiv. Obwohl ich ehrlicherweise zugeben muss, dass ich selbst etwas perplex war. Ich hatte ganz vergessen, wie viel ich im Laufe des Jahres in Katalogen und auf Handwerksmärkten gefunden und dann gebunkert hatte. »Die hier ist pädagogisch wertvoll.« Hastig reiße ich das Preisschild von der Zaubertafel. »Und sie war echt billig. Nimm noch etwas Glühwein!« Ich schenke ihm ein Glas ein, dann greife ich mir einen roten Hut mit zwei glitzernden Bommeln. Er ist einfach zu süß, und es gab ihn auch in Babygrößen. Wenn wir noch ein Baby hätten, könnte es einen Bommelhut tragen, der zu Minnies passt. Die Leute würden sie »Die Kinder mit den Bommelhüten« nennen. Plötzlich habe ich ein faszinierendes Bild vor Augen, wie ich mit Minnie die Straße hinunterlaufe. Sie schiebt ihren Puppenwagen und ich einen Kinderwagen, in dem ein echtes Baby liegt. Sie hätte einen Freund fürs Leben. Es wäre einfach perfekt ... »Becky? Tesa? Becky?«  Plötzlich merke ich, dass Luke meinen Namen schon ungefähr viermal gesagt hat. »Oh! Entschuldige! Hier, bitte. Ist das nicht zauberhaft?« Ich lasse die Bommel vor Lukes Nase baumeln. »Die gab es auch für Babys.«  Ich mache eine vielsagende Pause, lasse das Wort »Babys« in der Luft hängen und setze sämtliche telepathischen Kräfte ein, die ich als Ehefrau aufbieten kann. »Dieses Tesa ist scheiße. Das taugt nichts.« Ungeduldig wirft er es weg. Hm. So viel zur ehelichen Telepathie. Vielleicht sollte ich etwas raffinierter vorgehen. Suze hat ihren Mann Tarkie einmal dermaßen geschickt zu einer Pauschalreise nach Disneyland überredet, dass er erst im Flugzeug gemerkt hat, wohin die Reise ging. Allerdings ist Tarkie eben Tarkie (liebenswert, gutgläubig, denkt normalerweise an Wagner oder Schafe). Und Luke ist Luke (immer am Ball und denkt ständig, ich führe was im Schilde. Was ich absolut NICHT tue.) »Das mit Arcodas ist ja eine fantastische Neuigkeit!«, sage ich so nebenher. »Und das mit dem Haus auch.« »Ja, toll, nicht?« Kurz macht sich auf Lukes Gesicht ein Lächeln breit. »Es ist, als fügten sich alle Puzzleteilchen ineinander. Zumindest fast alle Puzzleteilchen.« Wieder lasse ich eine bedeutungsschwangere Pause, aber Luke merkt nichts davon. Welchen Sinn hat es, die Konversation mit bedeutungsschwangeren Pausen zu spicken, wenn der Betreffende nichts davon merkt? Ich habe genug von Heimlichkeiten. Die sind total überbewertet. »Luke, lass uns noch ein Baby machen!«, sage ich prompt. »Heute Abend!« Was folgt, ist Schweigen. Einen Moment frage ich mich, ob Luke es überhaupt gehört hat. Dann hebt er den Kopf und sieht total entgeistert aus. »Bist du verrückt?« Ich starre ihn an, sprachlos. »Selbstverständlich bin ich nicht verrückt! Ich finde, Minnie sollte einen kleinen Bruder oder eine Schwester haben. Du nicht?« »Mein Blümchen ... « Luke hockt sich hin. »Wir sind schon einem Kind nicht gewachsen. Wie um alles in der Welt sollen wir mit zwei Kindern zurechtkommen? Du weißt doch, wie sie sich heute benommen hat.«  Nicht er auch noch. »Was sagst du da?«  Unwillkürlich klinge ich verletzt. »Findest du etwa auch, dass Minnie verwöhnt ist?« »Das meine ich damit nicht«, sagt Luke ganz vorsichtig. »Aber du musst zugeben, dass sie nicht zu bändigen ist.« »Doch, ist sie wohl!«  »Sieh doch mal die Fakten! Sie wurde aus vier Weihnachtsmannwerkstätten verbannt.«  Er zählt es an den Fingern ab. »Und aus der St. Paul's Cathedral. Ganz zu schweigen von dem Zwischenfall bei Harvey Nichols und dem Fiasko in meinem Büro.«  Will er ihr das bis an ihr Lebensende vorhalten? Ich finde eher, sie sollten nicht so teure Kunstwerke an die Wände hängen. Sie sollten lieber arbeiten und nicht den ganzen Tag rumstehen und sich moderne Kunst angucken. »Sie ist nur lebhaft« ,sage ich trotzig. »Vielleicht würde ihr ein kleines Geschwisterchen gunun.«  »Und uns würde es in den Wahnsinn treiben.« Luke schüttelt den Kopf. »Becky, lass es uns bei dem einen Kind belassen, okay?«  Ich bin am Boden zerstört. Ich will es nicht dabei belassen. Ich will zwei Kinder mit Bommelhüten. »Luke, ich habe es mir wirklich gut überlegt. Ich möchte nicht, dass Minnie als Einzelkind aufwächst. Und ich möchte, dass unsere Kinder alters mäßig nah beieinander sind, nicht Jahre auseinander. Und ich habe Gutscheine im Wert von mehreren hundert Pfund für Baby World, die ich nie ausgegeben habe!« füge ich hinzu, weil es mir plötzlich einfällt. »Die laufen bald ab.«  »Becky.« Luke rollt mit den Augen. »Wir werden nicht noch ein Kind bekommen, weil wir ein paar Gutscheine für Baby World haben.«  »Das ist ja nicht der einzige Grund!«, sage ich beleidigt. »Das wäre nur ein weiterer Grund.« War klar, dass er sich darauf stürzt. Er will nur dem eigentlichen Thema ausweichen. »Also, was willst du mir damit sagen? Dass du überhaupt kein Baby mehr möchtest?«  Trotz blitzt in Lukes Miene auf. Er antwortet nicht, sondern packt das Geschenk zu Ende ein, knickt alle Ecken um und streicht das Tesa glatt. Er sieht aus wie jemand, der einem Gespräch ausweichen möchte, das ihn an seinem wunden Punkt erwischt hat. Mit wachsender Bestürzung sehe ich ihn mir an. Seit wann ist denn ein zweites Baby bei Luke ein wunder Punkt? »Vielleicht hätte ich gern noch ein Kind«, sagt er schließlich. »Theoretisch. Eines Tages.«  Tja, er könnte nicht weniger begeistert klingen. »Gut.« Ich schlucke. »Verstehe.«  »Becky, versteh mich nicht falsch. Minnie zu bekommen war ... unbeschreiblich. Ich liebe sie von ganzem Herzen, das weißt du.« Er sieht mir offen in die Augen, und ich bin zu ehrlich, als dass ich irgendetwas anderes tun könnte, als zu nicken. »Aber wir sind nicht bereit für noch ein Kind. Sieh den Tatsachen ins Gesicht, Becky. Es war ein mörderisches Jahr, wir haben noch nicht mal ein eigenes Zuhause, Minnie ist ein echter Wildfang, wir haben auch so schon genug um die Ohren ... Lass es uns fürs Erste vergessen. Freuen wir uns über Weihnachten, über uns drei. Lass uns später noch mal drüber reden, in einem Jahr vielleicht.«  In einem Jahr? »Aber das ist ja eine Ewigkeit.« Zu meinem Entsetzen bebt meine Stimme leicht. »Ich hatte gehofft, wir könnten nächstes Weihnachten schon ein neues Baby haben! Ich habe sogar schon die perfekten Namen gefunden, falls es heute klappt. Nikolaus oder Schneeflöckchen.« »Ach, Becky.« Luke nimmt meine Hände und seufzt. »Wenn wir doch nur einen Tag ohne größeren Zwischenfall hinter uns bringen könnten, wäre mir vielleicht anders zumute.«  »SO schlimm ist sie auch wieder nicht!« Er richtet sich auf. »Gab es denn einen einzigen Tag, an dem Minnie nicht irgendwie Chaos angerichtet hat?«  »Okay« , sage ich etwas widerborstig. »Wart's ab. Ich werde ein kleines Buch anlegen, in dem ich etwaige Zwischenfälle notiere, und ich wette, es wird keinen einzigen Eintrag geben. Ich wette, Minnie ist ab jetzt ein Engel.«  Schweigend mache ich mich wieder daran, Geschenke einzupacken, und reiße das Klebeband mit Gewalt ab, um zu zeigen, wie verletzt ich bin. Wahrscheinlich wollte er von vornherein gar keine Kinder. Wahrscheinlich verachtet er mich und Minnie. Wahrscheinlich wünscht er sich, er wäre nach wie vor Junggeselle und könnte den ganzen Tag mit seinem Sportwagen durch die Gegend geigen. Ich wusste es. »Sind das jetzt alle Geschenke?«, sage ich schließlich und klebe dabei eine große, gepunktete Schleife auf das letzte Päckchen. »Ehrlich gesagt ... eins habe ich noch.« Luke sieht etwas verlegen aus. »Ich konnte nicht widerstehen.«  Er geht zum Wandschrank und wühlt darin herum, hinter seinen Schuhen. Als er sich umdreht, hält er einen vergammelten Pappkarton in der Hand. Er stellt ihn auf den Teppich und holt vorsichtig ein altes Puppentheater hervor. Es ist aus Holz, die Farbe leicht verblasst, mit echten kleinen Samtvorhängen und sogar winzigen Bühnenscheinwerfern. »WOW«, hauche ich. »Das ist ja entzückend! Wo hast du das denn her?« »Hab ich bei eBay gefunden. So eins hatte ich auch als kleiner Junge, genau so eins. Dieselben Bühnenbilder, Figuren, alles.«  Gespannt sehe ich zu, wie er an den winzigen Schnüren zieht und sich die Vorhänge quietschend öffnen. Die Bühne ist mit Bühnenbildern für Shakespeares Sommernachtstraum ausgestattet, erstaunlich detailliert gemalt. Eines zeigt eine Innenszene mit Säulen, ein anderes ein Wäldchen mit einem kleinen Bach mit moosigem Ufer, wieder ein anderes einen großen Wald mit den fernen Türmen einer Burg im Hintergrund. Es gibt kleine Holzfiguren in Kostümen und sogar eine mit einem Eselskopf. Das muss ... Puck sein. Nein, nicht Puck. Der andere. Oberon. Okay, sobald Luke unten ist, werde ich schnell mal Ein Sommernachtstraum googeln. »Das habe ich immer mit Annabel gespielt.« Wie in Trance starrt Luke das kleine Theater an. »Wie alt mag ich da gewesen sein? Sechs? Es war, als wäre ich in einer anderen Welt. Guck mal, die Bühnenbilder laufen auf kleinen Rädern. Das ist feinste Handwerkskunst.« Als ich sehe, wie er die Figuren hin und her schiebt, sticht mich das schlechte Gewissen. Ich wusste gar nicht, dass Luke eine nostalgische Ader hat. Überhaupt nicht. »Pass gut auf, dass Minnie es nicht kaputt macht«, sage ich sanft. »Keine Sorge.« Er lächelt. »Weihnachten gibt es sogar eine kleine Vater-Tochter-Aufführung.« Jetzt schäme ich mich ein bisschen. Ich nehme alles zurück. Vielleicht verachtet Luke mich und Minnie doch nicht. Er hatte ein schweres Jahr. Das ist alles. Ich muss mal ein kleines Mama-Minnie-Pläuschchen halten. Ihr die Lage erklären. Dann wird sie sich schon bessern, und Luke überlegt es sich noch mal, und alles wird gut. 3 Okay, Weihnachten zählt nicht. Das weiß jeder. Man kann von einem Kleinkind nicht erwarten, dass es sich perfekt benimmt, wenn alles so aufregend und festlich geschmückt ist und es überall Süßigkeiten gibt. Und es ist auch kein Wunder, dass Minnie um drei Uhr nachts aufwacht und mit ihrem Geschrei alle aus den Betten holt. Sie wollte nur, dass wir uns ihren Weihnachtsstrumpf ansehen. Das wäre jedem so ergangen. Jedenfalls habe ich schon die erste Seite aus dem kleinen Buch mit den Zwischenfällen herausgerissen und in den Reißwolf gesteckt. Jeder darf mal mit dem falschen Fuß zuerst aufstehen. Ich nehme einen Schluck Kaffee und greife fröhlich nach einem Quality-Street-Bonbon. Gott, ich liebe Weihnachten. Das ganze Haus duftet nach Truthahnbraten, Weihnachtslieder säuseln aus der Stereoanlage, und Dad knackt Nüsse am Kamin. Unwillkürlich spüre ich so ein warmes Leuchten in mir, als ich mich im Wohnzimmer umsehe: der Baum, an dem die Lichter funkeln, die kleinen Krippenfiguren, die wir schon hatten, als ich ganz klein war (das Jesuskind ging vor Jahren verloren, aber an seiner Stelle nehmen wir immer eine Wäscheklammer). Als Minnie heute Morgen ihren Strumpf sah, wurden ihre Augen groß wie Untertassen. Sie konnte es einfach nicht glauben. Immer wieder sagte sie: »Strumpf? Strumpj?«, absolut fassungslos. »Becky, Schätzchen«, ruft Mum. Ich gehe auf den Flur hinaus und sehe sie mit einer Weihnachtsmannschürze in der Küchentür stehen. »Welche Knallbonbons wollen wir zum Mittagessen? >Lustige Spielchen< oder >LuxusgabenUltimate Nannies< sind hoch qualifiziert und Experten für kindliche Ernährung, Sicherheit, kulturelle Bereicherung und kreatives Spiel. Viele sprechen fließend Französisch/Mandarin und/oder bieten Unterricht in Musik, Mathematik nach der KUMON-Methode sowie in asiatischen Kampfsportarten oder Ballett an. Ich fühle mich total unfähig, während ich durch die Bilder lächelnder Mädchen mit langem, schimmerndem Haar scrolle, die Gemüse-Risotto kochen, durch den Garten dribbeln oder im Judoanzug dastehen. Kein Wunder, dass Minnie Trotzanfalle kriegt. Es liegt daran, dass niemand sie in asiatischer Kampfkunst oder der Zubereitung von Sushi unterweist. Die ganze Zeit über habe ich sie sträflich vernachlässigt. Plötzlich kommt mir das Marmeladentörtchen backen mit Mum in der Küche total lahm vor. Wir machen nicht mal den Teig selbst. Wir nehmen den aus der Packung. Wir müssen eine Ultimate Nanny anheuern, und zwar so schnell wie möglich. Die Sache ist nur (ein klitzekleiner Einwand): Möchte ich, dass ein Mädchen mit schimmerndem Haar in engen Jeans und Sushi-Zubereitungs-Schürze durchs Haus tänzelt? Was ist, wenn es zwischen Luke und ihr plötzlich funkt? Was ist, wenn er auch Unterricht in »asiatischer Kampfkunsh haben möchte? Ich zögere einen Augenblick. Meine Hand schwebt über dem Mousepad. Komm schon. Ich bin eine erwachsene Frau. Ich muss an die Vorteile für Minnie denken. Ich muss daran denken, dass ich einen liebevollen, treuen Ehemann habe und ich beim letzten Mal, als ich dachte, er würde sich mit einem Mädchen mit schimmernd rotem Haar vergnügen, an dessen Namen ich mich nicht mal erinnern möchte (Siehst du, Venetia? So wenig bedeutest du mir!), total danebenlag. Außerdem, falls die Nanny tatsächlich sexy sein und seidiges Haar haben sollte, kann ich ihre Arbeitszeit so legen, dass Luke sie nie zu sehen bekommt. Entschlossen fülle ich das Formular aus und drücke »Senden«. Das ist die Lösung! Rufen wir Experten hinzu. Der einzige Mensch, den ich dazu noch überreden muss, ist Mum. Sie ist nicht gerade scharf auf Kindermädchen. Oder Tagesmütter. Nicht mal auf Babysitter. Aber das liegt nur daran, dass sie sich zu viele Vorabendserien über böse, geisteskranke Kindermädchen ansieht. Ich meine, nicht jede Nanny ist zwangsläufig eine Stalkerin, die sich für eine Tote ausgibt und vom FBI gesucht wird, oder? Und will sie nicht auch, dass ihr Enkelkind kultiviert und ausgeglichen wird? Will sie denn nicht auch, dass Minnie zu den Erfolgreichen von morgen gehört? Genau. Als ich nach unten gehe, finde ich Suze bei Luke und Tarquin im Wohnzimmer. Auf dem Tisch sehe ich eine leere Kaffeekanne und einen Riesenstapel von Papieren, und offensichtlich sind sie voll bei der Arbeit. »Ihr müsst Shetland Shortbread als Marke sehen«, sagt Luke gerade. »Ihr sitzt auf etwas, das ein gewaltiger, globaler Erfolg werden könnte, aber ihr müsst das Profil schärfen. Sucht eine Geschichte, eine Persönlichkeit, ein Alleinstellungsmerkmal, einen Ansatzpunkt. Legt die Markenwerte fest.« Er ist richtig aufgedreht und enthusiastisch, wie immer, wenn er das Potential in einem neuen Projekt erkennt. Tarquin dagegen sieht aus wie ein Kaninchen im Scheinwerferlicht. »Absolut«, sagt er nervös. »Markenwerte. Äh ... hi, Becky. Luke ist uns eine große Hilfe. Wir wissen gar nicht, wie wir euch danken sollen.« »Nein, wirklich. Keine Ursache.« Luke klopft ihm auf die Schulter. »Aber ihr müsst euch neu ausrichten, Tarquin. Stell ein effektives Team zusammen! Bastle dir eine Strategie, und orientiere dich daran!« Ich muss mir das Kichern verkneifen. Sogar ich weiß, dass Tarquin kein Stratege ist. »Ich lese mir diese Verträge für dich durch und sage dir, was ich davon halte.« Luke nimmt seinen BlackBerry. »Ich weiß, dass deine Leute sie abgewunken haben, aber wie gesagt: Ich glaube, da ist mehr drin.« »Wirklich, Luke ...«, protestiert Tarquin kraftlos. »Du hast schon viel zu viel Zeit darauf verwendet ... « »Sei nicht albern.« Luke lächelt ihm kurz zu und stellt seinen BlackBerry wieder an. Tarquins knochiges Gesicht läuft rot an. Er wirft Suze einen gequälten Blick zu, ringt mit den Händen und räuspert sich. »Luke, ich weiß, du hast deine eigene Firma«, platzt er plötzlich heraus, »aber ich würde dir liebend gern einen Posten anbieten. Geschäftsführer unserer gesamten Besitztümer. Zu deinen Bedingungen. Auch was das Gehalt anbelangt.« »Einen Job?« Luke ist perplex. »Oh, ja!« Begeistert klatscht Suze in die Hände. »Großartige Idee! Das wäre ja wunderbar! Wir könnten ihnen doch auch eine Unterkunft stellen, oder?«, sagt sie zu Tarkie. »Das kleine Schloss in Perthshire wäre perfekt! Ich meine, nicht annähernd so hübsch wie euer Haus in Maida Vale«, fügt sie loyal hinzu. »Aber als Ferienhaus?« »Und ich kann mein Gehalt selbst bestimmen?«, sagt Luke langsam . »Ja«, antwortet Tarquin nach kurzem Zögern. »Ja, natürlich.« »Für sechzig Prozent aller Bruttoeinnahmen würde ich es machen«, kommt es von Luke wie aus der Pistole geschossen. Was folgt, ist sprachloses Staunen. Ich kann nicht glauben, was ich da höre. Überlegt Luke tatsächlich, Brandon Communications aufzugeben, um den Besitz der Cleath-Stuarts zu verwalten? Würden wir in einem Schloss wohnen? Oh, mein Gott. Wir wären ein echter Clan! Wir hätten unser eigenes Schottenmuster! Knallpink mit Silber und Schwarz. Es wäre der »McBloomwood of Brandom-Tartan, und wir würden schottische Tänze tanzen, und Luke würde eine fellbesetzte Tasche über seinem Kilt tragen ... »Ich ... äh ... «Tarquin wirft Suze einen panischen Blick zu. »Äh. Das scheint mir ... angemessen ... « »Tarquin!« Luke explodiert förmlich. »Selbstverständlich sind sechzig Prozent verdammt noch mal nicht angemessen! Und genau deshalb braucht ihr für eure Geschäfte einen neuen Berater, dem ihr vertrauen könnt, und deshalb werde ich ein Meeting mit ein paar Leuten vereinbaren, die ich bestens empfehlen kann, und ich komme mit und sorge dafür, dass ihr auch alles versteht ... «  Er tippt auf seinen BlackBerry ein, dann stutzt er, als er summt wie eine böse Biene. »Entschuldige, ich kriege gerade ein paar Nachrichten ... « Er starrt den Bildschirm an, sein Gesicht zuckt vor Überraschung, dann tippt er eine Antwort. »Ich wusste, dass Luke nicht wirklich ja sagen würde.« Suze sieht mich betreten an. »Er würde doch nie seine Firma aufgeben.« »Ich weiß.« Ich nicke, obwohl ich mich insgeheim etwas im Stich gelassen fühle. Im Geiste war ich schon in ein schottisches Schloss gezogen und hatte unser zweites Kind »Morag« genannt. »Nun, ich möchte mich aber mit einer Klitzekleinigkeit erkenntlich zeigen« sagt Tarquin in diesem stinkvornehmen, gestelzten Ton. »Dürfte ich euch zum Essen einladen? Oder auf eine Wochenendjagd? Oder ... oder ... wollt ihr den Sommer in unserem Haus in Frankreich verbringen? Oder ...«  »Ihr verdammte Scheiße!«, zischt Luke plötzlich leise. Was er auf seinem BlackBerry sieht, scheint ihm die Sprache zu verschlagen. »Was?« , sage ich hellwach. »Was ist los?« Luke blickt auf und scheint erst jetzt zu merken, dass wir ihn alle anstarren. »Ach, nichts.« Er setzt ein freundliches Lächeln auf, was bedeutet, dass er nicht darüber reden will. »Becky, ich muss los. Ich fürchte, es wird spät heute Abend.«  »Du kannst doch nicht so einfach gehen!«, sage ich erschüttert. »Was ist mit unserem zweiten Weihnachtsfest? Was ist mit Jess und Tom?«  »Bestell ihnen liebe Grüße.« Und schon ist er draußen. »Was ist los?(" rufe ich ihm hinterher. »Was ist denn passiert?« Aber er antwortet nicht, und gleich darauf höre ich die Haustür zuknallen. »Wer ist da an der Tür?« Mums Stimme hallt den Flur entlang. »Ist da jemand?« »Das war nur Luke«, rufe ich zurück. »Er muss zur Arbeit. Es gab da einen Notfall ... »Ich höre wieder die Haustür klappern und dann Dads Stimme. »Jess! Tom! Willkommen zu Hause!«  Jess ist da? Oh, mein Gott! Ich renne in die Diele, gefolgt von Suze, und da ist sie schon. So lang und schlank und braungebrannt wie eh und je, das kurze Haar von der Sonne ausgeblichen, in grauem Kapuzenpulli und ausgewaschenen Jeans. »Becky.« Sie umarmt mich, setzt ihren gigantischen Rucksack ab. »Schön, dich zu sehen. Gerade ist noch Luke an uns vorbeigehetzt. Hi, Suze.«  »Willkommen daheim! Hi, Tom!« »Hat schon jemand Janice angesimst?« Mum kommt aus der Küche gelaufen. »Weiß Janice Bescheid?« »Ich rufe es über den Zaum, sagt Dad. »Geht schneller als simsen.« »Schneller als simsen?«, erwidert Mum. »Unsinn! Eine SMS kommt sofort an, Graham. Das ist moderne Technik. « »Du meinst, du könntest schneller eine SMS schreiben, als ich es über den Zaun rufe?«, spottet Dad. »Das will ich sehen. Bis du dein Handy raus geholt hast ... « »Bis du rübergelaufen bist, habe ich die SMS längst abgeschickt!« Mum hat ihr Handy schon gezückt. »Janice!«, schreit Dad, als er die Auffahrt hinunterläuft. »Janice, Tom ist da! Siehst du?«, ruft er Mum triumphierend zu. »Gute, alte Sofortkommunikation: die menschliche Stimme.« »Ich hatte schon ganz vergessen, wie deine Eltern sind«, sagt Tom amüsiert zu mir, und ich grinse zurück. Er sieht gut aus. Markanter als vorher, unrasiert und schmaler um die Wangen. Es ist, als hätte er endlich ein Gesicht bekommen. Außerdem kaut er Kaugummi, sodass Mundgeruch kein Thema ist. »Jane«, fügt er hinzu, »ich gehe sowieso gleich rüber, also musst du meiner Mum nicht extra eine SMS ... « Mum ignoriert ihn. »Du glaubst auch, dass eine SMS schneller geht, oder, Becky, Schätzchen?«, sagt sie entschlossen, während sie auf ihr Handy eintippt. »Sag deinem Vater, er soll aufhören, in der Steinzeit zu leben. « Aber ich antworte nicht. Ich bin viel zu fasziniert von Jess' linker Hand, als sie den Reißverschluss an ihrem Kapuzenpulli aufzieht. Sie trägt einen Ring! An ihrem Ringfinger! Okay, es ist nicht gerade ein Solitär von Cartier. Er ist aus Knochen oder Holz oder so, mit etwas, das wie ein kleiner, grauer Kieselstein aussieht. Dennoch, es ist ein Ring! An ihrem Verlobungsfinger! Ich sehe Suzes Blick, und sie hat ihn offensichtlich auch bemerkt. Das ist echt cool! Noch eine Familienhochzeit! Minnie kann Brautjungfer sein! »Was ist?« Aufmerksam sieht Mum von Suze zu mir. »Was habt ihr ... oh!« Jetzt ist auch ihr der Ring aufgefallen. Tom ist verschwunden, und Jess beugt sich über ihren Rucksack, bemerkt uns gar nicht. Mum fängt an, lautlos etwas Langes und Kompliziertes über Jess' Kopf hinweg zu sagen. Sie wiederholt es mehrmals und zieht ein frustriertes Gesicht, weil wir sie nicht verstehen. Dann fangt sie an zu gestikulieren, und ich kriege einen Lachkrampf. »Komm mit ins Wohnzimmer, Jess!«, presse ich hervor. »Setz dich! Du musst erschöpft sein.« »Ich mache uns einen Tee.« Mum nickt. Typisch Jess, sich heimlich zu verloben und keinem ein Wort davon zu sagen. Ich an ihrer Stelle wäre hereingeplatzt und hätte gerufen: »Ratet mal, was passiert ist! Seht euch meinen Kieselring an!«  »Jess!«, hören wir Janices leicht schrille Stimme, als sie vor der Haustür ankommt. Ihr Haare sind frisch gefärbt, in knalligem Rotbraun, und sie trägt lila Lidschatten, passend zu ihren Schuhen und ihrem Armreif. »Liebchen! Willkommen daheim!« Sofort fällt ihr Blick auf Jess' Ring. Sofort. Ihr Kinn zuckt hoch, sie holt scharf Luft, dann trifft ihr Blick Mums Miene. Ich werde noch vor Lachen platzen, wenn ich mich nicht schnell verziehe. Ich folge Mum in die Küche, wo die Kinder allesamt vor der Kleinen Meerjungfrau sitzen. Wir machen den Tee und schmieren den Kindern ein paar Schinkensandwiches, während wir über den Ring flüstern und darüber, wann Jess und Tom es wohl allen erzählen werden. »Wir müssen uns ganz natürlich geben«, sagt Mum, während sie zwei Flaschen Sekt ins Tiefkühlfach legt, damit es schneller geht. »SO tun, als hätten wir nichts gemerkt. Sollen sie es uns erzählen, wenn sie so weit sind. « Ja, genau. Als wir ins Wohnzimmer kommen, sitzt Jess auf dem Sofa und nimmt offensichtlich gar nicht wahr, dass Janice, Martin, Dad und Suze, die ihr im Halbkreis gegenübersitzen, allesamt ihre linke Hand anstarren, als würde sie radioaktiv leuchten. Als ich mich setze, werfe ich einen Blick aus dem Fenster und sehe Tarquin und Ernie draußen im Garten. Tarkie macht mit den Armen seltsam werfende Bewegungen, und Ernie ahmt ihn nach. Ich stoße Suze an und sage leise: »Ich wusste gar nicht, dass Tarkie Tai Chi macht! Er ist echt gut!« Suze fährt herum und späht aus dem Fenster. »Das ist nicht Tai Chi! Sie üben Fliegenfischen.« Die beiden sind völlig vertieft -im Grunde sehen sie richtig niedlich aus, wie in einer Tierdoku, wenn Vater Bär seinem kleinen Bären das Jagen beibringt. (Abgesehen von dem winzigen Umstand, dass sie imaginäre Fische fangen. Mit nicht vorhandenen Angelruten.) »Ernie hat sogar schon eine Forelle in unserem Bach gefangen!«, sagt Suze stolz. »Mit nur ganz wenig Hilfe.« Na, also. Ich wusste, dass er Talent hat. Er ist offenbar nur auf der falschen Schule. Er sollte eine Fischfängerschule besuchen. »So!«, sagt Mum fröhlich. »Tee, Jess?« »Ja, danke.« Jess nickt. Wir schenken Tee ein, und es folgt eine kurze Pause. So eine kleine »Hat jemand irgendwas zu verkünden?«-Pause. Aber Tom und Jess sagen nichts. Janice hebt ihre Tasse an die Lippen, dann stellt sie sie wieder ab und atmet bebend aus, als könnte sie die Anspannung nicht mehr ertragen. Urplötzlich leuchtet ihr Gesicht auf. »Dein Geschenk! Jess, ich hab dir eine Kleinigkeit gebastelt ... « Sie galoppiert förmlich zum Baum, hebt ein Päckchen auf und fängt an, das Geschenkpapier selbst abzureißen. »Selbst gemachte Honighandcreme«, sagt sie atemlos. »Ich hab dir doch erzählt, dass ich angefangen habe, Kosmetika herzustellen, aus rein natürlichen Zutaten ... Trag sie auf« Janice drückt Jess die Creme in die Hand. Gebannt sehen wir alle zu, wie Jess den Ring abnimmt, Handcreme aufträgt und dann den Ring wieder aufsteckt, ohne ein Wort zu sagen. Netter versuch, Janice, möchte ich am liebsten sagen. Hätte klappen können. »Die ist toll.« Jess schnüffelt an ihrer Hand. »Danke, Janice. Schön, dass du sie selbst gemacht hast.« »Wir haben alle etwas Ökologisches für dich«, sagt Mum liebevoll. »Wir wissen ja, wie du bist, was Chlorbleiche und Naturfasern angeht. Wir haben alle was dabei gelernt, stimmt's, Becky?« »Na, das freut mich.« Jess nimmt einen Schluck Tee. »Es ist doch erstaunlich, dass die westlichen Verbraucher nach wie vor so fehlgeleitet sind. « »Ich weiß.« Mitleidig schüttle ich den Kopf. »Die haben echt keine Ahnung.« »Sie fallen auf alles rein, wenn nur das Wörtchen »grün« draufsteht.« Jess schüttelt den Kopf. »Da gibt es offenbar sogar eine fiese, unverantwortliche Firma, die Yogamatten verkauft, die aus giftigen Computerteilen gefertigt werden. Sie versuchen, die Dinger als Recycelt zu verkaufen. In Guatemala kriegen die Kinder bei der Herstellung Asthma.« Sie schlägt mit der Hand aufs Sofa. »Wie kann irgendwer so blöd sein, das für eine gute Idee zu halten?« »Aber wirklich!« Ich schlucke trocken, mein Gesicht wird heiß. Ich wage nicht, Mum anzusehen. »Was müssen das für Vollidioten sein? Ich glaube, ich sortiere die Geschenke mal ein bisschen ...« Lässig schlendere ich zum Weihnachtsbaum hinüber und schiebe die guatemaltekische Yogamatte mit dem Fuß hinter den Vorhang. Das war das letzte Mal, dass ich diesem sogenannten »grünen« Katalog vertraut habe. Die haben gesagt, sie würden den Menschen helfen, nicht sie zu Asthmatikern machen! Und was soll ich Jess jetzt schenken? »Mein Geschenk für dich ist leider noch nicht angekommen«, sage ich zu Jess, als ich mich wieder hinsetze. »Aber du kriegst ... äh ... Kartoffeln. Einen großen Sack voll. Ich weiß ja, wie gern du sie isst. Und den Sack kannst du hinterher als organisch recycelte Reisetasche nutzen. « »Oh.« Jess wirkt etwas erstaunt. »Danke, Becky.« Sie nimmt einen Schluck Tee. »Und wie laufen die Vorbereitungen für die Taufe?« »Super, danke.« Erleichtert stürze ich mich auf den Themenwechsel. »Das Essen und alles drumherum wird russisch sein. Es gibt Blinis mit Kaviar und Wodka, und für Minnie habe ich ein absolut traumhaftes Kleidchen ... « »Habt ihr euch schon auf einen zweiten Namen geeinigt?«, stimmt Mum mit ein. » Denn Reverend Parker rief gestern an und hat noch mal nachgefragt. Du musst dich langsam entscheiden, Liebes.« »Mach ich!«, beteuere ich. »Es ist nur echt schwer!« Wir hatten keinen zweiten Namen für Minnies Geburtsurkunde. (Okay, in Wahrheit gab es einen kleinen Streit. Luke war total uneinsichtig, was »Dior« anging. Und »Temperley«. Und nie im Leben würde ich mich auf »Gertrude« einlassen, selbst wenn es von Shakespeare kommt.) Also haben wir sie als »Minnie Brandon« eingetragen und beschlossen, ihr die anderen Namen bei der Taufe zu geben. Das Problem ist nur, dass es nicht leichter wird, je mehr Zeit vergeht. Luke lacht nur, wenn er meine Vorschläge liest, und sagt: »WOZU braucht sie überhaupt einen zweiten Namen?« was wirklich keine Hilfe ist. »Und gibt es bei dir was Neues, Tom?«, platzt Janice in ihrer Verzweiflung plötzlich heraus. »Ist irgendwas passiert? Gibt es was zu erzählen? Groß, klein ... irgendwas?« Sie beugt sich auf ihrem Sessel vor wie ein Seehund, der sich einen Fisch schnappen will. »Also, ja ... « Tom grinst ein wenig. »Wenn ich ehrlich sein soll, haben wir was zu erzählen.« Und zum ersten Mal tauschen er und Jess einen dieser »Wollen wir es ihnen sagen?« -Blicke. Oh, mein Gott. Sie sind es wirklich! Sie sind verlobt! Mum und Janice sitzen starr und aufrecht auf dem Sofa. Janice sieht aus, als müsste sie gleich implodieren. Suze zwinkert mir zu, und ich grinse selig. Das wird ein Riesenspaß! Wir können uns Brides kaufen, und ich helfe Jess dabei, ihr Hochzeitskleid auszusuchen, und sie wird kein trostloses, altes, recyceltest Hanfding tragen, wenn es auch grüner sein mag .. . »Jess und ich möchten euch gern mitteilen ... «, Tom blickt glücklich in die Runde, » ... wir haben geheiratet.« 4 Alle stehen noch immer unter Schock. Ich meine, natürlich ist es toll, dass Tom und Jess verheiratet sind. Es ist super. Es ist nur so, dass es uns allen so vorkommt, als hätten wir einen Schritt ausgelassen. Mussten sie es denn unbedingt in Chile in irgend einem kleinen Standesamt machen, mit nur zwei Zeugen, ohne dass wir wenigstens über Skype dabei sein konnten? Wir hätten eine Party feiern können. Wir hätten ihnen zuprosten können. Jess sagt, es gab nicht mal ein Gläschen Champagner. Offenbar haben sie irgendein Bier aus der Gegend getrunken. Bier. Manchmal verstehe ich Jess einfach nicht, und ich werde es wohl auch nie. Kein Hochzeitskleid. Keine Blumen. Kein Fotoalbum. Kein Champagner. Von der ganzen Hochzeit ist ihr nur ein Ehemann geblieben. (Ich meine, natürlich ist der Ehemann die Hauptsache, wenn man heiratet. Absolut. Das ist ja selbstverständlich. Aber trotzdem, nicht mal ein Paar Schuhe?) Und die arme, alte Janice! Als die beiden ihre Neuigkeit verkündet haben, ging es in ihrem Gesicht auf und ab wie auf einer Achterbahn. Man sah, dass sie verzweifelt versuchte, glücklich und wohlwollend auszusehen, als sei eine Heirat im fernen Chile, zu der sie nicht mal eingeladen war, genau das, was sie sich seit langem schon erhofft hatte. Nur dass eine winzig kleine Träne im Augenwinkel sie verriet. Besonders nachdem Jess sagte, sie wollten weder einen Empfang im Golfclub, noch eine Hochzeitsliste bei John Lewis, und sich dann auch noch rundweg weigerte, in ein weißes Kleid aus dem Brautmodenverleih zu steigen und mit Janice und Martin im Garten zu posieren. Janice sah dermaßen unglücklich aus, dass ich mich freiwillig dafür gemeldet habe. Es klang eigentlich ganz lustig, und neulich habe ich sogar ein paar traumhafte Hochzeitskleider im Schaufenster bei Liberty gesehen ... Egal. Ich schätze, das war vielleicht doch nicht der entscheidende Punkt. Ich trage mein Lipgloss fertig auf und trete zurück, um mich im Spiegel zu betrachten. Ich hoffe nur, dass Janice heute bessere Laune hat. Schließlich soll es doch ein Fest werden. Ich streiche mein Kleid glatt und tanze eine kleine Pirouette vor dem Spiegel. Ich trage dieses atemberaubende, dunkelblaue Kleid mit dem Kunstpelzsaum, lange Button Boots und einen Kunstpelzmuff, dazu einen langen Mantel mit Bortenbesatz und einen riesigen Kunstpelzhut. Minnie sitzt auf meinem Bett und probiert alle meine Hüte auf, was ihre Lieblingsbeschäftigung ist. Sie trägt auch ein kleines Kleid mit Pelzbesatz und weiße Stiefel, mit denen sie wie eine Schlittschuhläuferin aussieht. Ich stehe dermaßen auf dieses russische Thema, dass ich schon halb mit dem Gedanken spiele, Reverend Parker zu bitten, sie »Minska« zu taufen. Minska Katinka Karenina Brodsky Brandon. »Komm mit, Minska!«, sage ich probehalber. »Zeit, getauft zu werden! Nimm den Hut ab!« »Mein« Sie klammert sich an meinen roten Philip Treacy mit der großen Feder. Sie sieht so niedlich aus, dass ich es nicht übers Herz bringe, ihn ihr wegzunehmen. Wen kümmert es schon, ob sie einen Hut trägt? »Okay, mein Schatz.« Ich gebe nach. »Du darfst den Hut tragen. Aber jetzt gehen wir. « Ich reiche ihr die Hand. »Mein.« Augenblicklich klammert sie sich an die Balenciaga Tasche, die auf dem Bett lag. »Mein. Meeeiiiin.« »Minnie, das ist Mamis Tasche«, erkläre ich langmütig. »Du hast deine eigene kleine Tasche. Wollen wir sie suchen?« »Meeeeiiiin! Meeeeiiiin Tasche!«, schreit sie wütend und weicht vor mir zurück. Sie hält sich an der Balenciaga-Tasche fest, als wäre es der allerletzte Rettungsring auf dem weiten Meer und sie hätte keineswegs die Absicht, diesen loszulassen. »Minnie ... «, seufze ich. Fairerweise muss ich sagen, dass sie nicht unrecht hat. Die Balenciaga-Tasche ist viel hübscher als ihre kleine Spielzeugtasche. Ehrlich gesagt: Wenn ich getauft werden sollte, würde ich auch eine Balenciaga-Tasche wollen. »Na gut, okay. Du kriegst sie, und ich nehme die Miu Miu. Aber nur für heute. Jetzt gib mir diese Sonnenbrille ... « »Meeeiiin! Meeeiiin!« Sie klammert sich an das Retromodell aus den 70ern, das sie vorhin von meinem Schminktisch genommen hat. Es sind rosa Herzchen drauf, und das Ding rutscht ihr ständig von der Nase. »Minnie, du kannst nicht mit der Sonnenbrille zu deiner Taufe gehen. Sei nicht albern!« Ich versuche, streng zu klingen. Obwohl das eigentlich ein ganz cooler Look ist, mit dem Hut, der pinken Brille und der Balenciaga-Tasche. »Na gut, okay«, sage ich schließlich. »Aber mach sie nicht kaputt.« Als wir in unseren Russenkleidern vor dem Spiegel stehen, ergreift mich ein gewisser Stolz. Minnie sieht einfach anbetungswürdig aus. Vielleicht hat Suze recht. Vielleicht wird Luke seine Meinung heute ändern. Er wird sehen, wie liebenswert sie aussieht und augenblicklich weich werden und beschließen, dass er eine zehnköpfige Brut zeugen möchte. (Oder lieber nicht. Nie im Leben mache ich das mit der Geburt zehnmal durch. Selbst zweimal ist schon viel verlangt, und noch mal halte ich es nur aus, indem ich mich auf die beiden Bommelhüte konzentriere.) Apropos Luke. Wo ist er eigentlich? Er wollte heute früh kurz mal rüber ins Büro, hat aber geschworen, dass er vor elf zurück ist. Und jetzt ist es schon zehn nach. Alles okay?,simse ich eilig. Du bist doch unterwegs, oder?Dann nehme ich Minnies Arm. »Komm!« Ich strahle sie an. »Zeit für deinen großen Auftritt!« Als wir nach unten gehen, höre ich die Leute vom Partyservice herumwuseln, und Dad summt vor sich hin, während er seine Krawatte bindet. In der Diele stehen Blumengebinde, und auf dem Tisch werden Gläser arrangiert. »Ich rufe dich von der Kirche aus an ... «, sagt Mum gerade zu jemandem, als sie aus der Küche kommt. »Oh, hi, Mum.«, Überrascht starre ich sie an. Sie trägt den japanischen Kimono, den Janice ihr aus Tokio mitgebracht hat, ihr Haar ist zu einem Dutt zurückgekämmt, und die Füße stecken in kleinen Seidenslippern. »Was machst du in dem Aufzug? Solltest du nicht längst umgezogen sein?«  »Das ist das, was ich anziehe, Liebes.« Unsicher klopft sie sich ab. »Janice hat ihn mir mitgebracht. Weißt du noch? Reine Seide. Wunderbare Qualität.« Habe ich irgendwas verpasst? »Das ist hübsch. Aber es ist japanisch. Das Thema ist Russland. Schon vergessen? »Oh.« Mum sieht sich vage um, als wäre sie von irgendetwas abgelenkt. « Na ja, so wichtig wird es schon nicht sein ... «  »Doch, ist es!« »Ach, Liebes.« Mum zieht ein Gesicht. »Pelz kann ich nicht tragen. Von Tierhaaren krieg ich sofort einen Ausschlag, das weißt du doch. Ich habe mich so darauf gefreut, das hier anzuziehen. Und Janice hat den bezauberndsten japanischen Hochzeitsmantel, den man sich nur vorstellen kann. Du wirst begeistert sein ... « »Was ... du meinst, Janice kommt auch im japanischen Outfit?«, falle ich ihr entrüstet ins Wort. Ich hätte wissen sollen, dass so was passiert. Seit Janice aus ihrem Tokio-Urlaub zurück ist, ist Mum im Japanfieber. Selbst an den Bridge-Abenden gibt es jetzt Sushi. Entscheidend ist aber, dass ich das Sagen habe, und ich habe gesagt, das Thema ist Russland. »Verzeihung, wenn ich unterbreche!« Eine fröhliche Frau vom Partyservice kommt mit einem zugedeckten Silbertablett vorbei. « Wohin soll ich die Asiatischen Platten stellen, Jane?« Bitte? »Entschuldigen Sie mal!« Ich rotiere zu ihr herum. „Ich habe russisches Essen bestellt! Kaviar, Räucherlachs, kleine russische Hefepfannkuchen, Wodka ... « »Plus Asiatische Platten, Sushi und Sashimi.« Die Frau wirkt beunruhigt. « Stimmt das? Und Sake?« „Stimmt schon«, sagt Mum eilig. »Stellen Sie sie in die Küche. Danke, Noreen.« Ich verschränke die Arme und funkle Mum an. „Wer hat Sushi bestellt?« « Möglicherweise habe ich die Speisekarte um das eine oder andere erweitert«, sagt Mum und scheint mir auszuweichen. »Nur um der Vielfalt willen.« „Aber alles soll doch mit Russland zu tun haben!« Am liebsten würde ich mit dem Fuß aufstampfen. Wozu braucht man ein Partythema, wenn alle es ignorieren und ihr eigenes Ding machen? Ohne dir etwas davon zu erzählen! »Wir können doch zwei Themen haben, Liebes!«, schlägt Mum lächelnd vor. »Nein, können wir nicht!« »Es könnte eine Kombination von beidem sein. Japanisch-Russisch.« Sie nickt triumphierend. »Fusion Food ist doch heutzutage bei allen Prominenten total in.« »Aber ... « Ich stocke mitten im Anlauf. Japanisch-Russisch. Fusion Food. Im Grunde ist das ganz cool. Ich wünschte fast, ich wäre selbst darauf gekommen. »Du könntest dir ein paar Stäbchen ins Haar stecken. Das wäre bestimmt hübsch!« »Na gut, okay«, sage ich schließlich zähneknirschend. »Das könnten wir vielleicht machen.« Ich nehme mein Handy hervor und simse Suze und Danny: Hey. Neues Thema für heute: Russisch-Japanische Fusion. Bis später. xxx Prompt kriege ich Antwort von Suze. Japanisch?? Wie geht das? Sx Stäbchen im Haar?, antworte ich. Mum hat schon ein paar schwarze Lackstäbchen hervorgezaubert und versucht, sie mir ins Haar zu stecken. »Wir brauchen eine Klemme«, sagt sie. »Und was ist mit Luke?«  »Der will bestimmt keine Stäbchen in den Haaren.« Ich schüttle den Kopf. »Egal, wie das Thema heißt.« »Nein, Dummchen!«, Mum schnalzt mit der Zunge. »Ich meine, kommt er gleich?«  Instinktiv sehen wir beide auf unsere Uhren. Mindestens fünfundsechzig Mal hat Luke versprochen, dass er nicht zu spät zur Taufe kommt. Ich meine, wird er ja auch nicht. Würde er nicht tun. Gott weiß, was diese Mega-Mammut-Krise bei der Arbeit zu bedeuten hat. Er will nicht darüber sprechen und auch nicht sagen, wer der Kunde ist. Aber irgendwas muss ziemlich schiefgelaufen sein, denn in den letzten zwei Tagen war er kaum zu Hause, und wenn er anrief, hat er kaum mehr als drei Sekunden was gesagt und schon wieder aufgelegt. Ich nehme mein Handy und schreibe ihm: Kommst du gleich?? Wo bist du??? Einen Moment später plingt die Antwort: Tue mein Bestes. L Tue mein Bestes? Was soll das denn heißen? Sitzt er im Auto oder nicht? Es könnte auch bedeuten, dass er noch im Büro ist. Plötzlich spüre ich so einen Schmerz unter meinen Rippen. Er wird doch wohl nicht zu spät zur Taufe seiner Tochter kommen? Das kann er nicht machen! »WO ist Luke?« Dad kommt an mir vorbei. »Ist er schon in Sicht?« « Noch nicht.«  »Er lässt sich ganz schön bitten, was?«, Dad zieht die Augenbrauen hoch. »Er wird schon kommen.« Ich bringe ein zuversichtliches Lächeln zustande. »Wir haben noch reichlich Zeit.« Aber er kommt und kommt nicht. Die Leute vom Partyservice haben fertig aufgebaut. Alles steht bereit. Um zwanzig vor zwölf stehe ich mit Minnie in der Haustür und starre auf die Einfahrt. Ich habe ihm alle fünf Minuten geschrieben, inzwischen aber aufgegeben. Ich fühle mich wie in einem Traum. Wo ist er? Wieso ist er nicht hier? Was macht er nur? »Schätzchen, wir müssen los.« Mum ist leise hinter mich getreten. »Inzwischen dürften die Gäste bei der Kirche sein.« »Aber ... « Ich drehe mich um und sehe ihr verknittertes Gesicht. Sie hat recht. Wir können nicht alle anderen im Stich lassen. »Okay, gehen wir.« Als wir das Haus verlassen, nehme ich mein Handy hervor und schreibe ihm noch mal. Mittlerweile sehe ich nicht mehr ganz scharf. Lieber Luke, wir fahren zur Kirche. Du verpasst die Taufe. Ich schnalle Minnie auf ihrem Kindersitz in Dads Wagen fest und zwänge mich neben sie. Ich merke, dass Mum und Dad sich echt zusammenreißen müssen, damit sie nicht über Luke herziehen. »Er hat bestimmt einen guten Grund«, sagt Dad schließlich, als er auf die Straße einbiegt. Alle schweigen, denn offenbar kann sich keiner von uns vorstellen, was dieser Grund sein könnte. »Was war es noch, Liebes?«, meint Mum. »Irgendeine Krise?« »Offenbar.« Stieren Blickes starre ich aus dem Fenster. »Irgendwas Großes. Aber vielleicht kommt es gar nicht dazu. Das ist alles, was ich weiß.« Plötzlich plingt mein Handy. Becky, tut mir so leid. Kann es jetzt nicht erklären. Bin noch hier. Nehme so bald wie möglich Hubschrauber. Wartet auf mich. L Leicht ungläubig starre ich mein Handy an. Hubschrauber? Er kommt per Hubschrauber? Urplötzlich bin ich besserer Dinge. Fast möchte ich ihm verzeihen, dass er abgetaucht ist und so geheimnisvoll tut. Eben will ich Mum und Dad (beiläufig) von dem Hubschrauber erzählen, als das Handy noch mal plingt. Vielleicht dauert's noch ein bisschen. Hier geht gerade alles in die Hose. Was alles?,schreibe ich zurück, brodelnd vor Frust. Welche Hose? Aber ich bekomme keine Antwort. Aaaah, er nervt! Immer muss er so geheimnisvoll tun. Wahrscheinlich geht es nur um irgend so einen langweiligen, alten Investment-Fond, der ein paar Zillionen Pfund weniger eingebracht hat als erwartet. Und wenn schon. Die Kirche ist gerammelt voll, als wir eintreten, und ich wandere herum, begrüße Mums Bridge-Freundinnen, von denen die Hälfte japanisch gekleidet ist. (Ich werde Mum später so was von die Leviten lesen.) Etwa fünfzig Mal höre ich mich sagen: „Eigentlich ist das Thema Japan und Russland« und „Luke ist im Hubschrauber unterwegs«, dann nimmt Mum Minnie bei der Hand, und ich höre, wie alle sie umgurren. „Bex!« Ich drehe mich um und sehe Suze, die einfach toll aussieht in ihrem roten, bestickten Mantel, mit den Pelzstiefeln und den hochgesteckten Haaren, die zwei hölzerne Kaffeeumrührer von Starbucks zieren. „Besser ging es nicht«, sagt sie und deutet ärgerlich darauf. »Du hast russisch gesagt! Wie kam plötzlich japanisch ins Spiel?« »Es ist alles Mums Schuld!<, will ich gerade sagen, als Reverend Parker erscheint, schneidig in seiner raschelnden, weißen Robe . »Oh, hi!« Ich strahle ihn an. »Wie geht es Ihnen?« Reverend Parker ist super. Er ist keiner von diesen ultraheiligen Pfarrern, bei denen man für alles ein schlechtes Gewissen bekommt. Er ist eher einer von denen, die nichts dagegen haben, wenn man sich vor dem Mittagessen einen kleinen Gin Tonic genehmigt. Seine Frau arbeitet in der City, und er ist immer braungebrannt und fährt einen Jaguar. „Es geht mir gut.« Warmherzig schüttelt er mir die Hand. »Schön, Sie zu sehen, Rebecca. Und wenn ich so sagen darf, Ihr japanisches Thema ist sehr charmant. Ich bin selbst ein großer Sushi-Fan.«  »Eigentlich ist es eine Kombination aus japanisch und russisch«, korrigiere ich ihn entschlossen. »Es gibt auch Blinis und Wodka.«  »Ah. Nun, denn.« Er strahlt. »Ich nehme an, Luke ist aufgehalten worden?« »Er wird bald eintreffen.« Hinter meinem Rücken kreuze ich die Finger. »Jeden Moment.«  »Gut. Denn ich bin ein wenig unter Zeitdruck. Und sicher haben Sie sich für einen zweiten Namen Ihrer Tochter entschieden? Würden Sie ihn mir vielleicht aufschreiben?« Oh, Gott. »Fast.« Ich verziehe das Gesicht. »Ich bin fast so weit. .. » »Rebecca, ich bitte Sie«, sagt Reverend Parker mit einem Anflug von Ungeduld. »Ich kann Ihre Tochter nicht taufen, wenn ich nicht weiß, wie sie heißen soll.« Ehrlich, ich fühle mich ein wenig unter Druck gesetzt. Ich dachte, Pfarrer sollten verständnisvoll sein. »Ich werde mich während der Gebete entscheiden«, erkläre ich. » Während ich bete, natürlich«, füge ich angesichts seiner erstarrten Miene hinzu. »Ich finde Inspiration in der Heiligen Schrift.« Ich nehme eine Bibel in die Hand, in der Hoffnung auf ein paar Fleißsternchen. »Sehr inspirierend. Vielleicht nehme ich »Eva« oder »Maria.« Das Problem mit Reverend Parker ist, dass er mich schon viel zu lange kennt. Er zieht nur skeptisch seine Augenbrauen hoch und sagt: »Und sind die Pateneltern da? Geeignete Personen, wie ich hoffe ... «  »Selbstverständlich! Hier ist die eine.« Ich schiebe Suze nach vorn, die ihm die Hand schüttelt und sofort anfängt, sich nach der Kirchendecke zu erkundigen und ob sie aus dem 19. Jahrhundert stammt oder wann. Suze ist einfach toll. Sie weiß immer, was sie zu Leuten sagen soll. Jetzt redet sie über Glasmalerei. Wo nimmt sie das nur immer her? Das muss sie im Mädchenpensionat gelernt haben, nach den Merengue-Stunden. Ich interessiere mich nicht besonders für Glasmalerei, wenn ich ehrlich sein soll, also blättere ich wahllos in der Bibel herum. Oh. Delilah. Na, wenn das kein cooler Name ist. »Himmel, Arsch und Zwirn, Becky!« Ein vertrauter, amerikanischer Akzent dringt an mein Ohr. Hinter mir höre ich einen kleinen Tumult unter Mums Freundinnen, und jemand ruft: »Wer in Gottes Namen ist das?«  Das kann nur eins bedeuten. »Danny!« Freudig wirble ich herum. »Du bist hier!« Es ist so lange her, seit ich Danny zuletzt gesehen habe. Er sieht dürrer aus als je zuvor und trägt eine weite Lederjacke im Kosakenstil mit engen, schwarzen Hosen und Army-Stiefeln. Außerdem hat er einen winzigen Hund an der Leine, den ich noch nie gesehen habe. Ich will ihn umarmen, doch er hebt eine Hand, als hätte er eine bedeutsame Ankündigung zu machen. « Dieses Thema?«, sagt er ungläubig. »Dieses Japanisch-Querstrich-Russische-Fusion-Ding? Einfach genial! Mein neuer Hund kann da nicht mithalten. Der ist nur ein scheißeinfacher Shih-Tzu!« »Gibt's ja gar nicht!« Plötzlich fällt mir ein, dass Reverend Parker neben mir steht. »Äh... Reverend Parker... das ist Danny Kovitz. Der andere Pate.«  »Ach du je.« Danny hält sich den Mund zu. «Ich bitte um Verzeihung, Reverend. Traumhafte Kirche», fügt er großherzig hinzu, mit weiter Geste. »Traumhaftes Dekor. Haben Sie sich bei den Farben beraten lassen?«  »Sie sind sehr freundlich.« Reverend Parker schenkt ihm ein steifes Lächeln. »Aber wenn Sie vielleicht so nett wären, Ihre Ausdrucksweise während des Gottesdienstes zu mäßigen ... «  »Danny ist ein berühmter Modedesigner«, werfe ich eilig ein. »Aber ich bitte dich!« Danny lacht bescheiden. »Nicht berühmt. Eher ... beliebt. Berüchtigt. Wo ist eigentlich Luke?«, fügt er leise hinzu. »Ich brauche ihn. Jarek ruft mich täglich an. Er droht mir damit vorbeizukommen.«Dannys Stimme wird vor Sorge immer lauter. »Du weißt, wie sehr ich Konfrontationen hasse.«  Jarek ist Dannys ehemaliger Geschäftsführer. Wir sind ihm letztes Jahr begegnet und haben bald gemerkt, dass er sich einen Riesenbatzen von Dannys Geld genommen und dafür im Grunde nichts weiter getan hat, als Dannys Klamotten zu tragen und ständig auf Spesen essen zu gehen. Luke war derjenige, der ihn vor die Tür gesetzt und Danny einen Vortrag darüber gehalten hat, dass man Leute nicht allein deswegen einstellt, weil man ihren Haarschnitt mag. »Ich dachte, du hättest alle deine Nummern geändert«, sage ich verdutzt. »Ich dachte, du wolltest keine Anrufe von Jarek mehr entgegennehmen.«  »Habe ich ja auch nicht«, sagt er bockig. »Zuerst. Aber er hatte so tolle Tickets für dieses Festival auf Bali, und da sind wir hingeflogen, und danach hatte er dann natürlich meine neue Handynummer, also ... « »Danny! Du bist mit ihm auf ein Festival gegangen? Nachdem du ihn gefeuert hattest?«  Danny sieht aus wie ein begossener Pudel. »Okay. Ich hab's vermasselt. Wo ist Luke?« Mit Leidensmiene sieht er sich in der Kirche um. »Könnte Luke nicht mit ihm reden?« »Ich habe keine Ahnung, wo Luke ist«, sage ich etwas schnippischer, als ich es meine. »Er ist im Hubschrauber auf dem Weg hierher.« »Im Hubschrauber ... « Danny zieht die Augenbrauen hoch. »Ein echter Action Man. Klettert er denn auch am Seil herunter?« »Nein.«  Ich rolle mit den Augen. »Sei nicht albern.«  Obwohl, wenn ich es recht bedenke, tut er es vielleicht doch. Ich meine, wo wollen die sonst einen Landeplatz für ihren Hubschrauber finden? Ich zücke mein Handy und schreibe Luke: Bist du schon im Hubschrauber? Wo wollt ihr landen? Auf dem Dach? »Oh, mein Gott. Hast du seine Lordschaft gesehen?« Danny wird von Tarquins Anblick abgelenkt. »Sei still, mein pochend Schritt!« »Danny!« Ich boxe ihm in den Arm und sehe zu Reverend Parker hinüber, der glücklicherweise ein paar Schritte weitergegangen ist. »Wir sind hier in einer Kirche!« Danny hat schon immer für Tarquin geschwärmt. Und fairerweise muss ich sagen, dass Tarquin heute ausnehmend gut aussieht. Er trägt ein weites, weißes Hemd mit schwarzen Hosen und einer schweren Militärjacke darüber. Sein dunkles Haar ist ganz vom Wind zerzaust, was eine echte Verbesserung seines normalen Unstils ist, und sein knochiges Frettchengesicht sieht im matten Licht der Kirche fast wie gemeißelt aus. »Da sehe ich meine neue Kollektion, direkt vor meinen Augen.« Danny zieht irgendein altes Notizbuch hervor und fängt an, Tarquin zu skizzieren. »Englischer Lord trifft russischen Prinzen.« »Er ist Schotte«, korrigiere ich. »Noch besser. Dann lege ich noch einen Kilt drauf.« »Danny!« Ich kichere leise, als ich einen Blick auf seine Skizze werfe. »SO was kannst du doch nicht in einer Kirche zeichnen!« Dieses Bild von Tarquin ist nicht gerade treffend. Im Grunde ist es obszön. Obwohl ich einmal von Suzes Mum gehört habe, dass alle männlichen Cleath-Stuarts sehr gut ausgestattet sein sollen. Vielleicht ist es doch treffender, als mir bewusst ist. »Und wo ist nun meine Patentochter?« Danny reißt die Seite heraus, faltet sie zusammen und beginnt die nächste Zeichnung. »Sie ist irgendwo bei Mum ...« Ich sehe mich nach Minnie um und entdecke sie plötzlich etwa zehn Meter entfernt bei einer Gruppe von Mums Freundinnen. Oh, Gott, was macht sie jetzt schon wieder? Sie hat sich mindestens fünf Handtaschen über die Arme gehängt, reißt fest an der Schultertasche einer älteren Dame und schreit: »Meeeeiiin!« »Wie niedlich!«, höre ich die Dame lachen. »Da hast du sie, Minnie, Liebchen.« Sie drapiert den Schultergurt um Minnies Hals, und Minnie taumelt los, hält entschlossen alle Taschen fest. »Hübsche Balenciaga«, meint Danny. »Das perfekte Accessoire für die eigene Taufe.« Ich nicke. »Deshalb habe ich sie ihr geliehen.« »Und du hast dich für die Miu Miu entschieden, von der ich sicher weiß, dass du die schon ein Jahr hast, wohingegen die Balenciaga neu ist ... « Danny stößt einen melodramatischen Seufzer aus. »Ich kann mir kein schöneres Beispiel für mütterliche Liebe denken.« « Schnauze!« Ich schubse ihn. »Mal weiter!« Während ich ihm beim Skizzieren zusehe, kommt mir plötzlich ein Gedanke. Wenn Dannys nächste Kollektion tatsächlich auf Tarkies Look basieren soll, könnten sie sich doch vielleicht irgendwie zusammentun. Vielleicht könnten sie ein PR-Termin mit Shetland Shortbread machen! Ich bin ein echtes Geschäftsgenie! Luke wird so was von beeindruckt sein. Gerade will ich Suze meine tolle Idee unterbreiten, als Reverend Parkers Stimme laut wird. »Wären vielleicht alle so nett, sich einen Platz zu suchen?« Er schiebt uns zu den Kirchenbänken. »Wir könnten dann anfangen.« Anfangen? Schon? Besorgt zupfe ich an seiner weißen Robe, als er vorüberraschelt. »Äh, Luke ist noch nicht da. Wenn wir es vielleicht noch etwas länger hinauszögern könnten ... « »Meine Liebe, wir haben es bereits zwanzig Minuten hinausgezögert.« Reverend Parkers Lächeln wirkt ein wenig frostig. »Wenn Ihr Mann es nicht schaffen kann ...« »Selbstverständlich kann er es schaffen!« Fast bin ich ein wenig verletzt. »Er ist unterwegs. Er wird schon kommen ...« »Meeeeeeiiiiiinnnn!« Ein hohes, freudiges Quieken geht durch die Kirche, und ich erstarre vor Schreck. Mein Kopf fahrt zum Altar herum, und mein Magen scheint mir in die Kniekehlen zu sacken. Minnie ist über das kleine Geländer geklettert, steht direkt vor dem Altar, stellt alle Handtaschen auf den Kopf und schüttet deren Inhalt aus. Hinter mir höre ich Mums Freundinnen japsen, als sie sehen, wie ihre Habe über den Boden kullert. »Minnie!«, schreie ich und wetze den Mittelgang hinauf. »LASS DAS!« »Meeiiin!« Fröhlich schüttelt sie eine Burberry-Schultertasche, und eine Kaskade von Münzen rieselt daraus hervor. Der ganze Altar liegt voller Taschen und Geld und Make-up-Döschen und Lippenstifte und Haarbürsten. »Das soll hier deine Taufe werden!«, fauche ich in Minnies Ohr. »Du solltest dich von deiner besten Seite zeigen! Sonst kriegst du nie im Leben ein Geschwisterchen!« Minnie zeigt keinerlei Reue, nicht einmal als Mums Freundinnen eintreffen, ihrer Empörung Ausdruck verleihen, missbilligend die Köpfe schütteln und ihre Taschen und das Geld einsammeln. Positiv daran ist, dass das Chaos wenigstens den Ablauf hinauszögert. Dennoch treibt Reverend Parker bald schon alle in die Kirchenbänke. »Wenn sich jetzt bitte alle setzen würden. Wir müssen wirklich anfangen ... « »Was ist mit Luke?«, flüstert Mum bedrückt, als sie Platz nimmt. »Er wird schon noch kommen«, sage ich und gebe mir Mühe, zuversichtlich zu klingen. Ich muss nur alles etwas in die Länge ziehen. Bestimmt gibt es reichlich Gebete und Ansprachen. Es wird schon klappen. Okay. Ich werde an den Erzbischof von Canterbury schreiben. Meiner Meinung nach sind Taufen viel, viel zu kurz. Wir sitzen alle in den vorderen Reihen der Kirche. Es gab ungefähr zwei Gebete und ein paar kurze Sprüche, dass man dem Bösen entsagen soll. Gemeinsam haben wir ein Lied gesungen, und Minnie hat die Zeit damit verbracht, zwei Liederbücher zu zerfetzen. (Anders war sie nicht ruhigzustellen. Ich werde der Kirche etwas Geld spenden.) Und dann plötzlich bittet uns Reverend Parker, uns um den Taufstein zu versammeln, und ich gerate in Panik. Wir dürfen noch nicht mit dem Wasserspritzen anfangen. Ich werde nicht zulassen, dass Luke den großen Moment verpasst. Weit und breit ist nichts von ihm zu sehen. Er antwortet auf keine meiner SMS. Ich hoffe nur, dass er sein Handy abgestellt hat, weil es die Hubschrauberinstrumente stören würde. Ich mache einen langen Hals und lausche, ob ich draußen etwas flattern höre. »Minnie?« Reverend Parker lächelt sie an. »Bist du bereit?«  »Moment!«, rufe ich verzweifelt, als die Leute schon aufstehen. »Vor der eigentlichen Taufe ... äh ... aus gegebenem Anlass möchte Minnies Patentante Susan Cleath-Stuart ein Gedicht aufsagen. Stimmt's, Suze?«  Suze fährt auf ihrem Platz herum und flüstert: »was?« »Bitte, Suze!«,  zische ich zurück. »Ich muss irgendwie Zeit schinden, sonst verpasst Luke noch alles!« »Ich kenne überhaupt keine Gedichte!«, murmelt sie, als sie aufsteht. »Lies einfach irgendwas aus dem Liederbuch vor! Irgendwas Langes!«, Suze verdreht die Augen, nimmt ein Liederbuch und geht nach vorn. Dort lächelt sie in die Runde. »Ich möchte gern etwas vorlesen ... » Sie schlägt das Buch auf und blättert herum. »Drei Könige Sind Wir.«  Sie räuspert sich. »Drei Könige aus dem Morgenland sind wir und bringen Gaben aus der Ferne dir ... «  Suze ist einfach die Größte. Sie liest im Schneckentempo und wiederholt jeden Refrain zweimal. »Sehr schön.« Reverend Parker unterdrückt ein Gähnen. »Und nun, wenn Sie sich bitte um den Taufstein ... « »Moment!« Ich rotiere auf meinem Platz herum. »Äh, Minnies Patenonkel Danny Kovitz wird nun ... « Flehentlich starre ich ihn an. »Auch er wird ... ein Gedicht aufsagen?« Bitte, sage ich lautlos, und Danny zwinkert mir zu. »Zu Ehren der Taufe meiner Patentochter werde ich nun The Real Slim Shady von Eminem aufführen«, sagt er verwegen. Oha. Ich hoffe, Reverend Parker hört nicht allzu genau hin. Danny ist nicht der beste Rapper auf der Welt, doch als er fertig ist, klatschen und johlen alle, sogar Mums Bridge-Freundinnen. Also bringt Danny als Zugabe noch „Stan“, wobei Suze den Part von Dido übernimmt. Dann beteiligen sich Tom und Jess mit einem südamerikanischen Kindergedicht, was wirklich bewegend ist. Und schließlich betritt Dad die Bühne und singt „Que Sera Sera“, wobei im Refrain alle mit einsteigen und Martin uns mit einem von Janices Essstäbchen dirigiert. Mittlerweile sieht Reverend Parker ernstlich genervt aus. »Dank Ihnen allen für die interessanten Beiträge«, sagt er verspannt. »Wenn Sie sich nun um den Taufstein ... « »Moment!«, falle ich ihm ins Wort. »Als Minnies Mutter möchte ich noch ein paar Worte sagen.« »Rebecca!«, fährt Reverend Parker mich an. »Wir müssen jetzt wirklich fortfahren!« »Nur ganz kurz! « Hastig laufe ich nach vorn und stolpere in meiner Eile fast. Ich werde einfach reden, bis Luke kommt. Es ist die einzige Möglichkeit. »Willkommen, Freunde und Familie.« Ich lächle allen zu und meide Reverend Parkers steinernen Blick. »Welch ein besonderer Tag heute ist! Ein besonderer, besonderer Tag! Minnie wird getauft.« Ich lege eine Pause ein, um diesen Gedanken wirken zu lassen, und werfe einen kurzen Blick auf mein Handy. Nichts. « Doch was meinen wir damit?« Ich hebe einen Finger, genau wie Reverend Parker es in seinen Predigten tut. »Oder sind wir alle nur so hier?« Interessierte Unruhe macht sich im Publikum breit, und einige stoßen sich an und flüstern. Ich fühle mich direkt geschmeichelt. Ich hätte nicht gedacht, dass meine Rede ein solches Aufsehen erregen würde. »Denn allzu leicht geht man durchs Leben, ohne sich nach den Blumen umzusehen.« Ich nicke bedeutungsvoll, und es folgt noch mehr Flüstern und Stoßen. Diese Reaktion ist doch erstaunlich! Vielleicht sollte ich Predigerin werden! Offensichtlich habe ich ein natürliches Talent dafür und einen ganzen Haufen tiefschürfender Ideen. »Das gibt einem doch zu denken, oder?«, fahre ich fort. »Doch was meinen wir mit denken?« Mittlerweile flüstern alle. Die Leute reichen iPhones durch die Bänke und zeigen auf irgendwas. Was geht da vor sich? »Ich meine, warum sind wir alle hier?« Meine Stimme geht im Stimmengewirr unter. »Was ist los?«, rufe ich. »Was guckt ihr euch da alle an?« Selbst Mum und Dad starren auf Mums BlackBerry. »Becky, das solltest du dir ansehen«, sagt Dad mit merkwürdiger Stimme. Er steht auf und reicht mir den BlackBerry. Ich sehe einen Nachrichtensprecher auf der BBC-Website. » ... das Neueste zu der Eilmeldung, dass die Bank of London einer Notfinanzierung durch die Bank of England zugestimmt hat. Die Entscheidung fiel nach tagelangen Geheimverhandlungen, während derer die Entscheidungsträger um eine Rettung der Lage rangen ...« Der Nachrichtensprecher redet immer weiter, aber ich höre gar nicht, was er sagt. Ich starre nur das Bild an. Es zeigt mehrere Männer in Anzügen, die mit grimmiger Miene aus der Bank of England kommen. Einer davon ist Luke. Luke war auch dort? Oh, Gott. Ist er jetzt noch in der Bank of England? Dann zeigt der Bildschirm eine Gruppe von Fachleuten, die ernst um einen runden Tisch sitzen, mit dieser bebrillten Fernsehmoderatorin, die ihre Gäste ständig unterbricht. »Also ist die Bank of London praktisch pleite, habe ich recht?«, sagt sie energisch. »Pleite ist ein starkes Wort. ..«, setzt einer von den Fachleuten an, aber ich kann nicht hören, was er sonst noch sagt, weil in der Kirche plötzlich der Teufel los ist. »Die sind pleite!« »Die Bank of London ist pleite!« »Aber da haben wir unser ganzes Geld angelegt!« Mum wird hysterisch. »Graham, tu was! Heb es ab! Hol das Geld!« »Unsere Urlaubskasse!«, stöhnt Janice. »Meine Altersversorgung!« Ein alter Herr rappelt sich mühsam auf. »Immer mit der Ruhe«, ruft Jess über das Stimmengewirr hinweg. »Ich bin mir sicher, dass niemand etwas verliert. Banken sind doch abgesichert ... « Niemand hört jedoch auf sie. »Mein Investment-Fond!« Reverend Parker reißt sich seinen Talar vom Leib und steuert auf die Kirchentür zu. »Aber Sie können doch nicht einfach verschwinden!«, rufe ich ihm ungläubig nach. »Sie haben Minnie noch gar nicht getauft!« Doch er ignoriert mich einfach, und zu meinem Erstaunen ist Mum ihm dicht auf den Fersen. »Mum! Komm zurück!« Ich schnappe mir Minnies Hand, bevor sie ihr hinterherrennt. Alle gehen. Nur Augenblicke später ist die Kirche leer, bis auf Minnie, Suze, Jess, Tom und Danny. Wir sehen uns an, und in stillem Einvernehmen laufen auch wir zum Ausgang der Kirche. Wir stürzen aus der großen Holztür hinaus und bleiben draußen unter dem Vorbau stehen. »Ach, du liebe Güte!«, haucht Danny. Auf der Hauptstraße drängen sich die Menschen. Zwei-, dreihundert müssen es wohl sein. Alle rennen in dieselbe Richtung zu der kleinen Zweigstelle der Bank of London, vor der sich bereits eine lange Schlange gebildet hat. Ich sehe Mum, die sich einen Platz erkämpft, und Reverend Parker, der sich unverfroren vor eine alte Dame drängelt, während ein junger Bankangestellter verzweifelt versucht, die Ordnung aufrechtzuerhalten. Während ich das alles staunend betrachte, erregt etwas anderes meine Aufmerksamkeit. Ein Stück abseits der Bank of London, direkt gegenüber der Kirche, fällt mir jemand in der Menge auf. Dunkle, helmartige Frisur, blasse Haut, Jackie-O-Sonnenbrille, Hahnentrittkostüm ... Ungläubig sehe ich genauer hin. Ist das ... Das kann nicht sein ... Elinor? Doch im selben Moment ist sie -oder wer es auch gewesen sein mag -bereits wieder in der Menge verschwunden. Ich reibe mir die Augen und sehe noch mal hin. Jetzt steht an der Stelle ein Polizist, der aus heiterem Himmel aufgetaucht ist und den Leuten sagt, dass sie von der Straße runtergehen sollen. Seltsam. Ich habe es mir wohl eingebildet. »Guck dir den Bullen an!«, sagt Danny fröhlich. »Der flippt gleich aus. Es dauert nicht mehr lange, dann geht er mit seinem Elektroschocker auf die Leute los.« »Oh, mein Gott!« Stöhnend deutet Suze nach oben. Es ist unglaublich. Inzwischen klettern welche auf das Dach der Bank. Sprachlos sehen Suze und ich uns an. Es ist, als wären Außerirdische in Oxshott gelandet oder als wäre Krieg oder irgendwas. So was habe ich noch nie gesehen, in meinem ganzen Leben nicht. 5 Na ja, wenigstens ergibt jetzt alles einen Sinn. Wenigstens kann ich Luke verzeihen. Es ist das erste Mal, dass er bei der Arbeit so etwas wie eine »schwere Krise« durchmacht, und das ist eine waschechte Krise. Keiner redet mehr von irgendwas anderem. Es läuft auf allen Sendern. Ich habe mit Luke telefoniert, und er kommt nach Hause, sobald er kann. Aber er konnte unmöglich früher weg. Er war bei der Bank of London und hat mit allen möglichen hohen Tieren gesprochen. Und jetzt versucht er, »die Lage zu retten« und »den Schaden zu begrenzen«. Jede einzelne Filiale der Bank of London wurde belagert. Offenbar will der Premierminister persönlich eine Erklärung abgeben und alle Betroffenen bitten, die Ruhe zu bewahren. (Was, wenn man mich fragt, ein RiesenfehIer ist. Mum ist jetzt schon davon überzeugt, dass die ganze Sache eine Regierungsverschwörung ist.) »Tee?« Dad kommt ins kleine Zimmer, in dem Danny, Suze, Tarquin, Jess, Tom und ich zusammensitzen, nach wie vor benommen. Im Fernsehen laufen Nachrichten, und die spielen den immer gleichen Clip mit dem ernsten Luke und seinen ebenso ernsten Bankklienten. »So.« Dad stellt das Tablett ab. »Was für ein Theater! Wollt ihr die Taufe neu ansetzen?« »Das müssen wir wohl.« Ich nicke und sehe mich um. »Wann hättet ihr denn Zeit?« »Der restliche Januar ist nicht so toll.« Danny holt seinen BlackBerry hervor und wirft einen Blick darauf. »Aber nächstes Jahr im Januar hab ich noch Termine frei«, fügt er beschwingt hinzu. »Wir haben so viele Jagdgesellschaften ... « Suze fischt nach ihrem kleinen Smythson-Kalender. »Und vergiss nicht unsere Reise in den Lake District«, stimmt Dad mit ein. Mein Gott, alle sind dermaßen verplant. Schließlich lasse ich sie alle aufschreiben, wann sie in den kommenden Monaten zur Verfügung stehen könnten. Jess malt ein Raster auf, streicht die entsprechenden Tage und rechnet alles aus. »Es bleiben nur drei Möglichkeiten«, sagt sie schließlich. »18. Februar, 11. März oder 7. April, was ein Freitag ist  »7. April?« Ich blicke auf. »Das ist Lukes Geburtstag.« »Wusste ich gar nicht«, sagt Suze neugierig. »Ich wusste nicht, dass Luke überhaupt Geburtstag hat.« »Er steht nicht auf Geburtstage«, erkläre ich. »Jedes Mal, wenn ich eine Feier für ihn organisiere, sagt er ab, weil irgendwas bei der Arbeit los ist.« Das ist etwas, das ich bei Luke am wenigsten verstehe. Er ist überhaupt nicht gespannt auf seine Geschenke. Er lässt keine kleinen Hinweise darauf fallen, worüber er sich freuen würde. Er malt keinen Countdown auf den Küchenkalender. Einmal hatte er ernstlich vergessen, dass sein Geburtstag war, als ich mit dem Frühstückstablett hereingeklappert kam. Wie kann man seinen eigenen Geburtstag vergessen? Ich sehe wieder zum Fernseher. Da ist er, kommt schon wieder aus der Bank of England, die Stirn noch tiefer gerunzelt als sonst. Ich spüre die Zuneigung, die ich für ihn empfinde. Er hatte so ein beschissenes Jahr. Er hat eine kleine Belohnung verdient. Ich sollte eine Party für ihn geben. Selbst wenn er es gar nicht will. Selbst wenn er versucht, sie abzusagen. Und auf einmal kommt mir eine Idee. »Hey! Wie wär's, wenn wir für Luke eine Überraschungsparty schmeißen?« Begeistert blicke ich in die Runde. »Er denkt, wir feiern nur Minnies Taufe, den zweiten Versuch ... aber dann ist es gleichzeitig seine Geburtstagsfeier!« Plötzlich sehe ich Luke vor mir, wie er in ein dunkles Zimmer kommt und alle rufen: »Happy Birthday!« Und Luke steht mit offenem Mund da und ist vor Überraschung total sprachlos ... Oh, Gott. Ich muss es tun. Ich muss einfach. »Gute Idee, Bex!« Suzes Augen leuchten auf. »Super Idee.« Danny blickt von seiner SMS auf. »Welches Party-Thema?« »Keine Ahnung. Aber irgendwas richtig Cooles. Irgendwas, das Luke gefallen würde.« Ich habe noch nie eine Überraschungsparty organisiert, doch so schwer kann es nicht sein, oder? Ich meine, es ist eine ganz normale Party, nur dass sie geheim ist. Kein Problem. »Becky, bist du sicher, dass es ein guter Zeitpunkt zum Feiern ist?«, sagt Jess stirnrunzelnd. „Ich meine, was ist, wenn alles stimmt, was die Leute sagen?« Sie deutet auf den Fernseher, wo immer noch die Sache mit der Bank of London behandelt wird. »Was ist, wenn wir am Beginn einer Finanzkatastrophe stehen?«  Auf Jess ist Verlass. Selbstredend muss sie von einer „Finanzkatastrophe“ anfangen, wo wir gerade so nett über eine Party plaudern. »Na, dann könnten wir doch wohl alle eine kleine Aufheiterung brauchen, oder?«, sage ich bockig. „Umso besser.« Jess zuckt mit keiner Wimper. »Ich will nur sagen, dass man besonnen handeln sollte, vor allem in Zeiten wie diesen. Hast du überhaupt das Geld, um eine Party zu schmeißen?«  Ehrlich. Wieso spielt sie hier die große Schwester? »Warum denn nicht?« Unbekümmert zucke ich mit den Achseln. »Vielleicht habe ich genau für so einen Anlass ja ein extra Sparbuch angelegt.« Alles ist still im Raum, bis auf ein leises Schnauben von Danny. Tom grinst spöttisch, und ich werfe ihm einen bösen Blick zu. Habe ich jemals über eines seiner Projekte gespottet? Habe ich gespottet, als er sein albernes, zweistöckiges Sommerhaus in Janices Garten gebaut hat? (Na ja, vielleicht habe ich das. Aber darum geht es hier nicht. Sommerhäuser und Partys sind zwei vollkommen verschiedene Sachen.) Am schlimmsten ist, dass selbst Suze einen etwas gequälten Eindruck macht, als müsste sie sich das Lachen verkneifen, könnte es aber nicht verhindern. Sie sieht, dass ich es merke, und läuft rot an. »Es muss ja keine teure Party werden, oder?«, sagt sie eilig. »Du könntest eine bescheidene Party geben, Bex. Eine sparsame Party!« »Das stimmt.« Jess nickt. »Tom kann Pfirsichwein machen. Der ist gar nicht schlecht. Und ich bin gern bereit zu kochen.« Selbst gemachter Pfirsichwein? »Und du könntest Musik vom iPod nehmen ...«, schlägt Tom vor. »Den iPod übernehme ich«, wirft Danny ein. »Wir könnten Papierschlangen basteln ... « Entsetzt starre ich sie alle an. Eine unbedeutende, kleine Bank geht pleite, und plötzlich müssen wir alle so tun, als wäre Krieg und wir müssten Schuhsohlen braten und unsere Beine bemalen, weil wir uns keine Nylonstrümpfe leisten können? »Ich will Luke keine billige Party mit selbst gemachtem Pfirsichwein und Musik aus dem iPod schmeißen!«, rufe ich. »Ich will eine grandiose Party! Ich will ein Festzelt und eine Band und einen Partyservice und überall hübsche Lampions ... und ein Unterhaltungsprogramm! Jongleure und Feuerschlucker und so!« »Aber man kann doch auch eine nette Party ohne Feuerschlucker feiern ...«, setzt Suze an. »Ich will nicht irgendwas >Nettes«<, sage ich abfällig. »Wenn ich für Luke eine Überraschungsparty organisiere, dann will ich, dass es ihn wegfegt. Ich will, dass er völlig von den Socken ist. Dass er reinkommt und absolut sprachlos ist, und zwar ... eine volle Minute. Mindestens!« Meine Freunde tauschen Blicke. »Was?« Ich sehe von einem Gesicht zum nächsten. »Was denn?« »Komm schon, Becky. Es würde ein Vermögen kosten«, sagt Jess unverblümt. »Woher willst du das Geld nehmen?« »Ich ... weiß nicht«, antworte ich trotzig. »Vielleicht extra hart arbeiten.« »Das wirst du vor Luke niemals verheimlichen können«, stimmt Tom mit ein. »Nie im Leben.«  Ich spüre, wie mich eine Woge der Entrüstung ergreift. Alle enttäuschen mich, sogar Suze. Wieso müssen sie immer alles mit kaltem Wasser abschrecken? »Doch, werde ich!«, erwidere ich wütend. »Ihr werdet es schon sehen. Ich organisiere eine märchenhafte Party, und ich werde sie vor Luke geheim halten ... « » was willst du vor Luke geheim halten?«  Seine tiefe Stimme hallt aus der Diele, und ich hüpfe fast bis an die Decke. Verdammt, wie konnte das passieren? Ich plane diese Party erst seit zwei Minuten, und schon hätte ich beinahe alles verraten. Mir bleibt noch Zeit, Suze einen gequälten Blick zuzuwerfen, bevor Luke hereinkommt. Er hat Minnie im Arm und sieht überraschend aufgeräumt aus. »Wie kommt es, dass du hier bist?«, frage ich, als er mich küsst. »Ist alles vorbei?« »Ich hole mir nur frische Sachen, leider«, sagt er geknickt. »Das Ganze wird noch eine Weile dauern.« »Äh, Luke, diese Bemerkung, als du mich eben hast sagen hören, dass ich >etwas vor Luke geheim halten< möchte?« Ich räuspere mich. »Wahrscheinlich fragst du dich, was ich damit gemeint haben könnte.« »Das ist mir wohl in den Sinn gekommen.« Fragend zieht Luke die Augenbrauen hoch. »Nun, es ist nur ... äh ... ich wollte dir nur nicht erzählen, was vorhin da draußen los war. Bei der Bank of London. Es war das reine Chaos. Ich dachte, es würde dich vielleicht belasten. Deshalb habe ich allen gesagt, sie sollen es für sich behalten. Stimmt's?« Funkelnd blicke ich in die Runde, und Suze sagt pflichtschuldig: »Absolut!« »Keine Sorge«, sagt Luke trocken. »Ich bin Schlimmeres gewöhnt.« Er streckt die Hand aus und verwuschelt Minnies Haare. »Ich schätze, sie hat ihren großen Augenblick wohl verpasst, was?« »Der Pfarrer ist rüber zur Bank gerannt, wie alle anderen auch! Aber was soll's!«, füge ich sorgsam hinzu. »Wir sind schon dabei, die Taufe neu zu planen. Zu einem späteren Zeitpunkt.« Das genaue Datum behalte ich vorerst für mich. »Gut.« Luke nickt ohne großes Interesse. »Ist noch was zu essen da?«  »Reichlich.« Ich nicke. Gerade will ich aufstehen und ihm ein paar Blinis holen, als Mum ins kleine Zimmer kommt, leicht errötet von all dem Sake, den sie getrunken hat. »Hört mal, meine Lieben«, sagt sie zu Luke und mir. »Reverend Parker ist hier. Er möchte euch sprechen. Soll ich ihn reinlassen?« »Ach«  so sage ich überrascht. »Natürlich!« Ich habe Reverend Parker noch nie verlegen erlebt. Als er das Zimmer betritt, ist von seinem Lächeln nichts geblieben, und er kann uns beiden kaum in die Augen sehen. »Rebecca und Luke, ich entschuldige mich in aller Form«, sagt er. »Noch nie habe ich den Gottesdienst einfach so abgebrochen. Ich weiß gar nicht, was über mich gekommen ist.« »Keine Sorge«, sage ich großmütig.« Wir haben es überlebt.« »Ich vermute, Sie möchten Ihre Tochter nach wie vor taufen lassen, oder?« »Selbstverständlich möchten wir das!«, sage ich eifrig. »Wir haben gerade davon gesprochen. Natürlich wollen wir das nachholen.« »Da bin ich aber froh.« Er sieht sich um. »Nun, da Sie alle anwesend sind ... « Bevor ich merke, was hier vor sich geht, holt er ein Fläschchen hervor, schraubt es auf und sprenkelt Minnie irgendwelches Wasser auf die Stirn. »Minnie, ich taufe dich auf den Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.« »Was?«, bringe ich mühsam hervor, aber er hört mich nicht. Jetzt malt er ihr das Zeichen des Kreuzes mit Öl auf die Stirn. »Willkommen in der Kirche, mein Kind. Der Herr segne und behüte dich.« Er tastet in seiner Tasche herum und holt eine Kerze hervor, die er mir gibt. »Herzlichen Glückwunsch, Rebecca.« Dann wendet er sich Mum zu. »Sagten Sie, es gäbe Sushi?« Ich kann vor Schreck nichts sagen. Minnie? Nur >MinnieCareless Whisper< ab, wenn es im Radio läuft. »Danke, Dad. Das habe ich gehört.« Wütend starre ich ihn an. »Und das wird es nicht.« Der Zwischenfall mit George Michael war derart peinlich, dass ich mich kaum dazu bewegen kann, mir die Details in Erinnerung zu rufen. Also werde ich es auch nicht tun. Nur dass ich dreizehn war und meine ganze Klasse dachte, George Michael würde bei meiner Geburtstagsparty auftreten. Weil ich es angekündigt hatte. Und alle hatten ihre Autogrammhefte und Kameras dabei ... Mir wird ganz mulmig, wenn ich nur daran denke. Dreizehnjährige Mädchen können echt gemein sein. Und ich hatte es mir nicht ausgedacht, wie alle behauptet haben. Hatte ich nicht. Ich hatte beim Fanclub angerufen, und der Mann hatte gesagt, George wäre bestimmt gern dabei, und das habe ich irgendwie ... missverstanden. »Und erinnerst du dich noch an die Feen, Graham?« Plötzlich schlägt sich Mum mit der flachen Hand an die Stirn. »Die ganzen schluchzenden, hysterischen kleinen Mädchen?«  Warum müssen Eltern einen dauernd an alles Mögliche erinnern? Okay, vielleicht hätte ich meinen Schulfreundinnen nicht erzählen sollen, dass bei uns echte Feen im Garten wohnten und alle Geburtstagsgäste einen Wunsch frei hätten. Und dann hätte ich wohl auch nicht sagen sollen, dass die Feen es sich anders überlegt hätten, weil meine Geschenke alle doof waren. Aber ich war fünf. So was macht man, wenn man fünf ist. Das heißt ja nicht, dass man es mit achtundzwanzig auch noch macht. »Wollt ihr vielleicht noch irgendwas aus meiner Vergangenheit ausgraben?« Ich kann nicht verhindern, dass ich verletzt klinge. »Schätzchen.« Mum legt mir eine Hand auf die Schulter. »Ich sage ja nur ... Geburtstagspartys waren nie deine Stärke. Oder was meinst du?«  »Tja, diese wird aber superklasse«, erwidere ich, doch Mum macht nach wie vor einen eher betretenen Eindruck. »Mach einfach nur nicht zu viele Versprechungen, Liebes.« »Wieso lädst du Luke nicht lieber zum Essen ein?«, schlägt Dad vor. »Im King's Arms gibt es ein wunderbares Menü.« Okay, ich gebe offiziell meine Freunde und Familie auf. Das King's Arms? »Ich will kein blödes, altes Menü in einem Pub! Ich will Luke eine Party schmeißen! Und das werde ich auch tun, auch wenn ihr glaubt, dass es ein Desaster wird ... «  »Tun wir nicht!«, sagt Mum eilig und wirft Dad einen Blick zu. »Das wollten wir damit nicht sagen, und bestimmt können wir dir alle helfen ... «  »Das müsst ihr nicht«, sage ich hochmütig. »Ich habe alle Hilfe, die ich brauche, vielen Dank.« Und damit schwebe ich aus der Küche, bevor einer von beiden etwas antworten kann. Was echt unreif und teenymäßig von mir ist. Aber ehrlich. Eltern sind so was von ... nervig. Und außerdem sind sie schief gewickelt, denn eine Überraschungsparty zu organisieren ist ein Kinderspiel. Wieso mache ich das eigentlich nicht öfter? Noch am selben Abend hatte ich alles geklärt. Am 7. April steht ein Festzelt in Janices Garten. Janice und Martin sind mit an Bord und haben mir absolute Verschwiegenheit geschworen. (Genau wie der Klempner, der gerade ihren Wasserhahn reparierte und das ganze Gespräch belauscht hat. Hoch und heilig hat er versprochen, kein Sterbenswörtchen zu sagen.) Leider ist Mum inzwischen noch hysterischer als vorher. Sie hat im Radio irgend so eine Gruselgeschichte gehört -von wegen dass Großbritanniens Staatsschulden ein schwarzes Loch sind und das Rentensystem zusammenbricht und Geld demnächst praktisch wertlos ist. Oder so ähnlich. Also gibt es eine Familienkonferenz. Minnie ist im Bett, und wir haben eine Flasche Wein aufgemacht und sitzen um den Küchentisch. »Tja ...«, sagt Dad. »Offenbar ist die ganze Welt ... verrückt geworden. « »Ich war eben im Keller.« Mum klingt etwas verschreckt. »Wir haben noch die Mineralwasserflaschen, die wir für den Millennium Bug besorgt hatten. Und acht Kisten Konserven und die ganzen Kerzen. Ich denke, drei Monate müssten wir auskommen, aber was wir mit der kleinen Minnie anfangen ... « »Jane, wir werden doch nicht belagert«, sagt Dad leicht gereizt. »Noch hat Waitrose geöffnet.« »Man kann nie wissen! Wir müssen bereit sein! In der Daily World stand ... « »Aber es könnte sein, dass uns finanzielle Engpässe bevorstehen«, unterbricht Dad mit ernster Miene. »Und zwar allen. Daher schlage ich vor, dass wir uns auch alle überlegen, wie wir K.T. können. « Düsteres Schweigen herrscht am Tisch. Keiner von uns ist scharf auf K.T. Es ist Dads Abkürzung für Kürzer Treten, und das macht eigentlich nie Spaß. »Ich weiß, wo das ganze Geld bleibt«, sagt Mum unnachgiebig. »Bei diesen gerösteten Luxusnüssen von Marks & Spencer, die du unbedingt kaufen musst, Graham. Weißt du, wie viel die kosten? Und dann sitzt du vor dem Fernseher und isst sie händeweise ... « »Unsinn«, sagt Dad hitzig. »Weißt du, wofür wir unser Geld ausgeben? Für Marmelade. Wie viele Gläser Marmelade braucht man? Wer braucht.. .« Er greift in einen Küchenschrank und nimmt wahllos ein Glas heraus. »Stachelbeere mit Holunder?« Die habe ich gekauft, auf einem Kunstgewerbemarkt. »Was erwartest du von mir?«, ruft Mum beleidigt. »Soll ich mich von einem billigen Glas Glibber aus Speisefarbe und Rüben ernähren?« »Vielleicht! Vielleicht sollten wir bei einem von diesen Lebensmittel-Discountern einkaufen. Wir sind Rentner, Jane. Wir können uns keine großen Sprünge mehr leisten.« »Es liegt am Kaffee«, sagt Mum. »Diese komischen Tütchen von Becky. Nespresso.« »Ja!« Plötzlich kommt Dad in Fahrt. »Da gebe ich dir völlig recht. Die reine Geldverschwendung. Was kostet so ein Tütchen?« Beide drehen sich um und starren mich vorwurfsvoll an. »Ich brauche guten Kaffee!«, sage ich entsetzt. »Das ist mein einziger Luxus!« Ich kann nicht bei meinen Eltern wohnen und schlechten Kaffee trinken. Das wäre unmenschlich. »Wenn ihr mich fragt, liegt es am Fernseher«, keife ich zurück. »Ihr habt ihn immer viel zu laut. Das ist Energieverschwendung.« »Mach dich nicht lächerlich«, gibt Mum schnippisch zurück. »Also, am Kaffee liegt es jedenfalls nicht!« »Ich finde, wir sollten alle Marmeladen streichen, ab morgen«, sagt Dad. »Alle Marmeladen, alle Brotaufstriche ... « »Nun, wenn wir das tun, kann ich gleich alle Lebensmittel streichen, oder?«, erwidert Mum schrill. »Ich streiche alle Lebensmittel, Graham, denn die sind offenbar auch die reine Geldverschwendung ... » »Wie dem auch sein, Nespresso ist jedenfalls tausendmal billiger, als in ein Caffé: zu gehen«, versuche ich zu erklären.« Und ihr bezahlt nicht mal dafür. Ich kaufe sie mir selbst im Internet! Also ...« Wir steigern uns alle dermaßen hinein, dass es eine Weile dauert, bis ich merke, dass Luke in der Tür steht und uns zusieht. Seine Mundwinkel zucken spöttisch. »Oh, hi!« Ich springe auf, erleichtert, dass ich fliehen kann. »Wie geht es dir? Alles okay«  »Prima.« Er nickt. »Ich bin nur kurz vorbeigekommen, um Minnie gute Nacht zu sagen, aber sie schlief schon.« Er lächelt etwas betrübt, und leises Mitgefühl kommt in mir auf. In letzter Zeit kriegt er Minnie kaum noch zu sehen. »Sie hat schon wieder ihr ganzes Spielzeug mit ins Bett genommen«, erzähle ich ihm. »Sogar das Puppenhaus.« »Schon wieder?«, lacht er. Es ist Minnies neuester Trick, noch mal aus dem Bett zu steigen, nachdem ich ihr schon gute Nacht gesagt habe, und ihr ganzes Spielzeug einzusammeln und auf dem Bett zu verteilen, sodass ihr kaum noch Platz zum Liegen bleibt. Ich war vorhin schon oben, und da schlief sie tief und fest und hielt ihr hölzernes Pony im Arm, mit mindestens zwanzig Plüschtieren und ihrem Puppenhaus oben auf der Decke. Fast hätte sie selbst nicht mehr ins Bett gepasst. »Luke!« Endlich bemerkt auch Mum ihn und stockt mitten in einer Tirade darüber, dass Dad sowieso nie Toast zum Frühstück isst, was versteht er also schon davon? »Wir besprechen gerade die Lage.« »Die Lage?« Mit hochgezogenen Augenbrauen sieht er mich an. »Wir überlegen gerade, wie man Geld sparen könnte«, erkläre ich, in der Hoffnung, dass Luke vielleicht sagt: »Was für eine lächerliche Idee! Alles ist gut. Mach den Champagner auf!« Aber er nickt nur nachdenklich. »Das ist keine schlechte Idee, so wie es aussieht.« »Aber wie sieht es denn aus?«, ruft Mum schrill. »Luke, du weißt doch Bescheid. Hat die Daily World recht? Denn ich hab jemanden im Radio gehört, der gesagt hat, es gäbe einen Dominoeffekt. Und wir sind die Dominosteine, die alle nacheinander umfallen!« »Nein, sind wir nicht.« Dad verdreht die Augen. »Die Banken sind die Dominosteine.« »Und was sind wir dann?« Mum funkelt ihn an. »Die Würfel?« »Jane«, unterbricht Luke taktvoll. »Du solltest nicht alles glauben, was du in den Medien hörst. Es wird ganz schön übertrieben. InWahrheit ist es noch viel zu früh für eine Einschätzung. Sicher ist nur, dass die Leute verunsichert sind und sich Panik breitmacht. Nicht nur bei den Banken, in allen Bereichen. Ob zu Recht ... das ist noch die Frage.« Ich sehe Mum an, dass sie sich damit nicht zufriedengibt. »Aber was sagen denn die Experten?«, will sie wissen. »Luke ist ein Experte!«, werfe ich beleidigt ein. »Wirtschaftsgurus sind leider keine Wahrsager.« Luke zuckt mit den Achseln. »Und sie sind nicht immer einer Meinung. Ich würde sagen, es schadet nie, besonnen zu sein.«  »Absolut.« Dad nickt zustimmend. »Das habe ich auch gerade gesagt. Wir geben erheblich zu viel Geld aus, Jane, mit oder ohne Krise. Vier Pfund kostet das hier!« Er schwenkt das Glas Stachelbeermarmelade. »Vier Pfund!« »Na schön.« Mum wirft Dad einen bösen Blick zu. »Von jetzt an kaufe ich nur noch im Pound Shop. Bist du dann glücklich, Graham?« »Ich auch!«, sage ich hilfsbereit. Ich war noch nie in einem Pound Shop, aber die müssen gut sein. Schließlich kostet alles nur ein Pfund. »Meine Liebste, so arm sind wir glücklicherweise noch nicht dran.« Luke küsst mich auf die Stirn. »Wenn du mich fragst, könnten wir am leichtesten Geld sparen, wenn du ein paar von deinen Sachen mehr als einmal tragen würdest.« Nicht das schon wieder. »Ich trage sie mehr als einmal«, sage ich barsch. »Immer diese Übertreibung ... « »Wie oft hast du die Strickjacke mit dem roten Knopf getragen?«, fragt er mich unschuldig. »Das ist. .. ich bin ... « Ich stocke, bin leicht aufgeschmissen. Verdammt. Wieso habe ich sie nicht getragen? Ich weiß nicht mal, wo sie ist. Habe ich sie Weihnachten irgendwo liegen lassen? »Hundertmal, stimmt's?« Luke sieht aus, als würde er es genießen. »Hast du das nicht gesagt?« »Ich habe vor, sie hundertmal zu tragen«, sage ich steinern. »Ich habe nicht gesagt, wann.« »Wie viele Sachen hast du eigentlich? Irgendwo verstaut in deinen Schränken?«  »Ich ... äh ... «  »Hast du überhaupt eine Ahnung?« »Zu viele«, schnaubt Dad. »Wollen wir mal die Stiefel zählen, mit denen meine Garage vollgestopft ist?« »Irgendeine Ahnung?«, beharrt Luke. »Ich kann ... das ist nicht ... « Verwirrt komme ich ins Stocken. Was ist das überhaupt für eine Frage: Wie viele Sachen hast du? Das ist ja wohl etwas viel verlangt. »Wie viele Sachen hast du denn?«, gebe ich zurück, und Luke denkt ungefähr eine Mikrosekunde lang nach. »Neun Anzüge, ein paar davon zu alt, um sie noch zu tragen. Etwa dreißig Hemden. Ungefähr fünfzig Krawatten. Ich sollte ein paar davon entsorgen. Dann den Smoking. Ich muss mir die nächsten zwölf Monate nichts mehr zum Anziehen kaufen, höchstens Socken.« Er zuckt mit den Schultern. »Und das werde ich auch nicht tun. Nicht bei der derzeitigen Wirtschaftslage. Ich glaube kaum, dass es das richtige Signal aussenden würde, wenn ich im neuen, maßgeschneiderten Anzug bei der Arbeit erscheine.«  Luke hat immer eine Antwort parat. »Aber du bist ein Mann. Das ist was anderes. Ich arbeite in der Modebranche, wie du dich vielleicht erinnern wirst. « »Ich weiß«, sagt er sanft. »Ich meine ja nur, wenn du deine Sachen -sagen wir -dreimal tragen würdest, bevor du dir was Neues kaufst, würde deine Kleiderrechnung vielleicht etwas geringer ausfallen.« Er zuckt mit den Schultern. »Du hast gesagt, du wolltest wissen, wie du Geld sparen könntest.« Ich wollte aber nicht solche Ideen. Ich wollte Ideen, die mit irgendwas zu tun haben, was mich nicht interessiert -wie Benzin oder Versicherungen. Aber jetzt sitze ich irgendwie in der Klemme ... »Prima!« Ich verschränke die Arme. »Ich werde jedes einzelne Kleidungsstück in meiner Garderobe dreimal tragen, bevor ich überhaupt einen Gedanken daran verschwende, wieder shoppen zu gehen. Zufrieden?«  »Ja.« Er lächelt mich an. »Und ich gebe meine Autopläne auf. Vorerst.« »Wirklich?« »Wie gesagt.« Er zuckt mit den Achseln. »Es ist nicht der richtige Moment.« Jetzt bin ich doch etwas beschämt. Luke wollte sich einen neuen Wagen kaufen, zur Feier des Tages, sobald der Arcodas Fall abgeschlossen wäre. Als Belohnung sozusagen. Wir hatten schon eine Probefahrt gemacht und alles. Nun, ich schätze, wenn er das kann, dann kann ich auch meine Sachen dreimal tragen, bevor ich wieder shoppen gehe. Das ist nicht zu viel verlangt. Außerdem habe ich wahrscheinlich gar nicht so viele. Ich versuche, mir meinen Schrank vorzustellen. Ich meine, es sind doch nur ein paar Tops und Jeans und Kleider, oder? Und ein paar Sachen sind noch hinten reingestopft. Die habe ich in zwei Wochen durch. »Aber für Minnie dürfen wir doch Sachen kaufen, oder?« Entsetzt blicke ich auf. »Und sie kriegt immer noch ihr Taschengeld?«  Ich habe mich schon ziemlich an Minnies Taschengeld gewöhnt, wenn wir unterwegs sind. Sie hat noch ein halbes Jahr Vorschuss beim Bambino-Schlussverkauf ausgegeben und absolut zauberhafte, glitzernde Gummistiefel zum halben Preis gekauft. Außerdem lernt sie dabei, mit Geld umzugehen, denn ich habe alles in ein kleines Büchlein geschrieben. »Natürlich darf Minnie weiter Taschengeld bekommen!«, lacht Luke. »Und wenn sie neue Sachen braucht, dann braucht sie welche. Sie wächst ja noch.« »Toll«, sage ich und gebe mir Mühe, nicht neidisch zu werden. Kinder haben es gut. Ich wünschte, ich würde alle drei Monate aus meinen Sachen rauswachsen und müsste alles neu kaufen. Ich dachte eigentlich, das Bloomwood-Motto lautet »Mehr Geld verdienen«, unterbricht Luke meine Gedanken. Er nimmt einen Stuhl und schenkt sich ein Glas Wein ein.  »Vielleicht könntest du wieder Vollzeit arbeiten, wo wir jetzt eine Nanny bekommen.« Aaaah! Nein! Es ist, als hätte er ohne Vorwarnung in die Luft geschossen. Ich merke richtig, wie ich körperlich zusammenzucke. Wieso musste er das Wort >Nanny< sagen, einfach so, ohne Vorwarnung? Ich wollte Mum doch vorsichtig darauf einstimmen, vielleicht mit einem allgemeinen Geplauder über Aupairmädchen. »Nanny?« Augenblicklich wird Mums Stimme scharf. »Was für eine Nanny? Wovon redet ihr?« Aus ihrem Mund klingt ,Nanny wie ,>Serienmörder<. Ich wage kaum, sie anzusehen. »Wir dachten nur ... es wäre vielleicht eine gute Idee, wenn wir uns etwas professionelle Hilfe suchen würden ... « Ich huste. »Ich meine ... « »Minnie ist verwöhnt«, wirft Luke trocken ein. »Sie braucht etwas Ordnung und Struktur.« Mum sieht aus, als wäre sie zu Tode gekränkt. »Selbstverständlich hast du sie nicht verwöhnt, Mum«, füge ich eilig hinzu. »Es ist nur ... da gibt es so Leute, die heißen Ultimate Nannies, die einem helfen, ein ausgeglichenes, kultiviertes Kind großzuziehen. Die sind in asiatischer Kampfkunst ausgebildet und so.« »In asiatischer Kampfkunst?«, wiederholt Mum ungläubig. »Wozu braucht sie asiatische Kampfkunst, die arme Kleine?« »Und sie verstehen was von Haushaltsführung und fordern die Entwicklung des Kindes ...« Verzweifelt suche ich Lukes Unterstützung. »Wir glauben, dass Minnie es brauchen kann«, sagt Luke mit fester Stimme. »Nächste Woche wollen wir uns ein paar Kandidatinnen ansehen, und ich bin mir sicher, dass wir alle wunderbar miteinander auskommen werden.« »Tja.« Mum scheinen die Worte zu fehlen. »Tja.« Sie nimmt einen Schluck Wein. »Ich verstehe. Alles ändert sich.« »Nun, es hätten ja ohnehin einige grundlegende Veränderungen angestanden«, setzt Luke an, »angesichts der Tatsache, dass wir ... mpf! Der Satz erstirbt, als ich ihm fest gegen den Knöchel trete und ihn böse ansehe. Hat er denn überhaupt kein Taktgefühl. Will er denn alles einfach so ausplaudern, hier und jetzt? Wir dürfen Mum nicht erzählen, dass wir ausziehen. Nicht auch das noch. Es wäre der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt. Es würde sie umbringen. Sie würde in Depressionen verfallen und am Ende wahrscheinlich einfach zusammenbrechen. »Was?«  Wachsam blickt sie von einem zum anderen. »Angesichts der Tatsache, dass ihr was?«, »Nichts!«, sage ich eilig. »Äh, wollen wir ein bisschen fernsehen?« »Becky?« Ich sehe Mum an, dass sie bestürzt ist. »Was ist los? Was wollt ihr mir nicht erzählen?«  Oh, Gott. Jetzt bin ich hin und her gerissen. Wenn ich ihr nicht die Wahrheit sage, wird sie annehmen, es sei wirklich irgendetwas Schreckliches passiert. Und vielleicht ist das hier ja tatsächlich der richtige Moment, die Neuigkeit zu verkünden. »Okay.« Ich nehme einen großen Schluck Wein, um mir Mut anzutrinken. »Hör zu, Mum: Luke und ich haben ein süßes Haus in Maida Vale gefunden. Und unser Angebot wurde akzeptiert. Und diesmal sieht es so aus, als könnte es wirklich was werden. Was bedeutet, dass wir ... « Ich hole tief Luft, kriege es kaum raus. »Mum, wir ziehen aus.« Sprachloses, ungläubiges Schweigen hängt in der Luft. Ich werfe Luke einen gequälten Blick zu. Es ist fürchterlich. Ich wusste, dass es schwierig werden würde, aber ich hätte nie gedacht, dass es so schlimm wäre. »Ihr wollt ... gehen?«, sagt Mum schließlich, und ihre Stimme bricht. »Ihr wollt uns tatsächlich verlassen?« Sie ist am Boden zerstört. Man sieht es ihr an. Ich merke schon, wie mir die Tränen kommen. »Ja, wir ziehen aus. In ungefähr vier Wochen wahrscheinlich.« Ich schlucke. Mein Hals schnürt sich zusammen. »Wir brauchen unser eigenes Zuhause. Das musst du verstehen, Mum. Aber wir kommen euch ganz oft besuchen, und du wirst Minnie immer noch sehen, versprochen, und ... « Mum hört mir gar nicht zu. »Sie gehen weg! Sie gehen weg!« Sie packt Dads Arm. »Hast du das gehört, Graham?« Moment mal. Das klingt gar nicht so am Boden zerstört. Sie klingt eher ... begeistert. »Stimmt das?« Dad kneift die Augen zusammen. « Sieht so aus.« Luke nickt. »Dann können wir wieder Dinner Partys geben«, keucht Mum. »Wir können den Tisch wieder benutzen! Gäste können bei uns wohnen!« »Ich kann wieder in meine Werkstatt«, stimmt Dad leise mit ein. »Endlich.« »Ich kriege meinen Schrank zurück! Und die Waschküche!« Mum scheint mir ganz außer sich vor Begeisterung. »Oh, Graham!« Zu meinem Erstaunen schmatzt sie Dad einen Kuss auf die Wange. »Ich muss Janice anrufen und ihr die gute Nachricht überbringen!«  Gute Nachricht? Was ist mit dem Empty-Nest-Syndrom? Was ist mit Depressionen und Zusammenbruch? »Aber ihr habt gesagt, ihr wolltet nicht, dass wir ausziehen!«, sage ich beleidigt. »Als aus diesen anderen Häusern nichts wurde, habt ihr gesagt, ihr wärt froh darüber. Dass wir euch so sehr fehlen würden!« »Wir haben gelogen, Liebes!«, sagt Mum fröhlich. »Wir wollten euch nicht kränken. Hallo, ich bin's, Janice!« Sie wendet sich ihrem Handy zu. »Sie ziehen aus! Ja! Vier Wochen! Erzähl's den andern!« Okay. Jetzt bin ich echt pikiert. Hat die ganze Nachbarschaft darauf gewartet, dass wir ausziehen? Becky Brandon (geborene Bloomwood) Offizielle Kleiderzählung Seite (3 von 15) Jeans (Fortsetzung) J Brand – ausgefranst J Brand – Boot Cut Goldsingn – schwarze Röhre 7 For All Mankind – Used Look (zwei Nummern zu klein) Balmain – schwarz, ripped Notify – schwarz Notify – schwarz (noch in Tüte, nie getragen) Theory – Strechröhre 7 For All Mankind – Gut – Offs Acne – am Knie ausgefranst Acne – ripped (noch mit Etiketten) Gavalli – ausgefranst, mit Pailletten (noch in Tüte) Paige Premium Denim – Boyfiend – Style True Religion -  grau, vintage, stonewasch Sportbekleidung: Stella McGatney Yoga Pants Stella McGatney ärmelloses Top Schwarzer Body (ungetragen) Schwarze Leggins – Sweaty Betty Graue Leggins – Nike ( noch in Tüte mit Quittung und Etiketten) Pinke Leggins (mit Streifenbesatz) – Pineapple Schwarze Stützleggings (ungetragen) Graue Leggings – American Apparel Hip – Hop – Hosen mit Graffiti – Muster (ungetragen) Eistanz – Dress mit Pailletten American Football – Trikot (für Halloween Party) Fred Perry Tennis – Dress (weiß) Fred Perry Tennis – Dress (hellblau) Echter Rennfahrer – Overrall (noch im Karton) Fortsetzung nächste Seite Zentralbehörde Für Finanz und Wirtschaftspolitik 5. Stock 180 Whitehall Place London SWI Mrs. Rebecca Brandon  The Pines 43 Elton Road Oxshott Surrey                                                                                                 18. Januar 2006 Liebe Rebecca, vielen Dank für Ihren Brief an den Schatzkanzler, der an mich weitergeleitet wurde. In seinem Namen möchte ich Ihnen für Ihre Anteilnahme danken. Er schätzt es sehr, dass Sie »wissen, wie ihm zumute ist« und sich ferner darüber Gedanken machen, wie er »aus dem Schlamassel wieder rauskommt«. Die Prinzipien Ihres Vaters -»K.T.« und »M.G.V« scheinen mir vernünftig, ebenso wie der Rat, »sich mal umzusehen und ein paar von den Sachen zu verkaufen, die man nicht braucht«. Vielen Dank auch für Ihr nettes Geschenk -Du und Dein Geld von David E. Barton -ein Buch, das mir bisher unbekannt war. Ich bin nicht darüber informiert, ob der Schatzkanzler eine Ausgabe davon besitzt, doch will ich es gern an das Ministerium weiterreichen, zusammen mit dem Rat, »alles aufzuschreiben, was er ausgibt«. Nochmals vielen Dank für Ihr Interesse. Mit freundlichen Grüßen Edwin Tredwell Abteilungsleiter Strategierecherche   7 Warum habe ich so viel Zeug? Warum? warum? Jetzt habe ich alles im Haus zusammengesammelt und gezählt. Und es ist eine totale Katastrophe. Nie im Leben kann ich das alles in zwei Wochen tragen. Eher in zwei Jahren. Wie kann man nur so viele Jeans haben? Und T-Shirts? Und alte Strickjacken, die ich schon vergessen hatte? Das Gute dabei ist, dass ich einen Whistles-Mantel gefunden habe, den ich total vergessen hatte und der mit einem Gürtel bestimmt toll aussieht. Und eine Röhrenjeans von True Religion, die noch in der Plastiktüte war und unter einem Stapel von Lancome-Geschenksets lag. Nicht so gut ist, dass da ungefähr achtzehn graue T-Shirts sind, alle oll und ausgeleiert. Ich kann mich überhaupt nicht erinnern, irgendwelche davon gekauft zu haben. Und ein paar echt peinliche Billigkäufe. Und das Schlimmste ist, dass Luke Jess erzählt hatte, ich würde eine Kleiderzählung machen, und sie auf der Stelle beschlossen hatte, mir zu helfen. Somit konnte ich leider nicht umsetzen, was ich vorhatte, nämlich alle Sachen, die ich nicht leiden kann, in einen Plastiksack zu stopfen und heimlich aus dem Haus zu schaffen. Jess war gnadenlos. Sie hat mich gezwungen, eine Liste von allen meinen Sachen anzulegen, und ich durfte nichts unberücksichtigt lassen. Nicht die unvorteilhaften Hot Pants, nicht die grauenvolle, kastanienbraune Lederweste (was habe ich mir dabei bloß gedacht?), nicht mal die ganzen alten Werbe-T-Shirts und Schuhe, die ich von Zeitschriften umsonst bekommen habe. Und da war ich noch nicht mal bei den komischen indischen Kleidern angekommen, die ich auf unserer Hochzeitsreise gekauft habe. Wenn ich diese dunkelbraune Lederweste dreimal in der Öffentlichkeit anziehen muss, sterbe ich. Mürrisch blicke ich an mir herab. Ich stecke in einem von Zillionen ungetragener weißer T-Shirts, mit einer schwarzen Hose und einer Weste über einer langen Strickjacke. Auf diese Weise versuche ich zu überleben -indem ich jeden Tag so viele Schichten wie möglich übereinander trage und sie so hinter mich bringe. Trotzdem muss ich nach Jess' Berechnung bis zum 23. Oktober nicht mehr shoppen gehen. Und wir haben erst Januar. Ich könnte heulen. Blöde, blöde Banken. Insgeheim hatte ich gehofft, diese ganze Finanzkrise wäre eine von diesen kurzen Angelegenheiten, die kommen und gehen, und alle sagen: »Haha, schön bescheuert von uns, dass wir so einen Aufstand wegen nichts gemacht haben!(Wie damals, als es hieß, ein entlaufener Tiger sei in Oxshott unterwegs, und alle hysterisch wurden, und dann stellte sich raus, dass es nur irgend eine Katze war.«  Aber niemand sagt: »Haha, schön blöd von uns.( Es steht noch immer in allen Zeitungen, und alle machen sich Sorgen. Heute Morgen hat Mum ihren Toast betont auffällig ohne Marmelade gegessen und Dad die ganze Zeit verächtliche Blicke zugeworfen. Ich habe Trübsal geblasen und versucht, die Christian-Dior-Anzeige auf der Rückseite von Dads Zeitung zu ignorieren. Selbst Minnie war bedrückt. Und als ich zur Arbeit komme, ist alles sogar noch deprimierender. Ich leite die Personal-Shopping-Abteilung bei The Look, was ein Kaufhaus an der Oxford Street ist. Anfangs lief es nicht allzu gut, aber in letzter Zeit brummt der Laden. Wir hatten haufenweise Events und eine tolle Medienresonanz, und die Gewinne gehen rauf, sodass wir sogar alle einen Bonus bekommen haben! Doch heute ist im Laden nichts los. Die Abteilung für Damenmode ist totenstill, und fast alle Termine in der Personal-Shopping-Abteilung wurden abgesagt. Es ist ein ziemlich deprimierender Anblick, eine ganze Spalte Buchungen mit dem Vermerk .« Gestrichen«  »Alle haben gesagt, sie hätten sich erkältet«, erklärt Jasmine, meine Kollegin, als ich bestürzt im Terminkalender blättere. »Man sollte meinen, sie könnten sich was Originelleres ausdenken.« »Zum Beispiel?« Jasmine klappert mit ihren hellgrünen Fingernägeln, die sich total mit ihren violetten Leopardenmuster-Augen beißen. (Gefärbte Kontaktlinsen sind ihr neuester Tick. Eigentlich hat sie ein blaues und ein grünes Auge und meint deshalb, sie hätte sich schon daran gewöhnt, dass die Leute sie anstarren.) »Zum Beispiel dass sie auf Entzug gehen«, sagt sie schließlich. »Oder dass ihr kokainsüchtiger Ehemann sie zusammengeschlagen hat und sie in einem Frauenhaus untertauchen mussten. So was würde ich jedenfalls sagen.« Gott im Himmel, Jasmine ist echt schräg. Wir könnten kaum unterschiedlicher sein, wir beide. Jasmine benimmt sich, als wäre ihr alles egal, einschließlich ihrer eigenen Kunden. Sie sagt den Leuten, dass sie scheiße aussehen, dass sie keinen Stil haben, dass sie ihre Klamotten in den Müll schmeißen sollen ... dann pfeffert sie ihnen achselzuckend irgendein Kleidungsstück hin, und sie ziehen es an und sehen dermaßen spektakulär aus, dass sie es unmöglich nicht kaufen können. Manchmal kommen sie richtig ins Schwärmen, oder sie versuchen, sie zu umarmen, aber sie verdreht nur die Augen und sagt: »Oh, bitte!«  »Oder sie könnten auch ehrlich sein.« Jasmine wirft ihr langes, blond gefärbtes Haar zurück. »Sie könnten sagen: »Ich habe kein Geld, die Scheißbank hat alles verzockt.«  Bist du dir darüber im Klaren, dass der Laden hier in absehbarer Zeit zumachen wird?«, fügt sie fast fröhlich hinzu und deutet um sich. »Im Grunde ist das ganze Land geliefert. Es ist eine Riesenschweinerei. Ich ziehe wahrscheinlich nach Marokko.« Argwöhnisch mustert sie mein Hemd. »Ist das nicht von Chloe, vorletzte Saison?« So etwas entgeht Jasmine nicht. Ich überlege, ob ich sagen soll: »Nein, das ist von einem kleinen Label, das du nicht kennst« , oder: »Ja, das ist Vintage«, als eine Stimme ängstlich sagt: »Becky?« Da ich meinen Namen höre, drehe ich mich um und staune. In der Tür steht Davina, eine meiner Stammkundinnen. Ich erkenne sie kaum wieder, im Regenmantel, mit Kopftuch und Sonnenbrille. »Davina! Sie sind gekommen! Schön, Sie zu sehen!« Davina ist Mitte dreißig und Ärztin am Guy's Hospital. Sie ist eine weltweit anerkannte Spezialistin für Augenkrankheiten und außerdem mehr oder weniger eine weltweit anerkannte Spezialistin für Prada-Schuhe, denn die hat sie schon mit achtzehn gesammelt. Heute hatte sie zwar einen Termin, um sich ein neues Abendkleid auszusuchen, aber nach meinem Kalender zu urteilen wurde er abgesagt. »Ich sollte gar nicht hier sein.« Misstrauisch sieht sie sich um. »Ich habe meinem Mann versprochen, ich hätte abgesagt. Er macht sich ... Sorgen ums Geld.« »Wie alle«, sage ich verständnisvoll. »Möchten Sie Ihren Mantel ablegen?« Davina rührt sich nicht. »Ich weiß nicht«, sagt sie schließlich und klingt bedrückt.« Ich sollte nicht hier sein. Wir hatten einen Streit deswegen. Er hat mich gefragt, wozu ich ein neues Kleid brauche. Und dass es nicht der richtige Zeitpunkt ist, Geld aus dem Fenster zu werfen. Aber ich habe ein Forschungsstipendium vom Taylor Research Fellowship gewonnen. Meine Abteilung gibt mir zu Ehren einen Empfang.« Plötzlich fängt ihre Stimme an zu beben. »Es ist gewaltig, dieses Stipendium. Es ist eine unglaubliche Ehre. Ich habe dafür geschuftet, und ich werde nie wieder eins bekommen, und ich habe das Geld für ein Kleid. Ich habe gespart, und es ist kein Problem. Wir sind nicht mal bei der Bank of London!« Sie klingt so aufgebracht, dass ich sie am liebsten umarmen würde. Davina nimmt nichts auf die leichte Schulter. Sie denkt über jedes Stück nach, das sie kauft, und hält sich an die gut gearbeiteten Klassiker. Wahrscheinlich freut sie sich schon seit Ewigkeiten auf dieses Kleid. Wie gemein ihr Mann ist! Er sollte stolz auf seine Frau sein, wenn sie einen Preis bekommt. »Wollen Sie reinkommen?«, versuche ich es noch mal. »Auf einen Kaffee?« »Ich weiß nicht«, sagt sie wieder ganz leise. »Es ist so schwierig. Ich sollte gar nicht hier sein.« »Sie sind aber hier«, gebe ich zurück. »Wann ist der Empfang?« »Freitagabend.« Sie nimmt die Sonnenbrille ab, um ihre Stirn zu massieren, und starrt plötzlich an mir vorbei zur Kleiderstange in meinem Ankleideraum. Dort hängen alle Kleider, die ich letzte Woche für sie ausgesucht habe. Ich hatte Jasmine gesagt, sie sollte sie heute Morgen rauslegen. Da hängen ein paar traumhafte Stücke. Injedem davon würde Davina toll aussehen. Ich sehe, wie das Verlangen in ihren Augen wächst. »Sind das ... ?« »Nur ein paar Optionen.« »Ich kann nicht.« Verzweifelt schüttelt sie den Kopf. »Ich kann nicht in etwas Neuem auftauchen.« »Würde Ihr Mann denn merken, dass es neu ist?«, kann ich mir nicht verkneifen. Ich sehe, wie der Gedanke in ihr arbeitet. »Vielleicht nicht«, sagt sie schließlich. Ihre Stirn glättet sich ein wenig ... dann runzelt sie sich wieder sorgenvoll. »Aber ich kann unmöglich mit irgendwelchen Einkaufstüten nach Hause kommen. Oder mir etwas liefern lassen. Und ich kann es mir auch nicht zur Arbeit liefern lassen. Alle meine Kollegen würden darüber reden und es sehen wollen, und das würde meinem Mann zu Ohren kommen. Das ist der Nachteil, wenn man im selben Krankenhaus arbeitet.« »Wie wollen Sie dann ein Kleid kaufen?«, sagt Jasmine barsch. »Wenn Sie es nicht mit nach Hause nehmen und auch nicht liefern lassen können?« »Ich weiß nicht.« Davina wirkt etwas geknickt. »Ach, es ist hoffnungslos. Ich sollte gar nicht hier sein.« »Doch, das sollten Sie!«, sage ich energisch. »So schnell geben wir nicht auf. Kommen Sie rein, trinken Sie einen Kaffee, und sehen Sie sich die Kleider an! Und ich lasse mir derweil was einfallen.“ Im seIben Moment, als Davina Philosophy di Alberta Ferretti anzieht, wissen wir es beide. Sie muss es haben. Es ist ein Etuikleid, schwarz wie dunkle Schokolade, mit einem Hauch von Chiffon, und es kostet fünfhundert Pfund und ist jeden Penny wert. Jetzt muss ich mir also überlegen, wie wir es machen wollen. Und bis sie wieder angezogen ist und das Sandwich aufgegessen hat, das ich ihr bestellt habe, weiß ich auch wie. Hiermit führen wir einen neuen, ganz besonderen Shopping Service bei The Look ein, den SIP (Shop In Private). Bis zum Mittag habe ich alle Arrangements für Davina getroffen und mir zusätzlich ein paar Neuerungen einfallen lassen. Ich habe sogar eine kurze E-Mail zum Thema SIP verschickt, die anfangt mit: »Haben Sie ein schlechtes Gewissen, weil Sie in diesen schweren Zeiten einkaufen gehen? Brauchen Sie mehr Diskretion?«  Ich will nicht prahlen, aber ich bin ziemlich stolz auf meine Ideen. Die Kundinnen können in die Personal-Shopping-Abteilung kommen, sich neue Sachen aussuchen und dann unter folgenden, diskreten Lieferoptionen wählen: 1.  Die Ware wird bei uns auf Standby gehalten und zu einem passenden Zeitpunkt (wenn niemand zu Hause ist) per Fahrradkurier zugestellt. 2.  Die Sachen werden in einem Pappkarton mit der Aufschrift »Druckerpapier«  oder »Hygieneartikel« geliefert. 3.  Eine Mitarbeiterin (ich oder Jasmine) gibt sich als Freundin aus, die sie zu Hause besucht und die Sachen als »abgelegte Kleidung«  deklariert. 4.  Eine Mitarbeiterin (ich oder Jasmine) gibt sich als Putzfrau aus und versteckt die Kleider bei Ihnen zu Hause an einem vorher vereinbarten Ort. 5.  Für ein größeres Entgelt bauen Mitarbeiterinnen von The Look (ich und Jasmine) an einem mit Ihnen abgesprochenen Ort einen »Wohltätigkeitsstand« auf, an dem die Kundin im Beisein ihres Ehemannes oder Partners Kleidung zu einem äußerst günstigen Preis »erwerben« kann. * Diese Option dürfte sich vermutlich besonders für Gruppen eignen. Davina hat sich für die »Druckerpapier«-Option entschieden. Als sie ging, leuchteten ihre Augen vor Begeisterung, und sie nahm mich fest in die Arme, sagte, sie würde mir Fotos von dem Empfang schicken, und ich hätte ihr absolut den Tag gerettet. Nun, sie hat es verdient. Sie sieht in diesem Kleid fantastisch aus, und diese Feier wird sie nie vergessen. Als ich mich auf den Weg zu meinem Lunch mit Bonnie mache, bin ich eigentlich ganz zufrieden mit mir. Hin und wieder kommen mir allerdings gewisse Zweifel, weil ich den >Shop InPrivate<-Plan mit keinem meiner Bosse abgesprochen habe. Etwa dem Geschäftsführer oder dem Marketing-Chef. Streng genommen hätte ich mir eine neue Initiative wie diese genehmigen lassen sollen, bevor ich sie öffentlich mache. Aber das Problem ist, dass sie Männer sind. Die würden es nie verstehen. Vermutlich würden sie nur unsinnige Einwände äußern, und uns würde die Zeit weglaufen, und wir würden alle unsere Kundinnen verlieren. Also tue ich das Richtige. Ja. Da bin ich mir ganz sicher. Ich treffe mich mit Bonnie in einem Restaurant in der Nähe von Brandon Communications, und als ich eintreffe, sitzt sie schon an einem Tisch, das personifizierte Understatement im beigefarbenen Tweedkleid mit Lackpumps. Wenn ich Bonnie bisher getroffen habe, schien sie mir immer zurückhaltend und mustergültig, fast übermenschlich. Inzwischen jedoch weiß ich, dass sie etwas verbirgt -denn ich habe es gesehen. Bei der letzten Weihnachtsfeier von Brandon Communications habe ich sie zufällig beobachtet, als wir alle auf der Tanzfläche waren und wie wild bei >Dancing Queen< mitgesungen haben. Bonnie saß allein an einem Tisch, und als ich hinsah, hat sie sich heimlich eine der übrig gebliebenen Haselnussschokoladen genommen, die noch auf den Tellern lagen. Dann noch eine. Sie ging um den ganzen Tisch herum, bediente sich diskret bei der Schokolade, wobei sie das Papier fein säuberlich faltete und es in ihre Abendtasche steckte. Ich habe es niemandem erzählt, nicht mal Luke, denn irgendetwas sagte mir, sie wäre entsetzt, wenn sie feststellen müsste, dass man sie beobachtet hat. Und aufziehen dürfte man sie damit schon gar nicht. »Becky«, begrüßt sie mich mit ihrer tiefen, wohlklingenden Stimme. »Wie schön, Sie zu sehen. Ich habe uns etwas Mineralwasser bestellt ... « »Prima!« Ich strahle sie an. »Und vielen Dank, dass Sie mir helfen wollen.« »Oh, das macht doch keine Umstände. Lassen Sie mich Ihnen kurz zeigen, was ich bisher gemacht habe.« Sie holt eine Plastikmappe hervor und fängt an, verteilt bedrucktes Papier auf dem Tisch. »Gäste ... Kontakte ... spezielle Verpflegungswünsche ... « Staunend glotze ich die Seiten an. Luke hat recht, Bonnie ist unglaublich. Sie hat eine vollständige Gästeliste aus Lukes geschäftlichen und privaten Adressbüchern zusammengestellt, komplett mit Adressen und Telefonnummern und einem kleinen Absatz dazu, wer die jeweilige Person ist. »Alle in der Firma haben den Abend des 7. April geblockt«, fährt sie fort. »Ich habe Garry ins Vertrauen gezogen, und wir haben uns eine Schulung für die gesamte Firma ausgedacht. Hier, sehen Sie ... « Sprachlos betrachte ich das Blatt Papier, das sie mir hinhält. Es ist der Ablaufplan für eine »Schulung aller Mitarbeiter bei Brandon Communications«, von 17:00 Uhr bis in den späten Abend, mit »Drinks« und »Gruppenaktivitäten« und »Diskussionskreisen«. Es sieht so echt aus! Sogar der Name von dem Laden, wo das alles stattfinden soll, ist unten vermerkt. »Das ist großartig«, sage ich schließlich. »Absolut fantastisch. Bonnie, vielen, vielen Dank ... « »Nun, es bedeutet, dass Sie vorerst noch niemandem in der Firma die Wahrheit sagen müssen.« Sie schenkt mir ein kleines Lächeln. »So etwas behält man lieber so lange wie möglich für sich.« »Absolut.« Leidenschaftlich gebe ich ihr recht. »Je weniger Leute in das Geheimnis eingeweiht sind, desto besser. Ich habe eine Liste der Personen angelegt, die Bescheid wissen, und halte den Daumen drauf.« »Sie scheinen die Sache gut im Griff zu haben.« Sie lächelt ermutigend. »Und wie laufen die Partyvorbereitungen selbst?« »Kein Problem«, sage ich sofort. »Ich meine ... ich habe noch nicht so ganz alles fertig ... « »Haben Sie schon mal daran gedacht, einen Partyplaner zu engagieren?«, fragt Bonnie freundlich. »Oder so einen Concierge Service? Es gibt da einen ganz bestimmten, den mehrere meiner Arbeitgeber genutzt haben. Er nennt sich The Service. Sehr effizient. Kann ich nur empfehlen.« Sie zückt einen Notizblock und schreibt mir eine Nummer auf. »Diese Leute würden Ihnen bestimmt helfen, was Organisation, Lieferanten, Personal und dergleichen angeht. Aber das ist nur ein Vorschlag.« »Danke!« Ich nehme den Zettel und stecke ihn in meine Handtasche. Das ist vielleicht gar keine schlechte Idee. Ich meine, nicht dass ich Hilfe bräuchte. Nur falls es irgendwo mal brennt. Der Kellner kommt, und wir bestellen beide Salat. Dann schenkt er uns Wasser nach. Als Bonnie gewissenhaft trinkt, mustere ich sie unwillkürlich voller Neugier. Wenn man es recht bedenkt, ist sie die andere Frau in Lukes Leben. (Nicht Camilla Parker-Bowles-mäßig. Definitiv nicht. Ich werde nicht wieder in die Falle tappen und denken, Luke hätte eine Affäre, und Privatdetektive anheuern und mich wegen nichts und wieder nichts fertigmachen.) »Möchten Sie etwas Wein, Becky?«, sagt Bonnie plötzlich. »Ich muss ja leider wieder zur Arbeit. .. « Bedauernd lächelt sie mich an. »Ich auch«, nicke ich, mit meinen Gedanken nach wie vor bei ihr. Sie verbringt mehr Zeit mit Luke als ich. Sie weiß alles über sein Leben. Dinge, von denen er mir nie erzählt. Wahrscheinlich weiß sie sogar das ein oder andere, was interessant sein könnte. »Und ... wie ist Luke so als Chef?«, kann ich mir nicht verkneifen. »Er ist bewundernswert.« Sie lächelt und nimmt ein Stück Brot aus dem Korb. Bewundernswert. Das ist so typisch. Diskret, verbindlich, sagt mir nichts. »Wie bewundernswert ist er genau?« Bonnie betrachtet mich mit merkwürdigem Blick, und plötzlich merke ich, dass ich ein bisschen übers Ziel hinausschieße. »Na, Mister Perfect ist er bestimmt nicht«, füge ich eilig hinzu. »Es muss doch etwas geben, was Sie stört.« »Das kann ich so nicht sagen.« Sie schenkt mir noch ein verschlossenes Lächeln und nippt an ihrem Wasser. Will sie jede Frage so abwehren? Plötzlich spüre ich das Bedürfnis, hinter ihre professionelle Fassade zu blicken. Vielleicht könnte ich sie mit einer Nussschokolade ködern. »Kommen Sie, Bonnie!«, beharre ich. »Es muss doch irgendwas geben, was Sie an Luke stört. Also, mich stört es, dass er ständig mitten im Gespräch mit seinem BlackBerry herumhantiert.« »Ehrlich.« Bonnie gibt ein beherrschtes Lachen von sich. »Das kann ich nicht sagen.« »Doch, können Sie!« Ich beuge mich über den Tisch. »Bonnie, ich weiß, dass Sie sich professionell verhalten möchten. Genau wie ich. Aber das hier ist inoffiziell. Wir können ehrlich miteinander sein. Ich werde dieses Restaurant nicht verlassen, bevor Sie mir nicht gesagt haben, was Sie an ihm stört.« Bonnie ist ein wenig rot angelaufen und sieht dauernd zur Tür, als suchte sie nach einer Fluchtmöglichkeit. »Sehen Sie«, sage ich, um ihre Aufmerksamkeit auf mich zu lenken. »Wir sind nun mal die beiden Frauen, die die meiste Zeit mit Luke verbringen. Wir kennen ihn besser als alle anderen. Weshalb sollten wir da nicht unsere Erfahrungen austauschen und voneinander lernen? Ich werde ihm auch bestimmt nichts davon erzählen!«, füge ich hinzu, als mir bewusst wird, dass ich das vielleicht nicht klar genug geäußert habe. »Es bleibt strikt unter uns. Ich schwöre es.« Es folgt eine lange Pause. Ich glaube, es ist bei ihr angekommen. »Nur eine einzige Sache«, beschwätze ich sie. »Eine einzige, winzig kleine Sache ... »Bonnie nimmt einen Schluck Wasser, als müsste sie ihre Nerven stärken. »Nun«, sagt sie schließlich. »Das mit den Geburtstagskarten ist vielleicht ein wenig frustrierend.« »Mit den Geburtstagskarten?« »Die Geburtstagskarten für die Mitarbeiter.« Sie blinzelt mich an. »Ich habe einen Stapel davon fürs ganze Jahr. Er soll sie unterschreiben, kommt aber nie dazu. Was verständlich ist, weil er viel zu tun hat ...« »Ich bringe ihn dazu, sie zu unterschreiben«, sage ich entschlossen. »Überlassen Sie das nur mir.« »Becky.« Bonnie wird kalkweiß. »Bitte nicht, das wollte ich damit nicht sagen ... «  »Keine Sorge, ich werde beruhigend auf ihn einwirken. Ich bin ganz vorsichtig.«  Bonnie macht einen besorgten Eindruck. »Ich möchte nicht, dass Sie darin verwickelt werden ... «  »Aber ich bin darin verwickelt! Ich bin seine Frau! Und ich finde es unsäglich, dass er sich nicht die Mühe macht, die Geburtstagskarten seiner Mitarbeiter zu unterschreiben. Wissen Sie, woran es liegt?«, füge ich verschmitzt hinzu. »Es liegt daran, dass ihm sein eigener Geburtstag nichts bedeutet, und deshalb denkt er, allen anderen ginge es genauso. Es käme ihm nie in den Sinn, dass es jemandem wichtig sein könnte.« »Ach.« Bonnie nickt langsam. »Ja. Das klingt logisch.« »Wann ist denn der nächste Geburtstag in der Firma? Wer steht als Nächstes auf der Liste?« »Nun, eigentlich ... « Bonnie läuft rot an. »Ich selbst habe in zwei Wochen Geburtstag ... « »Perfekt! Ich werde dafür sorgen, dass er bis dahin alle Karten unterschrieben hat ... « Da kommt mir ein neuer Gedanke. »Und was will er Ihnen schenken? Was hat er Ihnen denn zu Weihnachten geschenkt? Etwas Hübsches, hoffe ich.« »Selbstverständlich! Er hat mir ein wirklich hübsches Geschenk gemacht!« Bonnies fröhliche Stimme klingt ein wenig gepresst. »Dieses wundervolle Armband.« Sie schüttelt ihren Arm, und ein goldenes Kettchen fällt unter ihrem Ärmel hervor. Sprachlos starre ich es an. Das hat Luke ihr gekauft? Ich meine, es ist kein schlechtes Armband. Aber es passt dermaßen weder zu Bonnies Farben noch zu ihrem Stil oder sonst was. Kein Wunder, dass sie es unter ihrem Ärmel versteckt. Und wahrscheinlich hat sie das Gefühl, sie müsste es jeden Tag zur Arbeit tragen, die Ärmste. Wo hat er das überhaupt her -von totalfarblosegeschenkefürdeinesekretärin.com? Wieso hat er mich denn nicht gefragt? Langsam wird mir einiges klarer. Wir müssen uns koordinieren, Bonnie und ich. Wir müssen als Team arbeiten. »Bonnie«, sage ich nachdenklich. »Würden Sie gern was Richtiges trinken?« »Oh, nein ... «, sagt sie. »Nun kommen Sie schon«, locke ich sie. »Ein winzig kleines Gläschen Wein zum Mittag macht einen doch nicht gleich unprofessionell. Und ich verspreche, dass ich niemandem ein Sterbenswörtchen sage.« »Na ja.« Bonnie gibt nach. »Vielleicht nehme ich einen kleinen Wermut auf Eis.« Yay! Bravo, Bonnie! Als wir unsere Salate aufgegessen haben und Kaffee schlürfen, sind wir beide schon viel entspannter. Ich habe Bonnie mit Geschichten über Lukes Yoga-Übungen auf unserer Hochzeitsreise zum Lachen gebracht, und sie hat mir von einem früheren Chef erzählt, der den Lotus-Sitz probieren wollte und in der Notaufnahme landete. (Sie war zu diskret, mir zu verraten, wer es war. Das muss ich googeln.) Vor allem aber steht nun mein Partyplan. »Bonnie«, fange ich noch mal an, als der Kellner uns die Rechnung bringt und ich sie an mich nehme, bevor Bonnie protestieren kann. »Ich möchte nur noch einmal sagen, wie dankbar ich Ihnen bin, dass Sie mir mit der Party helfen.« »Ehrlich, das macht mir überhaupt keine Mühe ... « »Und mir ist noch etwas bewusst geworden. Wir können uns gegenseitig helfen!« Vor Begeisterung wird meine Stimme etwas lauter. »Wir können Synergien nutzen. Denken Sie nur, was wir erreichen können, wenn wir zusammenarbeiten! Luke muss davon nichts wissen. Es wird alles unter uns bleiben.«  Sobald ich »Unter uns bleiben« sage, sieht Bonnie aus, als sei ihr nicht ganz wohl in ihrer Haut. »Becky, es war wirklich nett, mit Ihnen zu plaudern ... »beginnt sie. »Und ich weiß sehr wohl zu schätzen, dass Sie helfen wollen, aber ...« »Wir bleiben in Kontakt, okay?, »unterbreche ich sie. »Speichern Sie meine Nummer. Und sagen Sie mir einfach Bescheid, wenn Luke einen kleinen Schubs braucht. Ob groß oder klein. Ich will tun, was ich kann. « Sie macht den Mund auf, um zu protestieren. Jetzt kann sie keinen Rückzieher mehr machen. »Bonnie, bitte. Brandon Communications liegt mir sehr am Herzen«, sage ich warmherzig. »Und es könnte doch sein, dass ich etwas Positives beitragen kann. Aber das kann ich nur, wenn Sie mich auf dem Laufenden halten! Anderenfalls bin ich machtlos! Luke versucht, mich zu beschützen, und merkt dabei nicht, dass er mich ausschließt. Bitte lassen Sie mich helfen!« Bonnie sieht mich nach meiner kleinen Ansprache erstaunt an, aber es stimmt auch irgendwie -ich fühle mich von Luke ein bisschen ausgeschlossen, seit ich nicht mal als Zuschauerin an dem Arcodas-Prozess teilnehmen durfte. (Okay, es war kein Prozess. Eine Anhörung. Oder wie das heißt.) »Nun, sagt sie schließlich.«  »So habe ich das gar nicht gesehen. Selbstverständlich will ich es Sie gern wissen lassen, falls ich der Ansicht sein sollte, dass Sie etwas ... beitragen können.« »Prima!« Ich strahle. „Und im Gegenzug könnten Sie mir vielleicht einen kleinen Gefallen tun?« »Natürlich.« Bonnie sieht aus, als käme sie nicht ganz mit. »Aber gern. Haben Sie etwas Bestimmtes im Sinn?« »Ja, also, tatsächlich hätte ich da einen kleinen Wunsch.« Ich nehme einen Schluck Cappuccino. »Sie würden mir wirklich sehr helfen.« »Hat es mit der Party zu tun?« Bonnie holt schon ihr Notizbuch hervor. »Nein, mit der Party hat es nichts zu tun. Es ist eher allgemein.« Ich beuge mich über den Tisch. „Könnten Sie Luke sagen, dass ein Fitnessraum besser ist als ein Weinkeller« Total verwirrt starrt Bonnie mich an. »Verzeihung?«, sagt sie schließlich. »Wir wollen da dieses Haus kaufen«, erkläre ich, und Luke will einen Weinkeller einrichten, aber ich möchte einen Fitnessraum. Könnten Sie ihn überreden, dass ein Fitnessraum viel besser ist?« »Becky.« Langsam wird Bonnie unruhig. „Ich glaube wirklich nicht, dass das angemessen wäre ... «  »Bitte!«, bettle ich. »Bonnie, sind Sie sich darüber im Klaren, wie sehr Luke Ihre Meinung schätzt? Er hört immer auf Sie. Sie können ihn beeinflussen!« Es scheint, als fehlten Bonnie die Worte. »Aber ... wie um alles in der Welt soll ich dieses Thema jemals anschneiden?«  »Ganz einfach!«, sage ich zuversichtlich. »Sie könnten so tun, als würden Sie einen Artikel darüber lesen, und dann ganz nebenbei sagen, dass Sie nie im Leben ein Haus kaufen würden, bei dem der gesamte Keller in ein Weinlager umgewandelt wurde. Und dass Sie auf jeden Fall einen Fitnessraum bevorzugen würden. Und Sie könnten außerdem sagen, dass Weinproben total überbewertet und langweilig sind«, füge ich hinzu. »Aber Becky ... « »Und so könnten wir uns gegenseitig richtig helfen. »Girlpower.« Ich lächle sie an, so gewinnend wie möglich. »Schwestern.« »Nun ... ich will mein Bestes tun, ein solches Gespräch anzuschneiden«, sagt Becky schließlich. »Ich kann nichts versprechen, aber ...« »Sie sind ein Engel! Und wenn ich irgendwas tun oder sagen soll, was Luke angeht, schreiben Sie mir eine SMS. Egal, was.« Ich biete ihr den Teller mit der Pfefferminzschokolade an. »Auf uns! Das Becky&Bonnie-Team!«   8 Als ich nach dem Lunch die Straße entlang spaziere, bin ich bester Dinge. Bonnie ist ein echter Schatz. Sie ist die beste Assistentin, die Luke je hatte, mit Millionen Meilen Abstand, und wir werden bestimmt ein fabelhaftes Duo. Außerdem habe ich schon bei dieser Concierge-Firma angerufen, die sie mir empfohlen hat, und wurde gleich zu deren Party-Abteilung durchgestellt. Es geht alles so einfach! Warum um alles in der Welt habe ich nie einen Concierge Service genutzt? Die machen alle einen unheimlich netten Eindruck, und anscheinend ist denen nichts zu viel. Wir müssen Mitglied werden! Der Stimme nach zu urteilen, die einem was erzählt, während man wartet, können sie einfach alles besorgen -von ausverkauften Theaterkarten über Charterflugzeuge bis hin zu einer Tasse Tee in der Navajo-Wüste. Okay. Falls man so was haben will. »Hi!«Ein aufgeweckter Mann kommt an den Apparat. »Becky? Mein Name ist Rupert. Harry hat mir kurz gesagt, worum es geht. Sie wünschen sich die ultimative Surprise Party für Ihren Mann.« »Ja! Mit Feuerschluckern und Jongleuren und einem FestzeIt und einer Disko. « »Okay, mal sehen ...« Er schweigt, und ich höre ihn blättern. »Erst kürzlich haben wir eine Geburtstagsparty für dreihundert Personen in mehreren Beduinenzelten organisiert. Wir hatten Jongleure, Feuerschlucker, drei verschiedene, internationale Buffets, eine sternenübersäte Tanzfläche, das Geburtstagskind kam auf einem Elefanten hereingeritten, preisgekrönte Kameraleute haben das Event gefilmt. .. « Mir stockt der Atem. »Das will ich auch!«, sage ich. ,)Genau so. Hört sich toll an.« « Schön.« Er lacht. »Vielleicht sollten wir uns zusammensetzen und die Details besprechen. Dann könnten Sie sich auch unsere Eventmappe ansehen ... « »Liebend gern!«, sage ich begeistert. »Mein Name ist Becky. Ich gebe Ihnen meine Nummer ... « »Nur ein kleines Detail noch«, fügt Rupert hinzu, nachdem ich ihm meine Handynummer diktiert habe. »Sie müssten Mitglied bei The Service werden. Ich meine, selbstverständlich könnte ich Ihren Antrag beschleunigen ... « »Unbedingt«, sage ich entschlossen. »Das wollte ich sowieso.« Das ist ja so was von cool! Bald haben wir unseren eigenen Concierge Service! Wir können in Konzerte gehen, in die besten Hotels, die geheimen Clubs. Das hätte ich schon vor Jahren machen sollen ... »Also, ich sende Ihnen die Formulare heute Nachmittag per E-Mail zu ...«, sagt Rupert gerade. »Prima! Wie viel kostet es?«, füge ich noch hinzu. »In der Gebühr ist alles enthalten«, antwortet Rupert sanft. »Wir knöpfen Ihnen keine Zusatzkosten ab wie manche unserer Mitbewerber! Und für Sie und Ihren Mann kämen wir auf sechs.« »Ach so «,sage ich unsicher. »Sechs ... hundert Pfund, meinen Sie?« »Tausend.« Er lacht entspannt. »Leider.« Sechstausend Pfund? Nur für die Aufnahmegebühr? Oha. Ich meine, das ist es bestimmt wert, aber ... »Und ... « Ich schlucke, wage kaum zu fragen. »Die Party, von der die Rede war ... mit den Zelten und den Jongleuren und so. Was hat die gekostet?« »Sie werden sich freuen zu hören, dass sie unter dem Budget lag ... « Rupert lacht kurz auf. » ... alles in allem lag sie bei zweihundertdreißig. « Mir wird ein bisschen schwummerig. Zweihundertdreißigtausend Pfund? »Becky? Sind Sie noch da? Selbstverständlich können wir auch mit deutlich geringeren Budgets arbeiten! »Er klingt unbekümmert. »Hunderttausend wäre normalerweise unser Ausgangspunkt ... « »Okay!« Meine Stimme wird ein wenig schrill. »Super! Also ... wissen Sie was, eigentlich ... wenn ich es recht bedenke ... bin ich noch in einem ganz frühen Planungsstadium. Ich melde mich später wieder bei Ihnen. Vielen Dank erst mal. Bye.« Ich lege auf, bevor meine Wangen noch roter werden können. Zweihundertdreißigtausend Pfund? Für eine Party? Ich meine, ich liebe Luke ja wirklich von Herzen, aber zweihundertdreißigtausend ... »Becky?« Ich blicke auf und springe fast an die Decke. Es ist Luke. Was macht der denn hier? Er steht etwa drei Meter hinter mir und sieht mich überrascht an. Zu meinem Entsetzen merke ich, dass ich die durchsichtige Mappe mit der Gästeliste, den Schulungsdetails und allem anderen in der Hand halte. Ich bin kurz davor, alles zu verraten. »Das ist ja eine Überraschung!« Er tritt vor und küsst mich, und ich merke, wie leise Panik in mir aufsteigt. Eilig versuche ich, die Mappe wegzustecken, doch in der Aufregung fällt sie mir auf den Gehweg. »Lass nur.« Er bückt sich. »Nein!«, jaule ich auf. »Das ist privat! Ich meine, es ist vertraulich. Vertrauliche Einkaufsdetails eines Mitglieds der saudischen Königsfamilie. Hochsensibel.« Eilig hebe ich die Mappe auf, falte sie so gut wie möglich zusammen und stopfe sie in meine Tasche. »So!« Ich springe wieder auf und lächle starr. »Und ... wie geht es dir?« Luke antwortet nicht. Er sieht mich mit so einem Blick an. So einem »Irgendwas stimmt hier nicht«-Blick. »Becky, was ist los? Willst du mich besuchen?« »Nein!«, erwidere ich scharf. »Natürlich nicht!« »Und was machst du dann hier in der Gegend?« Augenblicklich wird mir mein Fehler bewusst. Ich hätte sagen sollen, dass ich zu ihm will. »Ich ... äh ... « Ich versuche, mir einen guten Grund einfallen zu lassen, wieso ich zur Mittagszeit in EC2 bin. »Ich will die Stadt besser kennenlernen. Ich orientiere mich an den Postleitzahlen. Du solltest dir mal SE24 ansehen. Ist hübsch da!« Schweigen. »Becky.« Luke fährt mit beiden Händen durch sein dickes, schwarzes Haar. »Sei ehrlich. Hast du irgendwie ... finanzielle Probleme? Bist du bei jemandem gewesen?« Bitte? »Nein!«, rufe ich beleidigt. »Natürlich nicht! Wenigstens ... nicht mehr als sonst«, füge ich hinzu, denn ich möchte doch gern ehrlich sein. »Das ist so typisch von dir, Luke. Wir laufen uns zufällig auf der Straße über den Weg, und sofort nimmst du an, ich hätte Schulden!« Ich meine, ich habe Schulden. Aber darum geht es hier doch nicht. »Und was soll ich denken?«, antwortet er gereizt. »Du benimmst dich seltsam, du verbirgst Unterlagen vor mir ... da ist doch offensichtlich irgendwas im Busch ... « Ogottogott, ich muss ihn ablenken ... »Okay!«, sage ich. »Du hast mich erwischt. Ich mache ... ich habe ...«, ich rudere gedanklich mit den Armen, » ... Botox bekommen.« Lukes Gesicht wird lang, und ich nutze die Gelegenheit, den Reißverschluss an meiner Tasche zuzuziehen. »Botox?«, sagt er ungläubig. »Ja«, erwidere ich trotzig. »Botox. Ich wollte es dir nicht sagen. Und deshalb habe ich mich komisch benommen.« Na, also. Perfekt. »Botox«, wiederholt er. »Du hattest schon mal Botox.« »Ja!« Plötzlich merke ich, dass ich viel zu aufgeregt rede. Ich versuche, mein Gesicht ganz starr und steif zu machen, wie Prominente in den besten Jahren. Aber es ist zu spät. Luke mustert mich bereits. »Wo denn?« »Äh ... hier.« Zögerlich zeige ich auf meine Schläfe. »Und ... hier. Und hier.« »Aber ... « Luke begreift nicht. »Sollten die Falten dann nicht verschwinden?« Was? Der hat ja Nerven. Ich habe keine Falten! Die eine oder andere winzig kleine vielleicht, aber die sind kaum zu sehen. »Es ist eher subtil«, sage ich herausfordernd. »Eine ganz neue Technik. Weniger ist mehr.« Luke seufzt. »Becky, wie viel hast du dafür bezahlt? Wo hast du es machen lassen? Denn da sind Mädchen bei mir im Büro, die sich haben spritzen lassen, und ich muss sagen ... « Oh, Gott. Ich sollte ihn besser bald vom Thema Botox abbringen, sonst sagt er noch: »Wir gehen sofort zu der Klinik und fordern dein Geld zurück.« »Ich hatte nur ein ganz kleines bisschen Botox«, sage ich eilig. »Eigentlich war ich wegen ... was ganz anderem da.« »Etwas anderem?« Luke starrt mich an. »Weswegen denn, um Gottes willen?« Mein Kopf ist völlig leer. Denk nach! Denk nach! Was lassen sich Leute machen? »Brüste«, höre ich mich sagen. »Eine Brust-OP.« Seiner entsetzten Miene entnehme ich, dass das möglicherweise nicht die richtige Richtung war. »Eine Brust-OP?«, bringt er schließlich hervor. »Du hattest eine ... « »Nein! Ich habe nur ... überlegt, ob ich eine will.« »Gott im Himmel.« Luke reibt seine Stirn. »Becky, wir müssen reden. Lass uns irgendwo reingehen. « Er nimmt meinen Arm und steuert mich mit festem Griff in die nächstbeste Bar. Sobald wir drinnen sind, dreht er sich um und nimmt mich so abrupt bei den Schultern, dass ich überrascht aufstöhne. »Becky, ich liebe dich. Egal, wie du aussiehst. Mit jeder Figur. Und der Gedanke, dass du meinst, du müsstest heimlich irgendwo hingehen ... das bringt mich um. Bitte, bitte, bitte, tu das nie wieder!« Ich hätte nicht gedacht, dass er so reagieren würde. Er sieht so aufgebracht aus, dass ich mich plötzlich ganz schrecklich fühle. Wieso habe ich mir so was Blödes ausgedacht? Wieso konnte ich nicht sagen, dass ich mich mit einer Kundin in ihrem Büro treffe? Jetzt fallen mir Millionen gute Ausreden ein, von denen keine einzige irgendwas mit Kliniken oder Brust OPs zu tun hat. »Luke, es tut mir leid«, stottere ich. »Ich hätte das nicht tun sollen. Mach dir bitte keine Sorgen ...«  »Du bist perfekt«, sagt er fast etwas zu scharf. »Du musst kein Haar an dir verändern. Keine Sommersprosse. Keinen kleinen Zeh. Und wenn ich es bin, der dir das Gefühl gibt, dass du es tun solltest ... dann ist mit mir irgendwas nicht in Ordnung.« Ich glaube, das ist das Romantischste, was Luke je zu mir gesagt hat -jemals. Ich merke, dass mir die Tränen kommen. »Es hat nichts mit dir zu tun.« Ich schlucke. »Es war ... weißt du ... der gesellschaftliche Druck und alles.«  »Weißt du überhaupt, ob diese Klinik was taugt?« Er greift nach meiner Tasche. »Lass mich mal sehen! Viele dieser sogenannten Chirurgen sind verantwortungslose Cowboys. Ich werde deinen Arzt mal unter die Lupe nehmen ...«  »Nein!« Instinktiv reiße ich meine Tasche an die Brust. »Ist schon okay, Luke. Ich weiß, dass er gut ist ... « »Nein, weißt du nicht!«, bellt er frustriert. »Das ist ein schwerer chirurgischer Eingriff, Becky! Bist du dir dessen bewusst? Und die Vorstellung, dass du ganz allein losziehst, dein Leben aufs Spiel setzt, ohne einen Gedanken an mich oder Minnie zu verschwenden..« »Ich würde doch nicht mein Leben riskieren!«, sage ich verzweifelt. »Ich würde mich nie operieren lassen, ohne es dir zu erzählen! Es ist eine von diesen kleinen Praxen, bei denen man in der Mittagspause eine Spritze kriegt.« »Du meinst, das macht es in irgendeiner Form besser?« Er gibt keinen Millimeter nach. »In meinen Ohren klingt das nur noch zweifelhafter. Was genau haben die mit dir gemacht?« Ich bin mir sicher, dass ich in der Marie Claire etwas über Brustvergrößerungen in der Mittagspause gelesen habe, nur kann ich mich nicht mehr an Einzelheiten erinnern. »Es ist minimal. Total ungefährlich.« Ich reibe an meiner Nase herum, um Zeit zu schinden. »Sie markieren den Bereich und injizieren einen speziellen Schaum in die ... mh, Kapillaren. Und die ... äh ... expandieren.« « Du meinst ... sie schwellen an?« Er starrt mir in die Augen. »SO ungefähr.« Ich versuche, selbstbewusst zu klingen. »Nur ganz wenig. Du weißt schon. Ein, zwei Größen.« Ich mache vor meiner Brust eine Geste, von der ich hoffe, dass sie realistisch ist. »Über was für einen Zeitraum denn?« Ich suche nach etwas Überzeugendem. »Ungefähr ... eine Woche.« »Deine Brüste schwellen im Laufe einer Woche an?« Die Vorstellung scheint ihn umzuhauen. Mist. Ich hätte eine Stunde sagen sollen. »Abhängig vom Körpertyp«, füge ich eilig hinzu, »und dem ... individuellen Bruststoffwechsel. Manchmal dauert es nur fünf Minuten. Da ist jeder anders. Wie dem auch sei, ich mache es ja nicht. Du hast recht. Ich hätte nie heimlich losgehen sollen.« Mit meiner aufrichtigsten Miene blicke ich zu ihm auf. »Es tut mir leid, Luke. Ich bin es dir und Minnie schuldig, mich nicht in Gefahr zu bringen, und ich habe meine Lektion gelernt.« Ich hatte gehofft, Luke würde mir daraufhin vielleicht einen Kuss geben und mir noch mal sagen, wie perfekt ich bin. Aber sein Gesichtsausdruck hat sich irgendwie verändert. Er scheint mir nicht mehr ganz so aufgebracht wie vorhin. Tatsächlich mustert er mich mit einer mehr oder minder altbekannten Miene. So was Ähnliches wie Misstrauen. »Wie heißt die Klinik?«, sagt er locker. »Fällt mir gerade nicht ein.« Ich huste. »Egal, lass uns nicht mehr davon reden. Ich habe so ein schlechtes Gewissen, Luke ...« »Du könntest einen Blick in deine Unterlagen werfen.« Er deutet auf meine Tasche. »Das mach ich später.« Ich nicke. »Wenn ich mich nicht mehr so schäme, weil ich dir solche Sorgen bereitet habe.«  Noch immer sieht er mich mit diesem Blick an. Oh, Gott. Er hat mich durchschaut, oder? Zumindest hat er kapiert, dass ich nicht in einer Klinik für Brustvergrößerungen war. »Möchtest du was trinken?«, sagt er plötzlich. »Äh ... okay«, sage ich mit Herzklopfen. »Hast du denn Zeit?« »Ich könnte eine Viertelstunde abzweigen.« Er wirft einen Blick auf seine Uhr. »Verrate es nur nicht meiner Assistentin.« »Bestimmt nicht.« Ich stoße ein leicht unnatürliches Lachen aus. »Nicht dass ich sie überhaupt kennen würde!«  »Natürlich kennst du sie.« Luke wirft mir einen verwunderten Blick zu, als er zum Tresen geht. »Bonnie. Ihr seid euch schon begegnet.« »Ach ja. Natürlich.« Ich lasse mich auf einem Stuhl nieder und löse meine verkrampften Finger von der Tasche. Diese ganze Sache mit der Geheimparty ist total stressig, und dabei habe ich gerade erst angefangen. »Auf dein Wohl.« Luke ist mit zwei Gläsern Wein wieder an den Tisch zurückgekommen, und wir stoßen an. Eine Weile schweigen wir und trinken. Luke beobachtet mich über den Rand seines Glases hinweg. Dann -als hätte er einen Entschluss gefasst -stellt er es ab. »Es gibt gute Neuigkeiten. Wir haben zwei neue Klienten. Nicht aus der Finanzwelt.« »Oooh!« Interessiert blicke ich auf. »Wen?« Lass es Gucci sein, lass es Gucci sein ... »Eine Firma für Klimatechnik. Sie bemühen sich um Investoren für ein neues Projekt zur C02-Absorption und möchten, dass wir mit an Bord kommen. Könnte interessant sein.« C02-Absorption. Hmpf. »Wunderbar!«, sage ich warmherzig. »Bravo! Was ist mit dem anderen?« »Das andere ist ein ziemlicher Coup ...«, sagt er mit funkelnden Augen. Dann zögert er, sieht mich an und nippt an seinem Wein. »Leider ist der Deal noch nicht ganz unter Dach und Fach. Ich sage es dir, wenn es so weit ist.« »Na, trotzdem herzlichen Glückwunsch.« Ich erhebe mein Glas. »Ich könnte mir vorstellen, dass du momentan ein paar gute Nachrichten gebrauchen kannst.« »Die Wirtschaftslage ist wirklich nicht so rosig.« Er verzieht das Gesicht. »Was ist mit deinem Job? Ich könnte mir vorstellen, dass ihr es in den letzten lagen auch nicht leicht hattet.« »Na ja, eigentlich ... « Schon will ich ihm von meinem tollen neuen System erzählen, mit dem die Kundinnen ihre Einkäufe vor den Ehemännern verbergen können. Doch ich bremse mich. Wenn ich es recht bedenke, sollte ich das Ganze vielleicht lieber für mich behalten. »Wir schlagen uns so durch«, sage ich stattdessen. »Du weißt schon.« Luke nickt, nimmt noch einen Schluck Wein und lehnt sich auf seinem Stuhl zurück. »Schön, dass wir einen Moment für uns haben, nur wir zwei. Du solltest öfter in diese Gegend kommen. Wenn auch nicht unbedingt für eine Schönheits-OP« Wieder wirft er mir diesen skeptischen Blick zu. Will er weiter darauf herumhacken? Oder nicht? Ich kann es wirklich nicht sagen. »Hast du die E-Mail mit den Kindermädchen gesehen?« Eilig wechsle ich das Thema. »Sind die nicht toll?« »Ja!« Er nickt. »Ich war beeindruckt.« Wir haben schon stapelweise Lebensläufe von Ultimate Nannies bekommen, und eine Bewerberin sieht besser aus als die andere! Eine spricht fünf Sprachen, eine ist über den Atlantik gesegelt, und eine hat einen Magister in Kunstgeschichte. Wenn von denen keine dafür sorgen kann, dass Minnie kultiviert und ausgeglichen wird, dann weiß ich nicht wer. »Ich muss los.« Luke steht auf, und ich greife mir meine Tasche. Wir treten auf die Straße hinaus, und Luke bleibt stehen, um mir einen Kuss zu geben. »Mach's gut, Becky.« »Bis später.« Ich nicke. Ich bin gerettet. Er will es dabei belassen. Obwohl er nie im Leben an die Busenstory glaubt. Danke, dass du mir vertraust, möchte ich als leise Nachricht in seinen Kopf senden. Ich hatte nichts Böses vor, versprochen. Ich halte die Luft an und sehe ihm hinterher, bis er um die Ecke ist. Dann sinke ich auf eine Bank in der Nähe, zücke meinen Klappspiegel und sehe mir mein Gesicht genauer an. Okay, Luke hat echt keine Ahnung von irgendwas. Es wäre ohne Weiteres möglich, dass ich Botox bekommen habe. Sieh sich einer dieses total glatte Stück unter meinem Haaransatz an. Er muss blind sein. Als ich wieder zu The Look komme, ist Jasmine am Telefon. »Ja, vierzehn Uhr, kein Problem«, sagt sie. »Bis dann.« Sie legt den Hörer auf und sieht mich mit einem Ausdruck triumphaler Begeisterung an. (Womit ich sagen will, dass sich ein Mundwinkel widerwillig zu einem Lächeln anhebt. Ich kann Jasmine mittlerweile ganz gut einschätzen.) »Tja, dein Plan hat funktioniert. Drei Kundinnen haben ihre Termine nachträglich wieder zugesagt. « »Super!« »Und eine Kundin wartet schon, fügt Jasmine hinzu. »Ohne Termin. Sie sagt, sie möchte dich -und nur dich -sprechen. Bist du wiederkommst, treibt sie sich draußen in der Verkaufsabteilung herum.« »Okay«, sage ich überrascht. »Gib mir nur einen Moment Zeit.« Ich haste in meine Garderobe, stelle meine Tasche weg, frische mein Lipgloss auf und frage mich, wer das wohl sein könnte. Oft genug kommen Kundinnen ohne Termin, also könnte es sonstwer sein. Oh, Gott, ich hoffe, es ist nicht dieses Mädchen, das wie Jennifer Aniston aussehen möchte, denn das schafft sie im Leben nicht, egal wie viele Trägerhemdchen sie auch kaufen mag ... »Rebecca.«  Eine altbekannte, herablassende Stimme unterbricht meine Überlegungen. Einen Moment lang kann ich gar nicht reagieren. Es kommt mir vor, als würde ich träumen. In meinem Nacken kribbelt es, als ich mich schließlich umdrehe ... und sie ist es. Perfekt wie eh und je, mit pistaziengrünem Kostüm, steifer Frisur, starrer Miene und ihrer Crocodile Birkin von Hermes am dürren Arm. Sie war es, schießt mir durch den Kopf. Sie war draußen vor der Kirche . »Elinor!«  bringe ich hervor. »Was für eine ...Überraschung.« Das wäre dann wohl die Untertreibung des Jahres . »Hallo, Rebecca.« Abfällig sieht sie sich in der Garderobe um, als wollte sie sagen: »Ich hätte etwas Besseres erwartet«, was echt dreist ist, weil hier gerade erst renoviert wurde. »Äh ... was kann ich für dich tun?«, sage ich schließlich. »Ich möchte ... «, Sie stockt, und es folgt langes, eisiges Schweigen. Ich fühle mich wie in einem Theaterstück, bei dem wir beide unseren Text vergessen haben. Was zum Teufel willst du hier?, möchte ich am liebsten sagen. Oder im Grunde nur: Grrrrrrrr. Dieses Schweigen wird langsam lächerlich. Wir können nicht ewig hier so stehen wie zwei Schaufensterpuppen. Elinor hat sich Jasmine als Kundin vorgestellt. Na denn. Ich werde sie wie eine Kundin behandeln . »Und hast du etwas Spezielles im Sinn?« Ich nehme meinen Notizblock hervor, als wäre sie eine Kundin wie alle anderen auch. »Etwas für den Alltag vielleicht? Wir haben ein paar neue Stücke von ChaneI, die meiner Ansicht nach zu deinem Stil passen könnten.« »Nun gut, sagt Elinor nach einer langen Pause. Was? Sie will Kleider anprobieren? Hier? Ernstlich? »Okay«, sage ich und komme mir dabei vor wie im falschen Film. »Gut. Ich werde ein paarTeile aussuchen, die dir ... äh ... gefallen könnten.« Ich gehe und sammle die Kleider zusammen, dann kehre ich in die Garderobe zurück und reiche sie Elinor. »Probier ruhig so viel an, wie du möchtest«, sage ich freundlich. »Ich warte draußen, falls du Rat oder Hilfe brauchst.« Leise schließe ich die Tür und stoße einen stillen Schrei aus. Elinor. Hier. Was zum Teufel soll das werden? Soll ich Luke davon erzählen? Das Ganze ist einfach zu schräg. Plötzlich wünschte ich, ich hätte Luke mehr gedrängt, mir zu erzählen, was genau zwischen den beiden vorgefallen ist und was sie Fürchterliches gesagt hat. Sollte ich Elinor theatralisch an den Kopf werfen, dass sie verschwinden und The Look nie wieder mit ihrer Gegenwart verfinstern soll? Da würde man mich wahrscheinlich feuern. Nach einer Minute etwa geht die Tür wieder auf, und Elinor erscheint mit einem ganzen Arm voller Kleider. Sie kann sie unmöglich anprobiert haben. So viel Zeit war nicht. »Soll ich sie dir abnehmen?« Ich zwinge mich, freundlich zu bleiben. »Ja. Sie waren zufriedenstellend.« Sie nickt. Einen Moment denke ich, ich muss sie falsch verstanden haben. »Du meinst ... du willst sie haben?«, frage ich ungläubig. »Du willst sie kaufen?« »Gut. Ja.« Ungeduldig runzelt sie die Stirn, als ginge ihr das Gespräch jetzt schon auf die Nerven. Acht Riesen für Kleider? Einfach so? Mein Bonus wird galaktisch sein! »Okay! Nun, das ist schön!« Ich versuche, mir meine Freude nicht anmerken zu lassen. »Irgendwelche Änderungen oder so?« Elinor schüttelt kaum merklich ihren Kopf. Das ist offiziell der bizarrste Termin, den ich je hatte. Wer achttausend Pfund für Kleidung ausgibt, kommt doch wenigstens einmal heraus, macht eine Pirouette und sagt: >Wie sehe ich aus?< Jasmine schiebt eine Stange voller Kleider vorbei, und ich sehe, dass sie Elinor ungläubig mustert. Man muss sie einfach gesehen haben, diese Elinor, mit ihrer blassen Haut, dem starren, stark geschminkten Gesicht und den aderigen, mit Edelsteinen überladenen Händen und ihrem stählernen, herrischen Blick. Außerdem sieht sie älter aus, wie mir plötzlich auffallt. Ihre Haut wirkt dünn und ausgetrocknet, und ich sehe ein paar graue Strähnen an ihrer Schläfe, die der Friseur offenbar übersehen hat. (Vermutlich wird er im Morgengrauen erschossen.) »Und kann ich noch etwas für dich tun? Abendgarderobe? Accessoires?« Elinor macht den Mund auf. Dann schließt sie ihn, dann macht sie ihn wieder auf. Sie sieht aus, als würde sie mit sich kämpfen und wollte etwas sagen, und ich betrachte sie voll Sorge. Wird sie von Luke anfangen? Bringt sie schlechte Neuigkeiten? Es muss doch einen Grund haben, wieso sie hier ist. »Abendgarderobe«, murmelt sie schließlich. Ja, genau. Das wolltest du bestimmt gerade sagen. Ich hole ihr sechs Abendkleider, und sie nimmt drei davon. Und noch zwei Taschen. Und eine Stola. Das Ganze wird langsam zur Farce. Sie hat ungefähr zwanzig Riesen ausgegeben und will mir immer noch nicht in die Augen sehen, will mir noch immer nicht sagen, weshalb sie gekommen ist. »Möchtest du vielleicht eine... Erfrischung?«, sage ich schließlich und gebe mir Mühe, normal und freundlich zu klingen. »Kann ich dir einen Cappuccino anbieten? Eine Tasse Tee? Ein Glas Champagner?« Uns gehen die Kleidungskategorien aus. Sie kann nichts mehr kaufen. Sie kann es nicht länger hinauszögern. Was es auch sein mag. Elinor steht nur da, den Kopf leicht geneigt, die Hände um den Griff ihrer Tasche gekrallt. Ich habe sie noch nie so kleinlaut erlebt. Fast macht es mir Angst. Und sie hat mich noch kein einziges Mal beleidigt. Sie hat weder gesagt, dass meine Schuhe schäbig sind, noch dass mein Nagellack vulgär ist. Was ist mit ihr los? Ist sie krank? Endlich, wie unter größter Mühe, hebt sie den Kopf. »Rebecca.« »Ja?«, sage ich nervös. »Was ist?« Als sie weiterspricht, tut sie es so leise, dass ich sie kaum hören kann. »Ich möchte mein Enkelkind sehen.« Oh Gott, oh Gott, oh Gott. Was soll ich tun? Auf dem Weg nach Hause dreht sich mir alles. Nie im Leben hätte ich gedacht, dass das einmal passiert. Ich hätte nicht gedacht, dass Elinor überhaupt Interesse an Minnie hat. Nachdem Minnie auf die Welt gekommen war, hat sie sich drei Monate nicht mal die Mühe gemacht, uns zu besuchen. Dann tauchte sie eines Tages plötzlich auf, mit wartendem Fahrer draußen vor der Tür, warf einen Blick in die Wiege, sagte: »Ist sie normal?«, und als wir ja sagten, ist sie wieder gegangen. Und während die meisten Leute einem hübsche Dinge wie Teddys oder niedliche Babysöckchen schenken, schickte uns Elinor eine grässliche, antike Puppe mit Ringellöckchen und gruseligen Augen wie aus einem Horrorfilm. Sie war dermaßen unheimlich, dass Mum sie nicht im Haus haben wollte, und am Ende habe ich sie bei eBay verkauft. (Also sollte sich Elinor lieber nicht nach ihrem Verbleib erkundigen.) Aber das war alles noch vor dem großen Streit zwischen Luke und ihr, denn seitdem ist ihr Name bei uns so gut wie tabu. Ungefähr zwei Monate vor Weihnachten habe ich versucht zu fragen, ob wir ihr etwas schenken wollen, und Luke hat mir fast den Kopf abgerissen. Seitdem habe ich nicht mehr gewagt, ihren Namen auch nur zu erwähnen. Natürlich bleibt mir eine einfache Möglichkeit. Ich könnte ihre Karte einfach in den Müll werfen und so tun, als hätte ich sie nicht getroffen. Die ganze Sache schlicht ausblenden. Ich meine, was könnte sie dagegen tun? Aber irgendwie ... bringe ich es nicht fertig. Ich habe Elinor noch nie so verletzlich gesehen. Während dieser angespannten Augenblicke, als sie auf meine Antwort wartete, war von Elinor, der eisigen Königin, nichts zu sehen. Ich sah nur Elinor, die einsame, alte Frau mit den faltigen Händen. Dann, sobald ich »Okay, ich frage Luke« gesagt hatte, wurde sie sofort wieder frostig und fing an, mir zu erzählen, wie lausig The Look im Vergleich zu den Läden in NewYork sei und dass die Engländer keine Dienstleistungskultur hätten und auf dem Teppich in der Garderobe seien kleine Flecken. Aber irgendwie ist sie mir doch unter die Haut gegangen. Ich kann sie nicht ignorieren. Ich kann ihre Karte nicht wegwerfen. Sie mag ein Eisklotz sein, aber sie ist Minnies Großmutter. Und Blut ist bekanntlich dicker als Wasser. Sofern durch Elinors Adern überhaupt welches fließt. Und schließlich wäre es auch möglich, dass Luke inzwischen versöhnlicher geworden ist. Allerdings muss ich das Thema ganz vorsichtig angehen. Ganz, ganz vorsichtig, als würde ich einen Olivenzweig schwenken. Mal sehen, was passiert. Am selben Abend also bleibe ich wach, bis Luke kommt, Minnie einen Gutenachtkuss gegeben, seinen Whisky getrunken und sich den Pyjama angezogen hat, bevor ich irgendetwas anschneide. »Luke ... wegen deiner Mutter«, setze ich zögerlich an. »Ich musste heute auch an Annabel denken.« Luke dreht sich um, mit sanfter Miene. »Dad hat mir heute ein paar alte Fotos von ihr gemailt. Ich zeig sie dir.« Toller Einstieg, Becky. Ich hätte deutlicher sagen sollen, welche Mutter. Nachdem er jetzt denkt, ich hätte das Thema Annabel angeschnitten, kann ich unmöglich elegant zu Elinor übergehen. »Ich dachte gerade an ... mh ... Familienbande.« Ich ändere meine Taktik. »Und vererbte Eigenschaften«, füge ich nach einer plötzlichen Eingebung hinzu. »Was meinst du, wem Minnie am ähnlichsten ist? Die Drama Queen hat sie total von Mum, und sie hat deine Augen ... wahrscheinlich hat sie von jedem in der Familie ein bisschen was, sogar ... »Ich zögere, mein Herz rast. »Sogar von deiner biologischen Mutter. Elinor.«  »Das will ich nicht hoffen», sagt Luke barsch und knallt eine Schublade zu. Okay. Er klingt kein bisschen versöhnlicher. »Aber sie ist schließlich ihre Großmutter«, beharre ich. »Minnie muss doch irgend was von ihr haben ...«  »Glaub ich nicht.« Er fällt mir ins Wort. »Wichtig ist, wer dich aufzieht. Ich war immer Annabels Sohn, nie der von dieser Frau.«  Oha. Diese Frau. Es steht noch schlechter, als ich dachte. »Okay«, sage ich hilflos. Ich kann nicht herausposaunen: »Wie wär's, wenn wir mit Minnie mal Elinor besuchen?»Nicht jetzt.«  Ich muss es vorerst dabei belassen. »Und hattest du heute noch einen guten Tag?« Ich wechsle das Thema. »Ganz okay.« Er nickt. »Und du? Gut zurückgekommen?«  »Ja, kein Problem«, sage ich unschuldig. »Ich habe mir ein Taxi genommen.« »Komische Gegend für eine Schönheitsklinik, hab ich noch gedacht«, fügt er beiläufig hinzu. »Sollte man gar nicht erwarten, im Bankenviertel. « Ich mache den Fehler, ihm in die Augen zu sehen, und entdecke ein verräterisches Funkeln. Ich wusste, dass er mir auf die Schliche gekommen ist. Mir bleibt nur, alles abzustreiten. »Spinnst du?«, erwidere ich. »Sie ist dort goldrichtig. Guck dir die ganzen ausgemergelten Banker an, die da rumrennen. Erst vor Kurzem hat eine Umfrage ergeben, dass Banker eher vorzeitig altern als alle anderen, und zwar um zwanzig Prozent.« Das habe ich mir ausgedacht, aber davon weiß Luke ja nichts, oder? Und ich wette, es stimmt. »Und weißt du was?«, füge ich hinzu, als mir ein Gedanke kommt. »In derselben Umfrage stand, dass die Leute weniger schnell altern, wenn sie sich von ihrem Chef wertgeschätzt fühlen. Und sie arbeiten besser.«  »Bestimmt.« Luke sieht auf seinen BlackBerry. »Und da stand, dass man die Geburtstagskarten für seine Angestellten immer persönlich unterschreiben soll«, sage ich. »Ist das nicht interessant? Kriegen deine Leute bei Brandon Communications auch persönliche Geburtstagsgrüße von dir?« »Mh-hm.« Luke nickt kaum merklich. Der hat ja Nerven. Am liebsten würde ich sagen: »Nein, kriegen sie nicht! Die stapeln sich alle in deinem Büro, zum unterschrieben!«  »Oh, gut.« Ich zwinge mich, gleichgültig zu klingen. »Denn offenbar macht es die Menschen richtig glücklich, wenn sie wissen, dass ihr Chef die Karte persönlich unterschrieben hat und nicht nur seine Sekretärin oder so. Es steigert ihre Endorphin-Produktion um fünfzehn Prozent.« Luke hört auf zu tippen. Ja! Ich bin zu ihm durchgedrungen. » Becky ... du liest echt einen Haufen Blödsinn. « Blödsinn? »Das ist der neueste Stand der Forschung«, sage ich würdevoll. »Man sollte meinen, du würdest dich dafür interessieren, was ein winzig kleines Ding wie eine unterschriebene Geburtstagskarte bewirken kann. Denn viele Chefs würden so etwas einfach vergessen. Aber du ja offensichtlich nicht.« Ha. Nimm das, Mister Zu-viel-zu-tun-zum-Unterschreiben. Einen Moment habe ich Luke zum Schweigen gebracht. »Faszinierend«, sagt er schließlich. Doch dann nimmt er einen Bleistift und notiert sich was auf dem Zettel, den er immer bei sich hat. Ich tue so, als würde ich nichts mitbekommen, innerlich lächle ich allerdings zufrieden. Okay, damit scheint mir dieses Thema endgültig abgehakt zu sein. Und ich möchte ganz bestimmt nicht wieder von Botox anfangen. Also kuschle ich mich mit ausgiebigem Gähnen in die Kissen, um einzuschlafen. Als ich jedoch die Augen schließe, sehe ich immer noch Elinor vor mir. Ich habe ernstlich ein schlechtes Gewissen ihretwegen, was sehr merkwürdig ist und eine ganz neue Erfahrung. Aber heute kann ich deswegen nichts mehr unternehmen. Na, gut. Ich überleg mir morgen was. Von: Bonnie Seabright Betreff: Karten Datum: 23. Januar 2006 An: Becky Brandon Luke hat alle Geburtstagskarten unterschrieben! Vielen Dank! Bonnie! Von: Becky Brandon Betreff: Re: Karten Datum: 24. Januar 2006 An: Bonnie Seabright Kein Problem! Sagen Sie einfach Bescheid, wenn Sie etwas auf dem Herzen haben. Becky xxx PS: Hatten Sie schon Gelegenheit, den Fitnessraum anzusprechen? ZENTRALBEHÖRDE  FÜR FINANZ UND WIRTSCHAFTSPOLIK 5. Stock 180 Whitehall Place London SWI Mrs. Rebecca Brandon The Pines 43 Elton Road Oxshott Surrey                                                                                     6. Februar 2006 Liebe Rebecca, vielen Dank für Ihren Brief vom 1. Februar. Der Schatzkanzler hat tatsächlich kürzlich eine Rede gehalten, in der er die Bedeutung des Einzelhandels für die Britische Wirtschaft hervorhob. Leider gibt es zu diesem Zeitpunkt weder einen spezifischen Orden des Britischen Empires noch einen weiblichen Adelstitel für »Shopping«, wie Sie vorgeschlagen haben. Sollte eine solche Ehrung eingeführt werden, will ich Ihren Namen gern weiterleiten. Aus diesem Grunde schicke ich Ihnen dankend Ihr Päckchen mit den Quittungen und Etiketten zurück, nachdem ich es mit Interesse durchgesehen habe und Ihnen darin zustimmen muss, dass diese Sammlung, wahren Einsatz für die Ankurbelung der Wirtschaft, beweist. Mit freundlichen Grüßen Edwin Tredwell Abteilungsleiter Strategierecherche   9 Eine Woche später weiß ich noch immer nicht, was ich mit Elinor machen soll. Ehrlich gesagt hatte ich so viel zu tun, dass ich ihr kaum einen Gedanken widmen konnte. Wir wurden geradezu überrannt von Kundinnen, die unseren vertraulichen Kaufservice nutzen wollten! Es ist unglaublich! Die Fernsehnachrichten mögen trostlose Bilder von menschenleeren Einkaufsstraßen zeigen ... aber die sollten mal in unsere Abteilung kommen -die brummt nämlich! Und ich habe noch mehr um die Ohren als sonst, denn heute fangt unsere neue Nanny an. Sie heißt Kyla und ist ganz fabelhaft. Sie hat ihren Abschluss in Harvard gemacht und einen Magister in Pädagogik, und sie ist ausgebildete Lehrerin für Mandarin und Tennis und Flöte und Gitarre und Gesang und ... noch irgendwas, das ich vergessen habe. Harfe vielleicht. Ursprünglich kam sie mit einer amerikanischen Familie nach Großbritannien, aber die ist wieder nach Boston zurück, und Kyla wollte lieber bleiben, weil sie nach Feierabend ihre Dissertation an der Goldsmiths University schreibt und hier drüben Familie hat. Daher möchte sie nicht mehr als drei Tage die Woche arbeiten, was uns nur recht ist. Und sie hat echte Pferdezähne. Die sind riesig. Fast wie ein Elch. Nicht, dass ihr Äußeres von Belang wäre. Warum sollte es? Ich habe keine Vorurteile. Ich bin ja schließlich kein Mensch, der auf Oberflächlichkeiten achtet. Ich hätte sie auch engagiert, wenn sie ein megastrahlendes Supermodel-Lächeln gehabt hätte. Aber trotzdem. Ihre Zähne haben mich irgendwie für sie eingenommen. Außerdem sind ihre Haare nicht mal im Entferntesten seidig. Was im Übrigen beim Vorstellungsgespräch keine Rolle spielte. Als ich Kylas seidiges Haar schrieb, meinte ich damit was total anderes, und Luke hätte mich damit keineswegs aufziehen müssen. Kylas Haare sind mir nur so nebenbei aufgefallen, aus Interesse, und sie trägt einen ausgesprochen tristen Bubikopf mit ein paar grauen Strähnen. Im Grunde ist sie also perfekt! »Julie Andrews müsste bald hier sein, oder? »Mum kommt in die Küche, wo Minnie mit Knetgummi spielt und ich etwas lustlos bei eBay herumstöbere. Sie sieht die Website und holt tief Luft. »Bist du am Shoppen, Becky?«  »Nein!« , sage ich empört. Dass ich bei eBay bin, muss doch nicht zwingend heißen, dass ich irgendwas kaufe, oder? Selbstverständlich brauche ich keine Türkisen Lacklederschuhe von ehloe, einmal getragen, nur Paypal. Ich halte mich auf dem Laufenden, was es da so gibt. Wie man sich eben über den Lauf der Welt informiert. »Ich hoffe, du hast Minnies Lederhosen griffbereit?«, fügt Mum hinzu. »Und deine Hundepfeife?«  »Ha ha«, sage ich höflich. Mum ist nach wie vor reichlich kratzbürstig, was unsere Nanny angeht. Sie war richtig eingeschnappt, als Luke und ich sie nicht bei den Vorstellungsgesprächen dabeihaben wollten. Kopfschüttelnd schlich sie draußen vor der Tür herum und musterte jede Kandidatin abschätzig von oben bis unten. Und als sie dann Kylas Lebenslauf las, mit all dem Zeug über ihre Gitarre und das Singen, war der Fall für sie klar. Sie taufte Kyla auf den Namen »Julie Andrews«, weil sie sie an besagte Schauspielerin in The Sound of Music erinnerte, und lässt seitdem kleine, ach so lustige Bemerkungen fallen. Sogar Janice macht mit und nennt Luke inzwischen »Baron von Trapp«, was echt nervig ist, weil für mich dann nur entweder die tote Ehefrau oder die Baronin übrig bleibt. »Falls sie Kleider aus Gardinen nähen will, könntest du ihr dann sagen, sie soll die aus dem blauen Zimmer nehmen?«, fügt Mum hinzu. Ich werde einfach so tun, als hätte ich sie nicht gehört. Und außerdem klingelt mein Telefon. Lukes Nummer steht auf dem Display. Wahrscheinlich will er wissen, wie es läuft. »Hi«, sage ich, als ich rangehe. »Sie ist noch nicht da.«  »Gut.« Er klingt knisterig, als wäre er im Auto. »Ich wollte dir nur etwas sagen, bevor sie kommt. Becky, du musst ihr gegenüber ehrlich sein.« Was soll das denn heißen? »Ich bin immer ehrlich!«, sage ich leicht indigniert. »Diese Nanny muss über das Ausmaß des Problems Bescheid wissen«, fährt er fort, als hätte ich nichts gesagt. »Wir haben sie aus einem bestimmten Grund eingestellt. Es hat keinen Sinn, so zu tun, als wäre Minnie eine Heilige. Wir müssen ihr sagen, was los war, welche Probleme wir hatten ... «  »Okay, Luke!«, sage ich etwas verärgert. »Du musst mir keinen Vortrag halten. Ich werde ihr alles erzählen.«  Nur weil ich bei dem Vorstellungsgespräch nicht übertrieben gesprächig war, was Minnie anging. Ich meine, was sollte ich denn machen? Über meine eigene Tochter herziehen? Also habe ich ein bisschen geflunkert und gesagt, Minnie hätte in ihrer Krabbelgruppe sechs Wochen in Folge den Preis für vorbildliches Benehmen bekommen. Und Luke meinte, es würde den ganzen Sinn und Zweck der Übung zunichtemachen, und daraufhin hatten wir eine leicht ... erhitzte Diskussion. »Wie dem auch sei, sie kommt gerade«, sage ich, als es an der Tür klingelt. »Ich muss auflegen. Bis später.« Als ich die Tür aufmache, steht Kyla da, mit einer Gitarre in der Hand, und ich muss mir ein Lachen verkneifen. Sie sieht tatsächlich aus wie Julie Andrews, nur in Jeans. Ich frage mich, ob sie die Straße heraufgetanzt ist und Have Confidence In Me gesungen hat. »Hi, Mrs. Brandon.« Schon bleckt sie die Pferdezähne zu einem freundlichen Lächeln. « »Bitte, nennen Sie mich Becky!« Ich lasse sie herein. »Minnie ist schon ganz gespannt auf Sie! Sie spielt gerade mit Knetgummi«, füge ich ein wenig selbstgefällig hinzu, als ich sie in die Küche führe. »Ich lasse sie ihren Tag gern mit etwas Kreativem beginnen.« »Wunderbar!« Kyla nickt begeistert. »Ich habe viel mit Knetgummi gearbeitet, als Eloise, mein ehemaliger Schützling, noch ganz klein war. Sie hatte ein echtes Talent dafür. Eine ihrer Kreationen wurde sogar bei einem lokalen Kunstwettbewerb ausgezeichnet.« Sie lächelt bei der Erinnerung. ,)Wir waren alle so stolz.« »Großartig!« Ich lächle zurück. »Nun, da wären wir ... « Schwungvoll öffne ich die Tür. Mist. Minnie spielt nicht mehr mit ihrer Knete. Sie lässt die Klumpen Klumpen sein und hämmert fröhlich auf mein Notebook ein. »Minnie! Was machst du da?« Ich stoße ein schrilles Lachen aus. »Das gehört Mami!« Ich nehme ihr das Notebook weg -und als mein Blick auf den Bildschirm fällt, gerinnt das Blut in meinen Adern. Sie will gerade 2.673.333.333 für die Chloe-Schuhe bieten. »Minnie!« Ich reiße ihr das Notebook weg. »Meeeiiin!«, schreit Minnie wütend. »Meeeeiiin Schuhe!«  »Macht Minnie so etwas wie Computergrafik?«, Freundlich lächelnd kommt Kyla zu mir herüber, und ich drehe das Notebook eilig weg. »Sie hat nur gerade mit ... Zahlen gespielt», sage ich etwas schrill. »Möchten Sie vielleicht einen Kaffee? Minnie, kennst du Kyla noch?« Minnie würdigt Kyla nur eines herablassenden Blickes und fängt an, die Knetgummitöpfe aneinanderzuschlagen. »Ich werde von jetzt an eigenes Knetgummi herstellen, wenn es Ihnen recht ist, Mrs. Brandon«, sagt Kyla. »Ich bevorzuge Bio-Mehl.«  Wow. Bio-Mehl, selbstgemachtes Knetgummi. Dafür hat man eine Ultimate Nanny. Ich kann es kaum erwarten, bei der Arbeit mit ihr anzugeben. »Und was glauben Sie, wann Sie mit dem Mandarin-Unterricht anfangen könnten?“, frage ich, weil Luke mich danach fragen wird. Luke ist richtig scharf darauf, dass Minnie Mandarin lernt. Dauernd erklärt er mir, wie nützlich es im späteren Leben sein wird. Und ich finde es auch echt cool, nur dass ich gleichzeitig auch ein etwas ungutes Gefühl habe. Was ist, wenn Minnie fließend Mandarin spricht und ich sie nicht verstehe? Muss ich es dann auch lernen? Dauernd stelle ich mir vor, wie die pubertierende Minnie mich auf Mandarin beschimpft, während ich dastehe und panisch im Wörterbuch herumblättere. »Es hängt von ihrer Begabung ab«, antwortet Kyla. »Bei Eloise habe ich mit achtzehn Monaten angefangen, aber sie war auch ein außergewöhnliches Kind. Besonders intelligent und aufgeschlossen. Und so folgsam.“ »Das klingt ja toll“, sage ich höflich. »Oh, Eloise ist ein wundervolles Kind.«  Kyla nickt begeistert. »Sie skyped mich immer noch jeden Tag aus Boston an, um Integralrechnung und Mandarin zu üben. Vor ihrem Leichtathletiktraining. Mittlerweile treibt sie nebenher noch Sport.«  Okay, ich habe jetzt schon bald genug von Eloise. Integralrechnung, Mandarin und Leichtathletik? Das ist doch die reine Angeberei. »Nun, Minnie ist auch sehr intelligent und aufgeschlossen. Tatsächlich ... hat sie erst neulich ihr erstes Gedicht geschrieben«, kann ich mir nicht verkneifen. »Sie hat ein Gedicht geschrieben?“ Zum ersten Mal klingt Kyla beeindruckt. Ha! Nimm das, Eloise! »Sie kann schon schreiben?«  »Sie hat es mir aufgesagt, und ich habe es für sie niedergeschrieben«, erkläre ich nach einer kurzen Pause. »Es war ein Gedicht in mündlicher Tradition.« »Sag mir dein Gedicht auf, Minnie!«, ruft Kyla Minnie fröhlich zu. »Wie ging es denn?“ Minnie starrt sie finster an und stopft sich Knete in die Nase. »Vermutlich erinnert sie sich gar nicht mehr«, sage ich eilig. »Aber es war ganz schlicht und hübsch. Es ging ... « Ich räuspere mich, um die Wirkung zu verstärken. »Warum müssen Regentropfen fallen?« »Wow.« Kyla ist überwältigt. »Das ist wunderschön. Es hat so viele Ebenen.« »Ich weiß.« Ich nicke ernst. »Wir wollen es auf unsere Weihnachtskarten drucken lassen.« »Gute Idee!«, sagt Kyla. »Wissen Sie, Eloise hat so viele wundervolle Weihnachtskarten gebastelt, dass sie für wohltätige Zwecke verkauft wurden. Dafür hat sie den Preis für Praktizierte Nächstenliebe an ihrer Schule gewonnen. Kennen Sie St. Cuthbert's in Chelsea?« St. Cuthbert's in Chelsea ist die Schule, auf die auch Ernie geht. Gott im Himmel, kein Wunder, dass er sich mies fühlt, wenn es da nur Eloisen gibt. »Fantastisch! Gibt es irgendetwas, was Eloise nicht kann?« Meine Stimme wird leicht schneidend, aber ich bin nicht sicher, ob Kyla es merkt. »Also, ich denke, heute verbringen Minnie und ich nur ein wenig Zeit zusammen, lernen uns kennen ... « Kyla gibt Minnie einen kleinen Stups unters Kinn. »Offensichtlich ist sie hochintelligent, aber gibt es sonst noch etwas, was ich über sie wissen sollte? Irgendwelche Eigenheiten? Kleine Problemchen?« Einen Moment lang lächle ich starr zurück. Ich weiß, was Luke gesagt hat. Aber nie im Leben werde ich sagen: »Um ehrlich zu sein, hat sie bei vier Weihnachtsmännern Hausverbot, und alle halten sie für einen Wildfang, und deshalb will mein Mann kein zweites Kind.«  Nicht, nachdem ich alles über die Heilige Eloise erfahren habe. Und außerdem, wieso sollte ich sie im Voraus beeinflussen? Falls sie als Nanny irgendetwas wert sein sollte, wird sie Minnies kleine Marotten schnell erkennen und selbst lösen. Ich meine, das ist doch ihr Job, oder? »Nein«, sage ich schließlich. »Keine Probleme. Minnie ist ein wunderbares, liebevolles Kind, und wir sind sehr stolz auf sie.«  »Großartig « Kyla bleckt ihre Pferdezähne zu einem breiten Lächeln. »Und isst sie alles? Gemüse? Erbsen, Möhren, Broccoli? Eloise hat mir immer so gern dabei geholfen, Risotto mit Gemüse aus dem Garten zu bereiten.«  Daran habe ich nie gezweifelt. Ich gehe davon aus, dass sie außerdem einen gottverdammten Michelin-Stern hat. »Absolut« antworte ich, ohne mit der Wimper zu zucken. »Minnie liebt Gemüse. Stimmt es nicht, Schätzchen?« Minnie hat in ihrem ganzen Leben noch keine Möhre gegessen. Als ich einmal versucht habe, welche im Shepherd's Pie zu verstecken, hat sie den Shepherd's Pie davon abgelutscht und eine Möhre nach der anderen durchs Zimmer gespuckt. Aber das werde ich vor Miss Perfect nicht zugeben. Wenn sie so eine tolle Nanny ist, kann sie Minnie ja wohl auch dazu bringen, Möhren zu essen, oder? »Also, vielleicht sollten Sie sich eine Weile zurückziehen, während Minnie und ich uns kennenlernen!«, Strahlend wendet sich Kyla Minnie zu. »Willst du mir dein Knetgummi zeigen?«  »Okay!«, sage ich. »Bis später.« Ich verziehe mich mit meiner Tasse Kaffee aus der Küche und stoße beinah mit Mum zusammen, die sich auf dem Flur herumtreibt. »Mum!«, rufe ich aus. »Spionierst du uns etwa aus«, »Kennt sie schon die Liedzeilen von >EdelweissAlle meine Entchenwüsste meine Freundlichkeit zu schätzen<. Mein Gott, wie sich die Lage doch geändert hat. »Ich weiß nicht«, sage ich nach kurzer Pause. »Vielleicht.« In meinem Kopf fliegt alles durcheinander. Es sollte nicht der Beginn einer regelmäßigen Vereinbarung sein. Es sollte etwas Einmaliges bleiben. Schon jetzt komme ich mir vor, als hätte ich Luke hintergangen. Und Annabel. Und alle. Was treibe ich eigentlich hier? Gleichzeitig jedoch werde ich dieses Bild nicht los: Minnie und Elinor starren einander schweigend an, wie hypnotisiert, mit dem gleichen Blick. Wenn ich verhindere, dass sich die bei dem wiedersehen, wiederhole ich dann das, was mit Luke passiert ist? Bekommt Minnie einen Komplex und gibt mir die Schuld daran, dass ich sie nie zu ihrer Großmutter gelassen habe? Oh, Gott, es ist alles so kompliziert. Damit komme ich nicht zurecht. Ich möchte eine ganz normale Familie, in der Omas nette Menschen sind, die am Kamin sitzen und stricken. »Ich weiß es einfach nicht«, sage ich noch einmal. »Wir müssen los.« »Auf Wiedersehen, Minnie.« Steif hebt Elinor eine Hand, wie die Queen. »Bye-bye, Lady«, sagt Minnie fröhlich. Plötzlich merke ich, dass Minnie sich die kleinen Taschen ihres Kleides mit Puzzleteilchen vollgestopft hat. Ich sollte sie herausnehmen und Elinor geben. Sonst versucht sie vielleicht ewig, ein Puzzle zu legen, das unvollständig ist. Und das wäre für sie doch wirklich nervig und frustrierend, oder? Als reifer, erwachsener Mensch sollte ich sie ihr wirklich zurückgeben. »Bis dann«, sage ich, gehe zur Tür hinaus und ziehe sie hinter mir zu. Auf dem ganzen Weg nach Hause quälen mich Schuldgefühle. Ich darf keiner Menschenseele erzählen, wo ich heute war. Niemand würde es verstehen, und Luke wäre am Boden zerstört. Oder fuchsteufelswild. Oder beides. Als ich nach Hause komme, bin ich darauf vorbereitet, dass man uns gleich ausfragt, wo Minnie und ich den ganzen Tag waren, doch Mum blickt nur von ihrem Stuhl am Küchentisch auf und sagt: »Hallo, Liebes.« Der hohe, scharfe Ton ihrer Stimme hat so etwas an sich, dass ich noch einmal hinsehe. Auch ihre Wangen sind verdächtig gerötet. »Hi, Mum. Alles okay?« Mein Blick fallt auf den dunkelblauen Strumpf in ihrer Hand. »Was machst du?« »Nun!« Anscheinend hat sie schon darauf gewartet, dass ich frage. »Eigentlich ist es nicht so schwer zu erraten! Ich stopfe deinem Vater die Socken, da wir mittellos sind und uns neue Kleidung nicht leisten können ... « »Das habe ich nicht gesagt!« Dad kommt hinter mir in die Küche marschiert. » ... und jetzt sagt er, sie sind »untragbar!«, beendet Mum ihren Satz. »Sieht das für dich »Untragbar( aus, Becky?« »Äh ...« Ich untersuche den Strumpf, den sie mir zuwirft. Ohne mich über Mums Stopfkünste erheben zu wollen -aber es sieht wirklich etwas klumpig aus, mit riesigen Maschen aus hellblauer Wolle. Ich hätte auch keine Lust, die anzuziehen. »Könntest du denn nicht ein Paar neue Strümpfe im Pound Shop kaufen?«, schlage ich vor. »Neue Strümpfe? Und wer soll das bezahlen, wenn ich fragen darf?«, kreischt Mum, als hätte ich vorgeschlagen, Dad die feinsten mundgeklöppelten Monogramm-Socken von Jermyn Street zu besorgen. »Also ... also ... die kosten nur ein Pfund ...«, »Ich habe mir welche von John Lewis bestellt«, sagt Dad mit einer Aura der Endgültigkeit. »John Lewis!« Mums Stimme wird immer schriller. »John Lewis können wir uns also leisten, ja? Ich verstehe, Graham da gibt es eine Regel für dich und eine andere für mich. Nun, solange ich weiß, wo ich stehe ...«  »Jane, sei nicht albern. Du weißt genauso gut wie ich, dass uns ein Paar Strümpfe nicht in den Ruin treiben wird ...«  Heimlich nehme ich Minnie bei der Hand und führe sie aus der Küche. Mum und Dad sind momentan so kratzbürstig. Vor allem Mum. Glücklicherweise hat Minnie auf dem Heimweg bei Pizza Express zu Abend gegessen, sodass sie nur noch in die Wanne muss und ihre Milch braucht. Und wenn sie dann im Bett ist, kann ich mich in mein geheimes E-Mail-Konto einloggen und nachsehen, ob es da schon irgendwelche Antworten gibt ... »Becky.« Lukes Stimme lässt mich zusammenfahren wie von der Tarantel gestochen. Da ist er schon, kommt die Treppe herunter. Wieso ist er denn schon so früh zu Hause? Weiß er über Elinor Bescheid? Vermutet er irgendwas? Hör auf. Bleib ruhig, Becky. Er ahnt nichts. Er hatte nur einen Termin bei einem Klienten in Brighton. »Oh, hi!«, sage ich strahlend. »Minnie und ich waren nur ... unterwegs.«  »So ähnlich habe ich es mir vorstellt.« Luke sieht mich verwundert an. »Was macht mein kleines Mädchen?« Am unteren Ende der Treppe hebt er Minnie auf und nimmt sie in die Arme. »Lady«, sagt Minnie ernst. »Lady?« Luke kitzelt sie am Kinn. »Was für eine Lady, Schätzchen?« »Lady.« Ihre Augen sind groß und ehrfürchtig. »Puzz-Ie.« Aah! Seit wann kann Minnie das Wort »Puzzle« sagen? Wieso muss sie ihr Vokabular ausgerechnet jetzt erweitern? Mit was für neuen Worten kommt sie sonst noch an? »Elinor? Ritz Hotel? Weißt du was, Papa? Heute habe ich meine andere Großmutter besucht? »Puzzle.« Plötzlich holt sie die Puzzleteilchen aus ihrer Tasche und zeigt sie Luke. »Lady.« »Wie lustig!« Ich lache auf. »Wir haben uns Puzzles in einem Spielzeugladen angesehen, und da war eins von der Mona Lisa. Bestimmt sagt sie deswegen »Puzzle« und »Lady.« »Tee«, fügt Minnie hinzu. »Und wir haben Tee getrunken«, stimme ich verzweifelt mit ein. »Nur wir. Nur wir zwei.« Sag nicht »Gro-muff«, um Gottes willen, sag nicht »Gro-muff«  ... »Klingt gut.« Luke stellt Minnie auf den Boden. »Übrigens hatte ich eben Michaels Assistentin auf der Mailbox.« »Michael!«, sage ich abwesend. »Das ist schön. Wie geht es ihm?« Michael ist einer unserer ältesten Freunde und lebt in den Staaten. Er war lange Jahre Lukes Geschäftspartner, doch inzwischen hat er sich mehr oder weniger zur Ruhe gesetzt. »Ich weiß nicht. Es war etwas seltsam.« Luke nimmt einen gelben Klebezettel und betrachtet ihn verwundert. »Die Verbindung war schlecht, aber ich glaube, seine Assistentin sagte irgendwas vom 7. April? Dass es mit der Party wohl nichts werden wird?« Party? Party? Alles erstarrt. Ich werde zur Salzsäule, blicke Luke entsetzt an. Es ist, als hämmerte mein Herz laut in meinem Kopf. Wieso ruft Michaels Assistentin an? Sie soll mir eine E-Mail schicken. Es soll doch ein Geheimnis sein. Hatte ich das nicht groß genug geschrieben? Hatte ich das nicht klar und deutlich gesagt? »Hat er uns zu irgendwas eingeladen?« Luke ist richtiggehend bestürzt. ),Ich kann mich gar nicht erinnern, dass wir eine Einladung bekommen hätten.« »Ich auch nicht«, presse ich hervor, nach -so kommt es mir vor -ungefähr sechs Stunden. »Klingt, als wäre sie irgendwie verschüttgegangen. « »Aber da könnten wir sowieso nicht hin.« Mit gerunzelter Stirn betrachtet Luke die Nachricht. »Ich glaube, an dem Tag ist irgendwas. Ein Seminar oder so. « »Okay.« Ich nicke heftig. »Okay. Na, dann lass mich doch Michael antworten!« Ich nehme Luke den Zettel weg und gebe mir alle Mühe, ihn nicht an mich zu reißen. »Lass mich das machen. Ich wollte mich sowieso mal nach seiner Tochter erkundigen. Sie kommt manchmal zu uns in den Laden, wenn sie in der Stadt ist.« »Kann ich mir vorstellen. Wohin sollte sie auch sonst gehen?« Luke schenkt mir ein entwaffnendes Lächeln, aber ich kann es nicht erwidern. »Okay ... würdest du Minnie vielleicht in die Wanne setzen?« Ich versuche, ruhig zu sprechen. »Ich muss kurz telefonieren.« »Klar.« Luke steuert die Treppe an. »Komm, Min, Badezeit!« Ich warte, bis die bei den auf halber Treppe sind, dann wetze ich raus in die Auffahrt und wähle hastig Bonnies Nummer. »Katastrophe! Desaster!« Ich warte kaum ihr Hallo ab. »Die Assistentin von einem Gast hat wegen der Party angerufen! Sie hat Luke eine Nachricht hinterlassen! Ich meine, ich konnte gerade noch das Schlimmste verhindern ... aber was wäre, wenn ich nicht richtig reagiert hätte?« »Ach, du jemine!« Bonnie klingt schockiert. »Wie bedauerlich.« »Ich habe auf die Einladung geschrieben: »Nicht anrufen!«, hasple ich hysterisch. »Wie viel klarer kann man sich denn ausdrücken? Was ist, wenn noch andere Leute anrufen? Was soll ich tun?« »Keine Panik, Becky«, sagt Bonnie. »Ich muss mal überlegen. Wie wäre es, wenn wir morgen zusammen frühstücken und uns was ausdenken? Ich sage Luke, dass ich später komme.« »Okay. Ich danke Ihnen, Bonnie. Bis morgen.« Langsam beruhigt sich mein Puls. Ehrlich, eine Überraschungsparty zu planen ist, als würde man einen Hundert-Meter-Sprint nach dem anderen hinlegen. Man sollte es an Stelle von Fitnessprogrammen anbieten. Hm. Vielleicht bin ich am Ende superfit, ohne mich anzustrengen. Das wäre cool. Ich stecke mein Handy weg und will gerade ins Haus zurück, als ich einen Motor rasseln höre. Ein großer, weißer Lieferwagen biegt in unsere Auffahrt ein, was etwas befremdlich ist. »Hi.« Zögernd trete ich nach draußen. »Kann ich Ihnen helfen?« Ein Kerl im T-Shirt lehnt sich aus dem Fenster. Er ist Ende vierzig, mit dunklem Stoppelbart und mächtigem, tätowiertem Unterarm. »Sind Sie die Frau mit der Tauschanzeige? Becky?« »Was?« Ich glotze ihn an. Was ist hier los? In letzter Zeit habe ich überhaupt keine Anzeigen mehr aufgegeben. Es sei denn, er hat diese nagelneue Prada-Sonnenbrille und will sie gegen einen blauen Missoni-Schal eintauschen. Was ich irgendwie bezweifle. »Meine Tochter hat Ihnen ein Festzelt versprochen? Nicole? Sechzehn Jahre alt?« Das ist Nicoles Dad? Plötzlich fällt mir auf, wie böse er die Stirn runzelt. Scheiße. Er sieht echt unheimlich aus. Will er mir eine Lektion erteilen, weil ich mit einer Minderjährigen Tauschhandel betrieben habe? »Also, ja, aber ... « »Gestern Abend ist die ganze Sache raus gekommen. Meine Frau wollte wissen, woher sie die Taschen hatte, die Sie ihr gegeben haben. Das hätte Nicole nicht tun dürfen.« »Ich wusste nicht, dass sie so jung ist«, sage ich eilig. »Es tut mir leid ... « »Meinen Sie, eine Markise kostet dasselbe wie ein paar Handtaschen?«, sagt er drohend. Oh, Gott. Denkt er, ich wollte ihn linken? »Nein! Ich meine ... ich weiß nicht!« Meine Stimme überschlägt sich. »Ich hatte nur gehofft, jemand hätte vielleicht ein großes Zelt, das er nicht mehr braucht, wissen Sie, das irgendwo nur rumliegt ... « Ich stocke, als mir plötzlich bewusst wird, dass meine Stimme vielleicht oben im Badezimmer zu hören ist. Verdammt. »Könnten wir bitte flüstern?« Ich trete näher an den Wagen. »Das Ganze soll geheim bleiben. Und wenn mein Mann rauskommt ... Ich kaufe auch Obst bei Ihnen, okay?« Nicoles Dad wirft mir einen ungläubigen Blick zu, dann sagt er. »Wie viel sind diese Taschen denn eigentlich wert?« »Neu kosten die etwa tausend Pfund. Ich meine, wahrscheinlich hängt es wohl davon ab, wie gern Sie Marc Jacobs mögen ... « »Tausend?« Fassungslos schüttelt er den Kopf. »Die Kleine ist doch verrückt geworden!« Ich wage nicht, etwas zu sagen, weder ihm zuzustimmen, noch ihm zu widersprechen. Wenn ich es recht bedenke, wäre es sogar möglich, dass er mich meint. Abrupt sieht Nicoles Dad mich wieder an. »Na, gut«, sagt er gewichtig. » Wenn meine Tochter Ihnen ein FestzeIt versprochen hat, liefere ich ein FestzeIt. Nur aufbauen müssen Sie es selbst. Ich kann nicht das volle Programm durchziehen. Aber momentan ist nicht viel los. Ich besorg Ihnen was.« Einen Augenblick lang kann ich gar nicht glauben, was ich da eben gehört habe. »Sie besorgen mir ein ZeIt?« Ich schlage die Hand vor den Mund. »Oh, mein Gott! Wissen Sie, dass Sie mir eben das Leben gerettet haben?« Nicoles Dad lacht kurz auf und gibt mir seine Karte. »Einer von meinen Jungs wird sich bei Ihnen melden. Geben Sie ihm den Termin durch, und sagen Sie, Cliff weiß Bescheid, dann kriegen wir das schon geregelt.« Er legt den Rückwärtsgang ein und setzt aus der Auffahrt zurück. »Danke, Cliff!«, rufe ich ihm hinterher. »Sagen Sie Nicole, ich hoffe, sie hat Freude an den Taschen!« Ich möchte tanzen! Ich möchte quieken! Ich habe ein Festzelt! Und es hat keine Unsummen gekostet, und alles ist geregelt. Ich wusste, dass ich es schaffen kann! ZENTRALBEHÖRDE FÜR FINANZ UND WIRTSCHAFTSPOLITIK 5. Stock 180 Whitehall Place London SWI Mrs. Rebecca Brandon The Pines 43 Elton Road Oxshott Surrey                                                                                          28. Februar 2006 Liebe Rebecca, vielen Dank für Ihre prompte Antwort. Es ist sehr entgegenkommend von Ihnen, so bereitwillig Ihre Zustimmung zu geben. Leider enthält die Britische Zeitschrift für Geldwirtschaft keine Illustrationen und hat daher weder einen »Fotoredakteur« noch einen »Stylisten«, wie Sie vermuten. Daher sehe ich mich außerstande, die Bilder mit dem Missoni-Mantel, dem Gürtel und den Stiefeln zu verwenden, die Sie freundlicherweise beigefügt haben, und sende diese anbei dankend zurück. Mit freundlichen Grüßen Edwin Tredwell Abteilungsleiter Strategierecherche 12 Diesmal haben wir uns ein Restaurant im Zentrum von London gesucht, weit weg von Lukes Büro. Als ich ankomme, sehe ich Bonnie schon an einem Ecktisch sitzen, perfekt gekleidet im korallenfarbenen Kostüm mit den Perlenohrringen, die sie auf mein Betreiben hin zum Geburtstag von Luke bekommen hat. Es sieht aus, als säße sie dort ganz gern allein, erhobenen Hauptes, vor einer Tasse Tee. Als hätte sie schon Millionen Mal allein in Restaurants gesessen. »Die Ohrringe sehen toll aus!«, sage ich, als ich mich auf die Bank ihr gegenüber setze. »Die sind bezaubernd!«, sagt Bonnie und berührt einen davon. »Ich hoffe doch, mein Dank hat Sie erreicht. Wie um alles in der Welt haben Sie das geschafft?« »Ich war ganz vorsichtig«, sage ich stolz. »Ich habe sie im Internet gefunden und Luke gesagt, ich wollte sie für mich. Dann habe ich gesagt: Oder lieber doch nicht! Sie würden besser zu jemandem mit anderem Teint passen. Vielleicht zu jemandem wie deiner Assistentin Bonnie!«  Ich werde nicht erwähnen, dass ich es etwa fünf Mal sagen musste, bis Luke endlich von seinem Notebook aufgeblickt hat. »Sie sind sehr geschickt.« Bonnie seufzt. »Leider habe ich mit Ihrem Fitnessraum im Keller noch kein Glück gehabt. Ich habe versucht, das Gespräch darauf zu lenken ... «  »Ach, darum brauchen Sie sich keine Gedanken mehr zu machen. Das Haus ist momentan sowieso kein Thema mehr.« Ich nehme die Speisekarte in die Hand, dann lege ich sie fahrig wieder weg. »Ich mache mir mehr Sorgen um die Party. Können Sie glauben, was da gestern Abend passiert ist?« »Die Menschen nehmen es nicht so genau, wenn es um Einladungen geht.«  Missbilligend schnalzt Bonnie mit der Zunge. »Sie überfliegen die Anweisungen nur.« »Was soll ich machen?« Ich hoffe, Bonnie hat sich schon etwas Cleveres einfallen lassen, und tatsächlich nickt sie langsam. »Ich habe einen Vorschlag. Wir kontaktieren jeden Gast persönlich, weisen noch einmal darauf hin, dass die Party eine Überraschung sein soll, und verhindern so weitere Missgeschicke.« »Ja«, sage ich langsam. »Ja, das ist eine gute Idee. Ich nehme die Liste morgen mit zur Arbeit.« »Darf ich vorschlagen, Becky, dass ich den telefonischen Kontakt herstelle?«, sagt Bonnie sanft. »Wenn Sie es tun, vermitteln Sie den Eindruck, Sie seien die Kontaktperson. Sie sollten jedoch gerade nicht die Kontaktperson sein. Wir müssen Sie so weit wie möglich von den Gästen fernhalten, um weitere Ausrutscher zu vermeiden.« »Aber das wäre doch viel zu viel Arbeit! Das kann ich Ihnen nicht zumuten!« »Es macht mir nichts aus. Wirklich, ich tue es gern.« Sie zögert. »Das macht sogar Spaß!« »Tja ... danke.« Ein Kellner wartet auf uns, und ich bestelle einen doppelten Cappuccino. Ich brauche Koffein. Diese Party macht mehr Arbeit, als ich dachte. Meine Hände tun mir weh, nachdem ich Plastiktüten für Troddeln zurechtgeschnitten habe (ich bin bei 72), und ständig kämpfe ich gegen meine Paranoia, dass Luke über einen meiner Ordner mit den Notizen stolpert. Gestern Nacht habe ich geträumt, dass er nach Hause kommt, während ich gerade seinen Geburtstagskuchen vorbereite, in einer gigantischen Rührschüssel, und ich musste so tun, als machte ich Frühstück, und er sagte immer nur: »Ich möchte aber keinen Kuchen zum Frühstück.«  Was ein dämlicher Traum ist, denn nie im Leben backe ich Geburtstagskuchen für zweihundert Leute. Oh, Gott. Das muss mit auf meine Liste. Geburtstagskuchen bestellen. »Becky, Liebes, entspannen Sie sich«, sagt Bonnie, als könnte sie meine Gedanken lesen. »Den einen oder anderen Schock wird es sicher noch geben. Aber mir scheint, Sie haben diese Party bemerkenswert gut geheim gehalten. Und Luke hat auch sehr loyale Mitarbeiter«, fügt sie leise hinzu. »Die werden liebend gern die Gelegenheit wahrnehmen, ihm ihre Dankbarkeit zu zeigen«  »Oh!« Ich leuchte ein wenig vor Stolz. »Nun ... das ist wirklich schön.«  »Ich habe noch nie einen Chef erlebt, der sich mit derartiger Entschiedenheit für seine Leute einsetzt. Immer wenn es einen schwierigen Klienten oder eine Beschwerde gibt, besteht Luke darauf, den Termin persönlich wahrzunehmen. Er sagt, sein Name steht an der Tür, und dann sollte er auch die Schläge einstecken. Andererseits kann das auch eine Schwäche sein«, fügt sie nachdenklich hinzu und nimmt einen Schluck Tee. »Ich denke, er sollte vermutlich mehr delegieren. « Unwillkürlich sehe ich Bonnie mit neuen Augen. Wie viel kriegt sie mit, während sie still in der Ecke sitzt und alle beobachtet? »Dieser neue Klient mit dem CO2-Dingsbums klingt cool«, sage ich in der Hoffnung, etwas mehr aus ihr herauszubekommen. »Oh, ja. Luke war ganz begeistert davon. Natürlich hat er versucht, das Ganze herunterzuspielen... aber ich weiß immer, wann ihm ein Termin wichtig ist ... «, plötzlich entfährt Bonnie ein kleines Lächeln, » ... weil er dann seine Krawatte neu bindet.« »Ja!«, rufe ich begeistert. »Das macht er zu Hause auch!«  Wir lächeln uns an, und ich nehme einen Schluck von meinem Cappuccino. In gewisser Weise fühlt es sich seltsam an, hinter seinem Rücken über Luke zu sprechen. Aber andererseits ist es auch wirklich schön, jemanden zu haben, mit dem ich es kann. Niemand sonst kennt Lukes Marotten. »Waren Sie immer mit den Frauen Ihrer Chefs befreundet?«, rutscht mir heraus. »Oder mit den Ehemännern?«  »Eigentlich nicht.« Sie wirkt fast amüsiert. »Ich glaube kaum, dass ich jemand war, mit dem sie ... freundschaftlich verbunden sein wollten.« Ich habe Bilder von Lady Zara Forrest gesehen, der Frau von Bonnies vorherigem Arbeitgeber. Sie leitet eine Wellness-Oase in Notting Hill und gibt ständig Interviews. Ich kann mir nicht vorstellen, wie sie sich mit Bonnie trifft und mit ihr plaudert. »Na, wahrscheinlich ist es für Sie normaler, mit anderen in der Firma befreundet zu sein, sage ich eilig. »Die Atmosphäre scheint ja wirklich gut zu sein ... « »Ja«, sagt Bonnie. »Obwohl ich natürlich als Lukes persönliche Assistentin in einer schwierigen Position bin. Ich muss in manchen Fragen vorsichtig sein. Von daher ist es nur natürlich, dass zwischen mir und den anderen eine gewisse Distanz herrscht.« Sie lächelt. »Das war schon immer so.« Sie ist einsam. Es trifft mich wie ein Schlag. Natürlich könnte sie ein ausschweifendes Privatleben haben, aber irgendwie glaube ich es nicht. Luke hat mir mal erzählt, dass sie an Wochenenden meistens zur Verfügung steht, dass sie ihre E-Mails immer innerhalb einer Stunde beantwortet und wie hilfsbereit sie ihm gegenüber ist. Für ihn mag das großartig sein. Aber was ist mit ihr? »Tja, ich bin wirklich froh, dass wir uns etwas besser kennengelernt haben«, sage ich herzlich. »Ich habe Ihnen ja gesagt, dass wir ein gutes Team sein würden. Übrigens arbeite ich gerade an dem Problem mit der Klimaanlage.« Es ist viel zu kalt in Lukes Büro. Kein Wunder, dass Bonnie bibbert. »Danke!« Sie zeigt ihre Grübchen. »Und kann ich denn noch etwas für Sie tun?« »Da ist bestimmt noch was ... « Ich nehme drei Schluck Cappuccino und denke darüber nach. »Oh, ja! Kennen Sie dieses Shower-Gel, das Luke benutzt? Riecht das nicht grausam?« »Shower-Gel?« Bonnie wirkt etwas hilflos. »Also, dazu kann ich wirklich nichts sagen ... « »Sie müssen es doch gerochen haben. Dieses eine mit Rosmarin und Ginseng? Ich hasse es, aber er sagt, es weckt ihn auf. Also, wenn Sie auch sagen würden, dass Sie es nicht leiden können, benutzt er es vielleicht nicht mehr.« »Becky, Liebes.« Bonnie starrt mich an. »Ich kann unmöglich etwas derart Persönliches wie ein Shower-Gel erwähnen.« »Doch, das könnten Sie! Natürlich könnten Sie das! Glauben Sie, Luke respektiert Ihre Ansichten zu allem. Er wäre nicht beleidigt. Und dieser blaue Schlips mit den kleinen Autos darauf. Könnten Sie ihm sagen, dass der auch schrecklich ist?« »Becky, wirklich ... « »Kommen Sie.« Ich lächle sie gewinnend an. Ehefrau an Assistentin. »Bestimmt können Sie diesen Schlips auch nicht leiden.« »Nun ... « Bonnie tut sich schwer. Kein Wunder. Ich wickle meinen kleinen Keks aus, knabbere daran und überlege. Da kommt mir noch eine ganz andere Idee. Es gäbe da etwas, wie sie in meinem Sinne Einfluss auf Luke nehmen könnte. Vielleicht. »Bonnie ... sind Sie ein Einzelkind?«, sage ich schließlich. »Nein, ich habe einen Bruder.« Perfekt! »Könnten Sie vielleicht ... falls sich die Gelegenheit ergeben sollte, Ihren Bruder Luke gegenüber erwähnen und ihm sagen, wie viel es Ihnen bedeutet, kein Einzelkind zu sein? Und ihn vielleicht fragen, ob er noch mehr Kinder haben möchte und wie schön es doch wäre, wenn es so wäre? Und dass er mal einen Schlag reinhauen sollte?« Bonnie sieht aus wie vom Donner gerührt. »Becky! Das geht mich wirklich nichts an ... ich kann doch nicht ernstlich ...« »Doch, das können Sie!«, sage ich aufmunternd. »Ich hätte so gern noch ein Baby, und ich weiß, dass er es auch will, tief in seinem Inneren, und auf Sie würde er hören.« »Aber ... « »Nur falls sich eine Gelegenheit ergeben sollte“, sage ich beschwichtigend. »Falls es im Gespräch aufkommt. Wollen wir die Rechnung ordern?«  Als wir das Restaurant verlassen, drücke ich Bonnie spontan an mich. »Vielen Dank für alles, Bonnie, Sie sind die Größte!“ Ich hätte mich schon vor Jahren mit Bonnie zusammentun sollen. Als Nächstes sage ich ihr, sie soll Luke dazu bringen, dass wir nach Mauritius fliegen. »Keine Ursache.«  Sie sieht nach wie vor ein wenig verstört aus, aber sie lächelt mich an. »Und machen Sie sich bitte keine Gedanken um die Party. Ich bin mir sicher, dass Luke nichts ahnt.«  »Da bin ich mir nicht so sicher.« Leicht paranoid suche ich die Straße ab. »Hatte ich Ihnen erzählt, dass ich ihn neulich nach unserem Lunch zufällig getroffen habe? Ich habe ihm gesagt, ich wollte mir Botox spritzen lassen, aber er hat mir nicht geglaubt, und jetzt guckt er mich dauernd so komisch an, als wüsste er, dass ich etwas im Schilde führe ... »Ich stutze, als ich Bonnies Miene sehe. »Was?« »Jetzt verstehe ich!«, ruft sie. Sie zieht mich beiseite, aus dem Strom der Menschen auf dem Bürgersteig. »Becky, an dem Tag kam Luke ins Büro zurück und fragte mich, ob in der Gegend irgendwelche Designerläden aufgemacht hätten. Ich nahm an, es handelte sich um eine Art Recherche. Aber jetzt frage ich mich, ob er dachte, Sie wären heimlich ... « Taktvoll lässt Bonnie den Satz verklingen. »Shoppen?«, sage ich ungläubig. »Er dachte, ich war shoppen?« »Es wäre möglich, meinen Sie nicht?« Sie zwinkert mir zu. »Das wäre doch eine gute Tarnung.«  »Aber ... aber Sie verstehen nicht! Ich habe versprochen, nicht mehr shoppen zu gehen! Wir haben eine Vereinbarung, seit diese Bank pleitegegangen ist! Und ich halte mich total daran!« Meine Gedanken rasen vor Entrüstung. Dachte Luke, ich würde mein Versprechen brechen und mich hinter einem Botox-Märchen verstecken? Hat er deshalb meine Tasche so misstrauisch beäugt? Am liebsten würde ich in sein Büro marschieren, ihm meine Tasche wie einen Fehdehandschuh hinwerfen und rufen: »Rebecca Brandon, geborene Bloomwood, hält ihr Wort, Sir!«  Und ihn zum Duell herausfordern, zum Beispiel. »Ach, du je.« Bonnie sieht besorgt aus. »Becky, es ist nur eine Mutmaßung ...«  »Nein, Sie haben sicher recht. Er denkt, ich war shoppen. Na, gut. Soll er doch.«  Entschlossen hebe ich mein Kinn. »Ich nutze es als Tarnung.« Denn wenn Luke den Verdacht hegt, dass ich heimlich shoppen gehe, wird er kaum darauf kommen, dass ich heimlich eine Party plane. Als ich mich auf den Weg mache, bin ich wild entschlossen. Wenn Luke meint, dass ich »shoppen« war ... dann soll er sein »Shopping« auch kriegen. An mir soll's nicht liegen. Als ich an diesem Abend Lukes Schlüssel im Schloss höre, bin ich bereit. Ich trage einen knallgrünen Pulli, den ich noch nie anhatte (totaler Fehlkauf, was habe ich mir nur dabei gedacht?) und an dem noch das Preisschild hängt. Dazu trage ich die Lederjacke, die ich im Schlussverkauf erstanden habe, das Whistles-Label sorgsam wieder befestigt, sodass es herausragt, dazu ein Tuch, eine Kette und einen orangefarbenen Gürtel, alles bisher ungetragen. Ich meine, ich hatte vor, die Sachen zu tragen. Bestimmt. Wenn der richtige Moment gekommen wäre. Ich habe ein paar coole Einkaufstüten vom Schrank geholt und unter dem Küchentisch verstaut, sodass sie ein wenig herausragen. Ich habe etwas Seidenpapier mit Prada-Logo in den Mülleimer gestopft und hinter der Mikrowelle ein paar alte Quittungen versteckt. Minnie läuft mir in Pyjama und Morgenmantel hinterher, isst ein Honigbrot und beobachtet mich staunend. Als ich höre, dass Luke sich der Küche nähert, mache ich: »Schscht!«, für alle Fälle. »Schscht!«, antwortet sie sofort und legt den Finger an die Lippen. »Schscht, Mami!« Sie macht ein so ernstes Gesicht, dass ich lachen muss. Dann gehe ich in der Küche in Stellung, prüfe mein Spiegelbild wie eine echte fashionista im Edelstahlkühlschrank. Als Luke hereinkommt, zucke ich glaubwürdig zusammen. »Du hast mich erschreckt, Luke!«, sage ich und reiße mir eilig die Jacke vom Leib, wobei ich darauf achte, dass der Whistles-Anhänger zu sehen ist. »Ich hab nur gerade ... äh ... Das hat nichts zu bedeuten. Rein gar nichts!« Ich knülle die Jacke zu einer Kugel zusammen und werfe sie hinter mich, während Luke mir einen verwunderten Blick zuwirft. Er geht zum Kühlschrank und holt sich ein Bier. Oh. Vielleicht hätte ich die Quittungen in den Kühlschrank legen sollen. Nein. Zu offensichtlich. »Schscht, Daddy!«, sagt Minnie bedeutungsvoll, mit ihrem Finger an den Lippen. »Steckspiel.« Das -meint sie -habe ich gerade gemacht. (Steckspiel ist Minnies Liebstes. Allerdings nicht das normale »Verstecken«. Man zählt nur bis drei, und man muss ihr vorher sagen, wo man sich verstecken will. Und wenn sie dran ist, versteckt sie sich immer an derselben Stelle -mitten im Zimmer.) »Ich spiel gleich mit dir, Schätzchen.« Luke nimmt einen Schluck Bier. »Interessanter Pulli«, sagt er mit hochgezogenen Augenbrauen. Was man ihm nicht verdenken kann, denn ich sehe aus wie ein knallgrüner Lutschbonbon. »Der ist uralt!«, sage ich sofort. »Ich habe ihn schon vor Ewigkeiten gekauft. Du kannst Suze fragen. Ruf sie an, wenn du mir nicht glaubst! Mach ruhig!« »Becky ... « Luke lacht auf. »Ich habe nie gesagt, dass ich dir nicht glaube. Wieso regst du dich gleich so auf?« »Weil ... nur so!« Ich schiebe mich zum Tisch hinüber und trete auffällig unauffällig die Einkaufstüten darunter. Ich sehe Luke an, dass er sie entdeckt hat. Ha! Volltreffer! »Und was hast du heute so getrieben?«, sagt er ganz locker. »Nichts! Ich war nirgendwo! Mein Gott, du fragst mich aber auch immer aus, Luke!« Ich stopfe die Halskette in meinen Pulli, als wollte ich sie verbergen. Luke klappt den Mund auf, als wollte er was sagen, dann scheint er sich dagegen zu entscheiden und nimmt die Flasche Bier aus ihrer Plastikhülle. Wirf sie in den Mülleimer ... sage ich ihm telepathisch. Mach schon, wirf sie in den Müll ... Ja! Ich sollte Choreografin werden. In dem Moment, als Luke den Mülleimer herausziehen will, hechte ich mit grandiosem Timing durch die Küche und lege meine Hand auf den Griff, um ihn aufzuhalten. »Ich mach das schon, sage ich superbeiläufig. »Keine Sorge.« »Ich werfe sie nur in den Plastikmüll.« Luke wirkt verwundert. »Ich mach es trotzdem!«, stoße ich fieberhaft hervor. »Becky, nun lass mal.« Er zieht den Mülleimer hervor, und das Seidenpapier mit dem Prada-Logo weht hervor, als wollte es rufen: »Hier bin ich! Sieh mich an! Prada!«  Einen Moment lang sagt keiner von uns ein Wort. »Huch, wie kommt das denn dahin?«, sage ich mit hoher, unnatürlicher Stimme und stopfe es wieder hinein.« Das ist alt. Echt total alt. Ich meine, ich kann mich nicht mal mehr erinnern, wann ich zuletzt bei Prada war. Oder was ich bei Prada gekauft habe. Oder irgendwas!« Ich stolpere über meine Worte und habe noch nie im Leben schuldiger geklungen. Tatsächlich fühle ich mich langsam schuldig. Ich fühle mich, als hätte ich eben meine Kreditkarte überzogen und das ganze Zeug unter dem Bett versteckt. »Becky ... «, Luke streicht mit der Hand über seine Stirn. »Was ist hier eigentlich los?«  »Nichts!« »Nichts.« Skeptisch sieht er mich an. »Überhaupt nichts.« Ich versuche glaubwürdig und entschlossen zu klingen. Obwohl ich mich langsam frage, ob ich es vielleicht übertreibe. Vielleicht kann ich ihm nichts vormachen. Vielleicht denkt er: »Na, einkaufen war sie offensichtlich nicht, was könnte sie also zu verbergen haben, aha, ich weiß: eine Party«  Ein paar Augenblicke sehen wir uns nur an. Ich atme schwer, und meine Hand krampft sich nach wie vor um den Griff der Mülleimertür. »Funden?« Minnies Stimme bricht den Bann. Sie steht mitten in der Küche und presst die Hände fest auf ihre Augen, um sich zu verstecken. »Becky!« Dad erscheint in der Tür. »Liebes, komm doch mal. Du kriegst eine Lieferung.« »Oh«, sage ich verdutzt. Ich erwarte keine Lieferung. Was könnte das sein? »Funden?« Minnies Stimme bekommt etwas Klagendes. »Funden?« »Hab dich gefunden!«, sagen Luke und ich eilig im Chor. »Gut gemacht, Minnie!«, füge ich hinzu, als sie die Augen öffnet und uns stolz anstrahlt. »Sehr gut versteckt! Von wem ist die Lieferung?« Ich wende mich wieder Dad zu. »Es ist ein Lieferwagen von fashionpack.co.uk«, sagt Dad, als wir ihm in die Diele folgen. »Offenbar eine ganze Menge Zeug.« »Wirklich?« Ich runzle die Stirn. »Das kann nicht stimmen. Ich habe nicht bei fashionforward.com eingekauft. Jedenfalls nicht in letzter Zeit.«  Ich sehe, dass Luke mich fragend ansieht, und werde rot. »Hab ich nicht, okay? Das muss ein Irrtum sein.« »Lieferung für Rebecca Brandon«, sagt der Fahrer, als ich zur Haustür komme. »Wenn Sie hier unterschreiben würden ... «  Er hält mir ein elektronisches Gerät und einen Stift hin. »Moment mal! Ich unterschreibe überhaupt nichts. Ich habe bei fashionforward.com nichts bestellt! Ich meine, ich kann mich nicht erinnern, etwas bestellt zu haben ...«  »Doch, haben Sie.“ Er klingt gelangweilt, als hätte er das schon öfter gehört. »Sechzehn Teile.«  »Sechzehn?“ Mir fällt die Kinnlade herunter.«  »Ich kann Ihnen die Quittung zeigen, wenn Sie wollen.«  Er verdreht die Augen und macht sich auf den Weg zum Lieferwagen. Sechzehn Teile? Okay, da stimmt was nicht. Wie kann ich sechzehn Teile bei fashionforward.com bestellt haben, ohne mich daran zu erinnern? Kriege ich langsam Alzheimer? Eben habe ich noch so getan, als hätte ich mich des Shoppens schuldig gemacht, und jetzt wird alles wahr, wie in einem bösen Traum. Wie kann das sein? Habe ich es irgendwie wahr gemacht? Plötzlich sehe ich, dass Luke und Dad sich über meinen Kopf hinweg ansehen. »Ich habe nichts gemacht!“, sage ich erschüttert. »Ich habe nichts bestellt! Das muss irgendwie ein komischer Computerfehler sein.«  »Becky, nicht schon wieder ein Computerfehler«, sagt Luke geknickt. »Das ist keine Ausrede! Es stimmt! Ich hab das Zeug nicht bestellt.«  »Na ja, irgendjemand muss es ja offensichtlich ...« »Vielleicht hat ein Fremder meine Daten benutzt. Oder vielleicht war ich im Schlaf shoppen!«, sage ich. Oh, mein Gott. Also das klingt total einleuchtend. Es erklärt alles. Ich bin insgeheim eine Schlafshopperin. Ich sehe mich förmlich, wie ich leise aus meinem Bett steige, mit glasigem Blick die Treppe hinuntergehe, mich am Computer einlogge, meine Kreditkartendaten eintippe ... Aber wieso habe ich dann nicht diese tolle Tasche von Net-a Porter gekauft, nach der ich mich förmlich verzehre? Hat mein schlafshoppendes Ich denn keinen Geschmack? Könnte ich meinem schlafshoppenden Ich eine Nachricht schicken? »Im Schlaf shoppen?« Luke zieht eine Augenbraue hoch. »Das ist neu.« »Nein, ist es nicht«,  erwidere ich. »Schlafwandeln ist ein weitverbreitetes Leiden, wie du feststellen wirst, Luke. Und ich vermute, Schlafshoppen ist es auch.«  Je mehr ich über diese Theorie nachdenke, desto sicherer bin ich, dass sie stimmt. Es würde so vieles in meinem Leben erklären. Tatsächlich bin ich direkt etwas genervt von all den Leuten, die mir im Laufe der Jahre das Leben schwer gemacht haben. Ich wette, sie würden sich ganz anders äußern, wenn sie wüssten, dass ich an einer derart seltenen Krankheit leide. »Es ist sehr gefährlich, eine Schlafshopperin zu wecken, während sie sich in Trance befindet«, teile ich Luke mit. »Sie könnte glatt einen Herzschlag kriegen. Man muss sie einfach machen lassen.« »Verstehe.« Lukes Mundwinkel zuckt. »Wenn ich also sehe, wie du online im Pyjama die komplette Jimmy-Choo-Kollektion kaufst, soll ich einfach an mich halten und dich machen lassen, weil du sonst einen Herzinfarkt kriegst?« »Nur wenn es mitten in der Nacht ist und ich so einen glasigen Blick habe«, erkläre ich. »Mein Liebling.« Luke lacht kurz auf. »Es ist immer mitten in der Nacht, und du hast immer einen glasigen Blick.« Der hat vielleicht Nerven. »Ich habe keinen glasigen Blick!«, gebe ich wütend zurück, als der Mann vom Lieferwagen wiederkommt. »Hier, bitte schön.« Er hält mir einen Zettel hin. »Sechzehn Miu-Miu-Mäntel in Grün.« »Sechzehn Mäntel?« Ungläubig starre ich auf das Blatt Papier. »Wozu um alles in der Welt sollte ich sechzehn Mäntel bestellen, noch dazu alle in derselben Farbe und Größe?« Wenn ich ehrlich sein soll, habe ich mir diesen Mantel im Internet angesehen und sogar in meinen Warenkorb gelegt, aber ich habe doch nicht ernstlich ... Ich erstarre mitten im Gedanken. Plötzlich sehe ich ein schreckliches Bild vor mir. Mein Notebook, offen in der Küche. Die Website aufgerufen. Minnie klettert auf einen Stuhl ... Oh, mein Gott, das kann sie doch nicht gemacht haben! »Minnie, hast du die Tasten auf Mamis Computer gedrückt?« Entsetzt starre ich sie an. »Das ist nicht dein Ernst.« Luke versteht die Welt nicht mehr. »Das könnte sie doch gar nicht!« »Könnte sie wohl! Sie kann ganz leicht eine Maus bedienen. Und fashionforward hat einen One Click Button. Wenn sie nur oft genug auf die Tastatur einschlägt und ihn angeklickt ... « »Du meinst, Minnie hat das alles bestellt?« Dad sieht genauso perplex aus. »Tja, wenn ich es nicht war und Luke es nicht ... « »Wo soll ich die Sachen hinstellen?«, unterbricht uns der Paketbote. »Drinnen?« »Nein!«  Ich will sie nicht haben! Sie müssen sie wieder mitnehmen.« »Kann ich nicht.« Er schüttelt den Kopf. »Wenn Sie das Zeug retournieren wollen, müssen Sie es annehmen, das entsprechende Formular ausfüllen und dann die Ware zurückschicken.« »Aber wozu soll ich sie annehmen?«, sage ich frustriert. »Ich will sie nicht.« »Also wenn Sie das nächste Mal etwas nicht wollen, darf ich Ihnen dann vorschlagen, dass Sie es vielleicht gar nicht erst bestellen?«, sagt der Bote und lacht heiser über seinen eigenen Scherz. Gleich darauf hebt er eine große Kiste hinten aus dem Lieferwagen. Sie ist etwa so groß wie Dad. »Sind das alle? Ist ja gar nicht so schlimm, wie ich dachte ... « »Das ist nur einer«, korrigiert mich der Mann. »Die Dinger kommen einzeln verpackt und werden mit Kleiderständer geliefert.« Schon hievt er den nächsten Karton heraus. Entsetzt starre ich ihn an. Was sollen wir mit sechzehn Mänteln in riesigen Kartons anfangen? »Du bist ein unartiges kleines Mädchen, Minnie.« Ich kann es mir nicht verkneifen, meine Verzweiflung an ihr auszulassen. »Man bestellt keine Miu-Miu-Mäntel im Internet! Und ich werde ... ich werde ... dir diese Woche dein Taschengeld streichen!« »Meeeiiin Karton!« Sehnsüchtig greift Minnie nach den Kisten, noch immer mit ihrem Honigbrot in der Hand. »Was ist das alles?« Mum erscheint in der Haustür. »Was sind das für Sachen?« Sie deutet auf die mächtigen Kartons. Sie sehen aus wie aufrecht stehende Särge, so in Reih und Glied. »Es gab ein Missverständnis«, sage ich eilig. »Die bleiben nicht hier. Ich schicke sie so bald wie möglich zurück.« »Das sind acht. ... « Der Mann setzt den nächsten Karton ab. Ich sehe ihm an, dass er seinen Spaß hat. »Insgesamt sind es sechzehn«, sagt Dad. »Vielleicht können wir ein paar davon in der Garage unterstellen.« »Aber die Garage ist voll!«, sagt Mum. »Oder im Esszimmer ... « »Nein.« Mum schüttelt heftig den Kopf. »Nein. Nein. Becky, jetzt reicht es aber wirklich. Hörst du mich? Es reicht! Wir können nicht noch mehr von deinem Zeug unterbringen!« »Es ist doch nur für ein, zwei Tage ... « »Das sagst du immer! Das hast du auch gesagt, als du hier eingezogen bist! Wir können nicht mehr! Wir kommen damit nicht mehr zurecht!« Sie klingt hysterisch. »Es sind doch nur noch zwei Wochen, Jane.« Dad nimmt sie bei den Schultern. »Jetzt komm schon! Zwei Wochen. Wir schaffen das. Wir zählen die Tage, wie beim Countdown, ja? Ein Tag nach dem anderen. Okay?« Es ist, als spräche er ihr während der Wehen Mut zu oder im Kriegsgefangenenlager. Wenn wir bleiben, ist das also wie in Kriegsgefangenschaft? Plötzlich beutelt mich die Scham. Ich kann es Mum nicht länger zumuten. Wir müssen woandershin. Wir müssen ausziehen, bevor Mum total durchdreht. »Es sind keine zwei Wochen mehr!«, sage ich hastig. »Es sind ... zwei Tage! Ich wollte es dir schon erzählen. Wir ziehen in zwei Tagen aus!« »In zwei Tagen?«, wiederholt Luke ungläubig. »Ja, in zwei Tagen!« Ich meide seinen Blick. Zwei Tage müssten reichen, um zu packen. Und eine Mietwohnung zu finden. »Was?« Mum hebt ihren Kopf von Dads Brust. »Zwei Tage?« »Ja! Urplötzlich hat sich alles mit dem Haus geklärt, und wir ziehen aus. Ich wollte es dir schon erzählen.« »Ihr zieht wirklich in zwei Tagen aus?«, stammelt Mum, als wenn sie es nicht glauben könnte. »Versprochen.« Ich nicke. »Halleluja«, sagt der Paketbote. »Wenn Sie vielleicht unterschreiben würden, Madam?« Plötzlich dreht er sich zu seinem Lieferwagen um. »He! Junges Fräulein!« Ich folge seinem Blick und stöhne auf. Scheiße. Minnie ist auf den Fahrersitz geklettert. »Auto!«, schreit sie begeistert, mit beiden Händen am Lenkrad. »Meeeiiinn Auto!« »Entschuldigung!« Ich renne hinüber, um sie herauszuholen. »Minnie, was um alles in der Welt machst du ... « Ich halte mir den Mund zu. Das ganze Lenkrad ist mit Honig vollgeschmiert. Honig und Krümel verzieren den Sitz und die Scheibe und den Ganghebel. »Minnie!«, fauche ich böse. »Du unartiges Mädchen! Was hast du getan?« Plötzlich kommt mir ein schrecklicher Gedanke. »Wo ist dein Sandwich? Was hast du damit gemacht? Wohin hast du ... ?« Mein Blick fällt auf das eingebaute Kassettendeck. Oh ... auch das noch. Der Fahrer war erstaunlich nett, angesichts der Tatsache, dass er gerade sechzehn Mäntel an jemanden ausgeliefert hatte, der sie nicht wollte und dessen Tochter ein Honigbrot in sein Kassettendeck geschoben hatte. Es dauerte etwa eine halbe Stunde, alles sauber zu machen, und wir haben ihm einen nagelneuen Ersatz versprochen. Als der Lieferwagen auf die Straße einbiegt, gehen Mum und Dad in die Küche, um sich eine Tasse Tee zu machen, und Luke zerrt mich förmlich die Treppe hinauf. »Zwei Tage?«, flüstert er. »Wir ziehen in zwei Tagen aus?« »Wir müssen, Luke! Hör zu, ich hab alles schon geplant. Wir suchen uns eine Mietwohnung und sagen Mum, wir ziehen in das Haus ein, und alle sind zufrieden.« Luke glotzt mich an, als hätte ich eine Schraube locker. »Aber sie wird uns besuchen wollen, Becky. Hast du das denn nicht bedacht?« »Das lassen wir nicht zu! Wir schieben es so lange hinaus, bis das mit dem Haus geklärt ist. Wir sagen, wir wollen, dass vorher alles perfekt ist. Luke, wir haben keine Wahl«, füge ich hinzu. »Wenn wir hier noch länger bleiben, kriegt sie einen Nervenzusammenbruch.«  Luke murmelt irgendetwas vor sich hin. Es klingt ein bisschen wie: »Demnächst kriege ich einen Nervenzusammenbruch.«  »Hast du denn eine bessere Idee?«, erwidere ich, doch Luke schweigt . »Und was ist mit Minnie?«, sagt er schließlich . »Was soll mit Minnie sein? Die kommt natürlich mit!« »Das meine ich nicht.« Er schnalzt mit der Zunge. »Ich meine, was wollen wir mit ihr machen? Ich gehe doch davon aus, dass du dir genauso große Sorgen machst wie ich, nach allem, was da eben vorgefallen ist, oder?« »Das mit dem Honigbrot?«, sage ich erstaunt. »Komm schon, Luke, entspann dich! So was kommt vor. Alle Kinder machen ...« »Du willst es einfach nicht sehen, Becky! Sie wird jeden Tag wilder. Ich glaube, wir müssen zu härteren Bandagen greifen. Meinst du nicht auch?«  Härtere Bandagen? Was soll das denn heißen? »Nein, meine ich nicht.«  Es läuft mir kalt über den Rücken. »Ich finde nicht, dass sie »härtere Bandagen« braucht, egal was du damit auch meinen magst.« »Nun, aber ich.« Er sieht ernst aus und will mir nicht in die Augen sehen. »Ich werde ein paar Leute anrufen.«  Was für Leute? »Luke, Minnie ist kein schwieriger Fall«, füge ich an, und plötzlich fangt meine Stimme an zu beben. »Und wen willst du überhaupt anrufen? Du solltest niemanden anrufen, ohne es mir vorher zu erzählen!«  »Du würdest nur sagen, dass ich es nicht tun soll!« Er klingt verzweifelt. »Becky, einer von uns beiden muss was unternehmen. Ich werde mich mit ein paar Kinderexperten in Verbindung setzen.« Er zückt seinen BlackBerry und wirft einen Blick darauf, und irgendwas in mir flippt aus. »Was für Experten denn? Was meinst du damit?« Ich greife mir seinen BlackBerry. »Sag es mir!« »Gib den her!« Seine Stimme wird harsch, als er mir den BlackBerry aus der Hand reißt. Erschrocken starre ich ihn an, und plötzlich pocht das Blut in meinen Wangen. Es war sein Ernst. Er wollte nicht, dass ich es sehe. Geht es um Minnie? Oder ... irgendwas anderes? »Was soll die Geheimniskrämerei?«, sage ich schließlich. »Luke, was verbirgst du vor mir?« »Nichts«, sagt er stur. »Es ist noch zu unausgegoren. Grobe Ideen für die Arbeit. Heikles Zeug. Ich möchte nicht, dass jemand es sieht.«  Ja, genau. Sein Blick geht immer wieder zu seinem BlackBerry. Er lügt. Ich weiß es. »Luke, du verheimlichst mir etwas.« Ich schlucke trocken. »Ich weiß es genau. Wir sind verheiratet! Wir sollten keine Geheimnisse voreinander haben!« »Das musst du gerade sagen!« Er wirft den Kopf in den Nacken und lacht. »Meine Liebste, ich weiß nicht, ob es ums Shoppen oder um Schulden geht oder ob du wirklich Botox kriegst. .. aber irgendetwas geht hier vor sich, von dem ich nichts wissen soll. Oder?« Mist. »Nein, das stimmt nicht!«, sage ich entrüstet. »Echt nicht!« Bitte lass ihn glauben, dass es ums Shoppen geht, bitte lass ihn glauben, dass es ums Shoppen geht ... Es folgt eine betretene, kribbelige Pause, dann zuckt Luke mit den Schultern. »Gut. Na, dann ... haben wir ja beide nichts zu verbergen.« »Gut.« Ich hebe mein Kinn. »Abgemacht.«  13 Kurz nach dem Aufstehen rufe ich am nächsten Morgen als Allererstes bei Bonnie an und hinterlasse ihr eine Nachricht. Sie soll mich dringend zurückrufen. Bestimmt kann sie mir sagen, was los ist. Unten, beim Frühstück, ist die Stimmung gespannt, und Luke sieht mich dauernd so komisch an, als wüsste er nicht, was er mit mir anfangen soll. »Tja, also ... „, sagt er unvermittelt mit gespielter Heiterkeit. »Großer Tag heute. Ich versuche, einen Termin bei Christian Scott-Hughes zu bekommen, der rechten Hand von Sir Bernard Cross. Wir glauben, Sir Bernard könnte der Klimatechnologie gegenüber aufgeschlossen sein.«  Mein Gott, ist er durchschaubar. Er will mir nur nicht erzählen, was er da auf seinem BlackBerry hat ... also reibt er mir irgendeine öde Info über Klimatechnologie unter die Nase und meint, er könnte mich damit zum Narren halten. »Toll«, sage ich höflich. In Wahrheit bin ich ziemlich beeindruckt. Sir Bernard Cross ist eine imposante Erscheinung. (In doppelter Hinsicht: Er ist ständig in den Nachrichten, ein Milliarden schwerer Philanthrop mit haufenweise extremen Ansichten, und außerdem ist er mindestens drei Zentner schwer.) »Christian Scott-Hughes ist Sir Bernards geschäftsführender Direktor und ungeheuer einflussreich«, sagt Luke. »Wenn wir ihn rumkriegen könnten, wären wir schon ein ganzes Stück weiter.«  »Wieso triffst du dich nicht gleich mit Bernard Cross?«, sage ich, und Luke lacht kurz auf. »Liebling, Sir Bernard >trifft sich< nicht einfach mit Leuten«, sagt er. »Da könnte man auch sagen: >Wieso treffen wir uns nicht gleich mit der Queen?< So läuft das nicht. Man muss durch die Instanzen gehen. Man arbeitet sich nach oben durch.«  Das will mir überhaupt nicht in den Sinn. Wenn ich die Queen sprechen wollte, würde ich versuchen, die Queen zu sprechen. Aber es hat überhaupt keinen Sinn, Luke so etwas zu sagen, denn er würde mir nur wieder einen Vortrag halten, dass ich die Komplexität seiner Branche nicht begreife, wie damals, als ich ihm vorgeschlagen habe, seine alleinstehenden Klienten miteinander zu verkuppeln. Und außerdem ist mir Sir Bernard Fettsack total schnurz, so oder so. »Und du?« Er trinkt seinen Kaffee aus. »Bei der Arbeit alles okay?« »Boomt wie verrückt«, sage ich leicht herablassend. »Unser Terminkalender ist voller als je zuvor, und unser Betriebsleiter hat mir gerade eine E-Mail geschickt, um mir zu sagen, wie grandios ich bin. « Luke lacht ungläubig. »Ich weiß nicht, wie du das machst. Alle anderen Branchen liegen brach, aber du schaffst es immer noch, teure Designerkleider zu verkaufen ... « Plötzlich wird sein Gesicht kalkweiß. »Becky, bitte sag mir, dass du sie nicht alle selbst kaufst!« Beleidigt stöhne ich auf. Erstens habe ich ihm etwas versprochen, was ich auch halte. Zweitens, wenn ich so was machen würde, wieso sitze ich dann hier in einem Rock, den ich vor fünf Jahren bei Barneys gekauft habe? »Wenn du es wirklich wissen willst ...«, sage ich von oben herab. »Wir haben bei The Look eine bahnbrechende Verkaufsmethode entwickelt, die uns durch die schweren Zeiten bringt.« Ich werde ihm nicht erklären, dass »bahnbrechend« bedeutet: »Wir verstecken unsere Kleider in Druckerpapierkartons.« Schließlich muss Luke nicht über jedes banale Detail meines Jobs im Bilde sein, oder? »Na denn. Nur zu!« Luke schenkt mir ein entwaffnendes Lächeln. »Ich muss los. Grüß Suze von mir.« Vor der Arbeit bin ich noch mit Suze verabredet, um mir Ernies Kunstausstellung in der Schule anzusehen und -hoffentlich -seiner Schulleiterin über den Weg zu laufen. (Ich habe mir schon alle möglichen bissigen Bemerkungen zurechtgelegt. Wenn ich mit ihr fertig bin, wird sie vor Angst in ihren Latschen bibbern.) Und dann gehen wir beide weiter zu The Look, um an einem gemeinsamen PR-Meeting teilzunehmen. Auch deshalb leuchtet mein Stern bei der Arbeit momentan so hell: Meine Idee, Dannys neue Kollektion mit Shetland Shortbread zusammenzubringen, hat total funktioniert! Die gesamte Kollektion dreht sich um Schottenmuster, was perfekt passt. Sie wollen eine gemeinsame Werbekampagne starten, in Verbindung mit dem »British Wool Marketing Board«, und das Foto-Shooting fand bereits auf Tarkies Farm statt, mit superdürren Models inmitten von Tarkies Schafen. Und das Beste dabei ist, dass das Ganze meine Idee war, und jetzt sind alle total beeindruckt. Jasmine meinte neulich, man würde mich vielleicht sogar in den Vorstand berufen! Selbstverständlich habe ich nur bescheiden gelacht und gesagt: »Ach, Quatsch!« Aber ich habe mir schon überlegt, was ich zu meiner ersten Vorstandssitzung anziehen könnte -diese zauberhafte gelbe Jacke aus der neuen Burberry-Prorsum-Kollektion, und dazu eine dunkle Nadelstreifenhose. (Ich meine, man wird sich ja wohl neue Sachen kaufen dürfen, wenn man irgendwo in einen Vorstand berufen wird. Das muss Luke doch wissen.«  Auf meinem Weg zu St. Cuthbert's erreichen mich zwei E-Mails auf meinem BlackBerry, über die ich am liebsten laut juchzen möchte. Die erste ist von Bonnie, und sie hat sie offenbar schon gestern Abend abgeschickt. Sie schreibt, wir haben bereits dreiundvierzig Zusagen. Dreiundvierzig! Ich kann gar nichtfassen, dass Luke so beliebt ist! Nein. Das klingt irgendwie falsch. Natürlich kann ich das. Aber trotzdem -dreiundvierzig in zwei Tagen! Und da sind noch nicht mal die ganzen Mitarbeiter von Brandon Communications mitgerechnet, die nach wie vor nicht wissen, dass es eine Party gibt, und glauben, sie sollen zu einer Schulung. Und die andere ist von Kentish English Sparkling Wine. Sie wollen Getränke für die Party liefern! Sie schicken mir fünfzig Flaschen! Dafür wollen sie nur eine Pressemitteilung herausgeben und Fotos veröffentlichen, auf denen Luke und seine Gäste ihr Qualitätsprodukt genießen. Ich meine, ich habe noch nie englischen Schaumwein aus Kent getrunken, aber der ist bestimmt köstlich. Ich bin richtig stolz auf mich, als ich so vor mich hinschlendere. Ich kriege alles hin! Ich habe das Zelt, die Getränke, die Schnittchen, die Troddeln und ich habe einen professionellen Feuerschlucker namens Alonzo engagiert, der auch als Country&Western-Sänger auftritt, wenn wir wollen. »Er singt nicht beim Feuerschlucken. Er zieht sich um und nennt sich dann Alvin.« St. Cuthbert's liegt an einem dieser vornehmen, weißen Plätze mit reichlich Stuck und Geländern, und ich bin schon fast am Schultor, als mein Handy klingelt und mir Suzes Nummer anzeigt. »Suze!«, begrüße ich sie.« Ich stehe draußen vor der Tür. Wo wollen wir uns treffen?« »Ich bin nicht da! Ich bin beim Arzt.« Suze klingt verzweifelt. »Ernie hat furchtbare Ohrenschmerzen. Wir haben die ganze Nacht nicht geschlafen. Ich kann auch nicht zu The Look kommen.« »Ach, du Ärmste! Was nun ... soll ich wieder gehen?« »Nein, sei nicht dumm! Guck dir die Ausstellung an, und gönn dir ein Stück Kuchen! Der ist bestimmt gut. Die Hälfte der Mütter hat einen Cordon-Bleu-Kurs absolviert. Und außerdem kannst du dir ja Ernies Bild ansehen«, fügt sie hinzu, als fiele es ihr gerade noch so ein. »Selbstverständlich sehe ich mir Ernies Bild an!«, sage ich resolut. »Und wir treffen uns, sobald es Ernie besser geht.« »Auf jeden Fall.« Suze macht eine Pause. »Und ... wie geht es dir?«, fügt sie hinzu. »Wie laufen die Vorbereitungen für die Party?« »Super, danke«, sprudelt es aus mir hervor. »Alles im Lack.«  »Denn Tarkie und ich hatten eine gute Idee, falls es bei dir Kaffee gibt ...« Sofort blitzt in mir Ärger auf. Keiner glaubt, dass ich es schaffe, oder? Alle nehmen an, dass ich total unfähig bin und nicht mal richtig Kaffee kochen kann. »Suze, zum letzten Mal, ich brauche deine Hilfe nicht!« Die Worte schießen aus mir heraus, bevor ich sie zurückhalten kann. »Ich kann es auch allein! Also lass mich in Ruhe, okay?«  Augenblicklich bereue ich, dass ich so harsch klinge. Am anderen Ende ist es still, und ich spüre, wie meine Wangen rot werden. »Suze ...«Ich schlucke. »Ich meinte nicht ... « »Weißt du, Bex, manchmal möchten Menschen einfach helfen«, fällt mir Suze ins Wort, und plötzlich bebt ihre Stimme. »Es dreht sich nicht immer alles nur um dich, okay? Es geht nicht darum, dass wir es dir nicht zutrauen. Es geht darum, dass Luke nicht nur dein Mann ist, sondern auch unser Freund, und wir wollten ihm was Gutes tun. Tarkie hat vorgeschlagen, dass sich die Leute von Shetland Shortbread ein spezielles Shortbread-Rezept nur für Luke ausdenken. Und wir dachten, wir könnten es auf der Party zum Kaffee servieren. Aber -gut wenn du so empfindlich bist, dann eben nicht. Vergiss es. Ich muss los.« »Suze ...« Es ist zu spät. Sie hat aufgelegt. Ich versuche, sie zurückzurufen, doch es ist besetzt. Oh, Gott. Sie klang echt gekränkt. Vielleicht war ich wirklich zu empfindlich. Aber woher sollte ich auch wissen, dass es um eine ganz neue Kekssorte ging? Einen Moment lang stehe ich nur da und verziehe das Gesicht. Soll ich ihr eine SMS schicken? Nein. Dafür ist sie mir noch zu böse. Ich warte lieber, bis sie sich etwas abreagiert und vielleicht eine Nacht darüber geschlafen hat. Ich kann jetzt nichts daran ändern. Da kann ich ebenso gut reingehen und mir ein Stück Kuchen gönnen. Ich gehe durch das Schultor, an plaudernden Müttern vorbei, und folge den Schildern zur Ausstellung. Sie findet in einer luftigen Halle mit Parkettboden statt, und ich sehe schon, was Suze mit den Kuchen meinte. Da stehen Tapeziertische mit bonbonfarbenen Makronen und Mini-Schokoladen-Brownies und haufenweise durchtrainierte Mütter in Hüftjeans, die Kaffeebecher in Händen halten und die Leckereien mit feindseligen Blicken mustern. Niemand isst ein Stück Kuchen -wozu machen sie sich denn überhaupt die Mühe? »Hi!« Ich trete an den Tapeziertisch, hinter dem eine wohlfrisierte, blonde Frau steht. »Ich hätte gern einen Schokoladen-Brownie, bitte.« »Aber gern!« Sie reicht mir ein winziges Brownie-Stückchen in einer Serviette. »Fünf Pfund, bitte.« Fünf Pfund? Für zwei Bissen? »Alles für die Schule!« Sie zwitschert ein Lachen hervor, das wie ein Eiszapfen klingt, und legt meinen Fünfer in eine mit Filz ausgeschlagene Geldkassette, die mit kariertem Stoff bezogen ist. »Und sind Sie eine Schulanfänger-Mama? Denn wir erwarten die verzierten Pfefferkuchenhäuschen erst am Dienstag, und einige waren doch sehr enttäuscht ... « »Ich bin keine Mama«, korrigiere ich sie eilig. »Zumindest nicht hier. Ich bin nur zu Besuch. Meine Tochter geht noch nicht zur Schule.« »Ah, ich verstehe.« Ihr Interesse lässt ein wenig nach. »Und welche Schule wird Ihre Tochter besuchen?« »Ich weiß nicht.« Meine Stimme wird ein wenig durch den Brownie gedämpft, der absolut himmlisch schmeckt. »Sie ist erst zwei.« »Zwei Monate.« Die Frau nickt wissend. »Na, da müssen Sie sich aber ranhalten ...« »Nein, zwei.« Ich schlucke den Brownie herunter. »Zwei Jahre.« »Zwei Jahre?« Die Frau wirkt wie gebannt. »Und Sie haben noch nicht angefangen?« »Äh ... nein.« »Sie haben sie noch nirgends angemeldet?« Mit großen, zwinkernden Augen starrt sie mich an. »Nirgendwo?« Okay, diese Frau ist mir unheimlich, mit ihren superweißen Zähnen und ihrer stressigen Art. Ich meine, ich weiß ja, dass die Schulen ausgebucht sind und so. Aber mal ehrlich, selbst die Wartezeit für die neue Prada-Tasche war nur ein Jahr. Keine Schule ist exklusiver als eine limitierte Prada-Tasche, oder? »Vielen Dank für den Brownie!« Eilig entferne ich mich von ihr. Ich bin richtig verunsichert, als hätte ich die Fähre verpasst und gar nicht gewusst, dass es überhaupt eine Fähre gibt. Es sollte eine Vogue für Schulen geben. Sie sollte die monatlichen Must-Haves und die neuesten Trends und aktuellen Wartelisten bringen. Dann wüsste man es. Jedenfalls will ich mich deshalb nicht verrückt machen lassen. Wir werden schon eine hübsche Schule für Minnie finden. Da bin ich mir ganz sicher. Ich frage mich, auf welche Schule Madonna ihre Kinder schickt. Ich meine, nicht dass ich Minnie nur wegen irgendwelcher Prominenten auf eine bestimmte Schule schicken würde. Bestimmt nicht. Aber trotzdem. Vielleicht guck ich mal im Internet nach. Nur so aus Interesse. Ich kaufe mir einen Kaffee und steuere auf die Kunstwerke zu. Die meisten Bilder zeigen Blumen, und als ich zu Ernies Bild komme, hinten in der Ecke, bin ich doch ein wenig konsterniert. Es ist. »anders.« Es ist sehr düster und verschmiert und zeigt ein Schaf vor einem dunklen Hintergrund, bei dem es sich um ein Moor handeln könnte ... Ah. Wenn ich genauer hinsehe, könnte das Schaf auch tot sein. Nun. Es ist ja nichts Falsches daran, ein totes Schaf zu malen, oder? Und das Blut, das aus seinem Maul rinnt, sieht ganz realistisch aus. Das werde ich zu Suze sagen, wenn wir uns wieder vertragen haben. Ja. Ich werde sagen: »Das Blut fand ich super! Es hatte so einen ... Schwung!« » ... absolut scheußlich!«  »Ekelhaft!«  Plötzlich bemerke ich einen Pulk kleiner Mädchen, die sich auch das Bild ansehen. Eine hat stramme Zöpfe und hält sich den Mund zu. »Mir wird übel«, verkündet sie. »Wisst ihr, wer das gemalt hat? »Ernest.«»Er malt immer Schafe«, sagt eine andere spöttisch. »Was anderes kann er nicht.«  Die anderen brechen in zickiges Gekicher aus. Wütend starre ich sie an. Sie sehen alle aus wie kleine Zimtzicken. Eine Glocke läutet, und alle laufen eilig weg, was gut ist, weil ich sonst wahrscheinlich etwas Würdeloses und Unreifes unter Verwendung des Wortes »Tussis«, gesagt hätte. Plötzlich bemerke ich eine Frau mit einem dunklen Dutt und hochherrschaftlicher Ausstrahlung, die durch den Raum schwebt, gnädig lächelt und hin und wieder kurz Konversation betreibt. Ich stehe wie auf glühenden Kohlen, als sie sich mir nähert. Ja! Das dachte ich mir doch. Am Revers ihrer Strickjacke trägt sie ein Namensschild, auf dem »Harriet Grayson MA, Rektorin«, steht. Das ist die Frau, die Ernie das Leben schwer macht. Nun, ich werde ihr das Leben schwer machen. Besonders, da ich mich immer noch dafür schäme, dass ich Suze so anfahren musste. »Hallo.« Sie lächelt und reicht mir die Hand. »Ich fürchte, Sie werden mir helfen müssen. Gehören Sie zu einer unserer Neuaufnahmen?« »Oh, nein, ich gehöre nicht zu den Eltern dieser Schule«, setze ich an. »Ich bin ...« Ich wollte schon sagen: »Ich bin die Patentante von Ernest Cleath-Stuart und habe Ihnen einiges mitzuteilen.« Doch plötzlich habe ich noch eine bessere Idee. Hier kennt mich ja keiner, oder? »Ehrlich gesagt ... ich bin beruflich auf der Suche nach künstlerischen Talenten«, sage ich kühl. »Auf der Suche nach Talenten?« Sie scheint mir perplex. »Ja, Professor Rebecca Bloomwood von der Guggenheim Jugendstiftung. Tut mir leid, ich habe keine Karte bei mir.« Ich schüttle kurz ihre Hand, ganz Profi. »Ich bin geschäftlich hier. Wir Talentsucher sehen uns gern inkognito Schulausstellungen an, um neue Talente aufzuspüren. Und ich habe schon eins gefunden, gleich hier.« Ich deute auf Ernies düsteres, verschmiertes Bild, und unsicher folgt die Schulleiterin meinem Blick. »Das ist von Ernest Cleath-Stuart«, sagt sie schließlich. »Ein interessantes Kind, dieser Ernest ... « »Unglaublich begabt, wie ich Ihnen vermutlich nicht erst erklären muss.« Ich nicke feierlich. »Sehen Sie sich an, wie subtil er seine Botschaft in die ... die Bildkomposition einarbeitet.« Ich zeige auf das Schaf. »Sehen Sie sich dieses Motiv an. Das unterschätzt man nur allzu leicht. Aber als Profi habe ich es sofort erkannt.« Die Rektorin legt ihre Stirn in Falten, als sie prüfend das Bild betrachtet. »Unbedingt«, sagt sie. »Ich bin mir sicher, dass eine ausgezeichnete Schule wie die Ihre ein solch einzigartiges Kind liebevoll hegt und pflegt. « Mit scharfem Blick lächle ich sie an. »Denn -glauben Sie mir -dieser Junge ist etwas ganz Besonderes. Hat er ein Kunststipendium?« »Ernest? Ein Stipendium?« Bei dem bloßen Gedanken scheint es der Schulleiterin die Sprache zu verschlagen. »Also, nein ... « »Ich vermute, dass andere Schulen Ihnen dieses außergewöhnliche Talent abspenstig machen werden.« Ich widme ihr noch einen scharfen Blick und sehe auf meine Uhr. »Unglücklicherweise muss ich gehen, aber vielen Dank, dass Sie sich die Zeit genommen haben ... « »Ich würde Ihnen gern noch einige Arbeiten anderer Schüler zeigen!«, sagt die Rektorin, während sie neben mir zur Tür eilt. »Das hier ist von einem sehr talentierten kleinen Mädchen namens Eloise Gibbons, das uns gerade verlassen hat ...« Sie deutet auf ein Mohnfeld, das sehr nach Van Gogh aussieht. »Epigonal«, sage ich abschätzig und widme dem Bild kaum einen Blick. »Vielen Dank. Auf Wiedersehen.« Eilig schreite ich durch das Schultor auf den Bürgersteig hinaus und muss meine Lippen zusammenpressen, um nicht laut loszulachen. Ha. Vielleicht wissen sie Ernie jetzt zu schätzen. Und es war mein Ernst! Okay, es war ein bisschen schräg, aber trotzdem fand ich Ernies totes Schaf das Beste an dem ganzen Laden. Als ich zu The Look komme, merke ich gleich, dass Danny schon da ist, und zwar an der Limousine draußen vor der Tür und dem Pulk junger Mädchen im Erdgeschoss, die seine Autogramme auf ihren T-Shirts vergleichen. Ich fahre zum Konferenzraum in der obersten Etage, und als ich eintrete, ist das große Meeting bereits im Gange. Überall stehen Teller mit Shetland Shortbread, an den Wänden hängen Bilder der neuen Kollektion, und am Tisch drängen sich Geschäftsleute. Danny ist mitten unter ihnen. In seiner hellblau-grünen Jacke und den Jeans sieht er aus wie ein Pfau. Als er mich bemerkt, winkt er und klopft auf den Stuhl neben sich. Die gesamte Geschäftsleitung von The Look ist anwesend, dazu Leute, die ich nicht kenne und die wohl von Shetland Shortbread sind, außerdem Lukes Freund Damian, der mittlerweile Tarkies Berater ist. Brenda aus unserer Marketing-Abteilung hält eine Power-Point-Präsentation und ist gerade bei irgendeiner Grafik, auf der die Vorbestellungen für die neue Danny-Kovitz-Kollektion abzulesen sind, im Vergleich zum letzten Jahr. »Absolut umwerfend«, sagt sie gerade. »So eine Reaktion hatten wir noch nie. Also, vielen Dank Ihnen, Danny Kovitz, für die wunderbare Zusammenarbeit, vielen Dank Shetland Shortbread, dass Sie an Bord gekommen sind -und ein Hoch auf uns alle, weil wir so gut zusammengearbeitet haben!« »Sie alle haben sich große Mühe gegeben«, sagt Danny. »Hey, Becky, du hättest zum Foto-Shooting mit nach Schottland kommen sollen! Wir hatten echt Spaß! Ist mein Dudelsack schon angekommen, Zane?« Abrupt wendet er sich einem Jungen mit rot gefärbten Haaren zu, der hinter ihm steht. Das muss einer von Dannys fünf Trillionen Assistenten sein. »Mh ...« Schon zückt Zane sein Handy mit kummervoller Miene. »Ich kann mal checken ... « »Du hast dir einen Dudelsack gekauft?« Unwillkürlich muss ich kichern. »Kannst du den auch spielen?« »Als Accessoire. Glaub mir, das wird der neue It-Bag. Hey, Sie sollten den ganzen Laden mit Dudelsäcken dekorieren!« Danny wendet sich Kathy zu, der Merchandising-Chefin, die sofort nach ihrem Notizblock greift, Dudelsack aufschreibt und dreimal unterstreicht. »Wir sind absolut begeistert von der Publicity, die wir bereits vor der Markteinführung genießen«, fährt Brenda fort. »Schon jetzt wurden wir in der Vogue und im Telegraph erwähnt, und wenn ich es richtig sehe, hat Lord Cleath-Stuart kürzlich der Zeitschrift Style Central ein Interview gegeben.« »Tarkie ist in Style Central?« Ich starre sie an, möchte am liebsten loslachen. Style Central ist die Bibel der Avantgarde Designer und Moderedakteure, die in Gegenden wie Hoxton wohnen. Und Tarkie ist ... nun ... Tarkie. Ich meine, er trägt immer noch den Cricket-Sweater, den er schon in Eton hatte. »Ich war dabei«, wirft Danny beschwichtigend ein. »Keine Sorge, ich habe das Reden übernommen. Super Fotos«, fügt er hinzu. »Er hatte keine Angst, Grenzen zu überschreiten. Wusstest du, wie experimentierfreudig Tarquin ist?« »Tatsächlich?«, sage ich zweifelnd. Meinen wir hier denselben Tarquin? Den Tarquin, der sein Gesicht noch immer mit Karbolseife wäscht, egal wie viele Flaschen Designer-Waschlotion Suze ihm auch kaufen mag? »Nun, denn ... « Trevor, unser Geschäftsführer, meldet sich zum ersten Mal zu Wort, und alle sehen ihn an. »Da wir hier versammelt sind, möchte ich noch die Verdienste von jemand anderem an diesem Tisch hervorheben. Becky war die Mitarbeiterin, die die geniale Idee für diese Zusammenarbeit hatte. Sie hat Danny Kovitz überhaupt erst mit unserem Unternehmen bekannt gemacht -und dann den Kontakt zu Shetland Shortbread hergestellt. Bravo, Becky!« Applaus brandet auf, und ich lächle bescheiden in die Runde, bis Trevor seine Hand hebt, um fortfahren zu können. »Und nicht nur das. Wie wir alle wissen, sind momentan überall harte Zeiten am Markt angebrochen. Beckys Abteilung hat dennoch die Verkäufe im vergangenen Monat um siebzehn Prozent steigern können! « Er legt eine Pause ein, um die Wirkung zu steigern, und alle werfen mir staunende oder giftige Blicke zu. Gavin, unser Abteilungsleiter Herrenbekleidung, wird ganz rot am Hals und runzelt schmollend die Stirn. »Und Beckys Kundenreaktionen sind schier unglaublich«, fügt Trevor hinzu. »Jamie, würden Sie vielleicht einige vorlesen?« »Gern!« Jamie von der Kundenbetreuung nickt begeistert. »Hier ist eine von Davina Rogers, einer Ärztin. »Sehr geehrte Damen und Herren! Ich möchte Ihnen ein Lob zu Ihrer Personal-Shopping-Abteilung aussprechen, besonders aber Rebecca Brandon. Ihre Weitsicht und Diskretion haben mir in diesen schweren Zeiten das Leben gerettet. Ich komme gern immer wieder.« Unwillkürlich leuchte ich vor Stolz. Ich hatte keine Ahnung, dass Davina einen Brief schreiben würde! Sie hat mir ein Foto von sich bei dem Empfang gemailt, und in diesem Alberta-Ferretti-Kleid sah sie einfach traumhaft aus. »Hier ist noch einer.«Jamie nimmt den nächsten Brief. »Endlich jemand, der begreift, was Frauen brauchen und sich wünschen, wenn sie shoppen gehen! Ich danke Ihnen von ganzem Herzen, Chloe Hill.« Ich erinnere mich an Chloe HilI. Sie hat etwa zehn Teile aus der neuen Marc-Jacobs-Kollektion gekauft und bei uns deponiert. Wir hatten es so eingerichtet, dass Jasmine am nächsten Abend zu ihr nach Hause ging, mit den Kleidern in einem Müllsack, und sich als Nachbarin ausgab, die wieder nach Neuseeland ging und ihre ungeliebten Klamotten loswerden wollte. Offenbar war Chloes Mann zu Hause und ließ sich ohne Weiteres täuschen. (Problematisch wurde es nur, als er meinte, Chloe solle ein paar von den Sachen in die Reinigung bringen, und ihr dann Knauserigkeit vorwarf, als sie sich strikt weigerte.) »Als Würdigung dieser Leistung«, sagt Trevor nun, »möchten wir uns bei Becky gern mit dieser kleinen Geste bedanken und sie fragen: »Wie um alles in der Welt haben Sie das gemacht?« Zu meinem Erstaunen zaubert er unter dem Tisch einen Blumenstrauß hervor, reicht ihn mir herüber und fangt an, mir zu applaudieren, worauf alle mit einsteigen. »Es dürfte wohl zweifelsfrei feststehen, wen wir nächsten Monat zur Mitarbeiterin des Jahres wählen«, fügt Trevor zwinkernd hinzu. »Glückwunsch, Becky.« »Wow.« Vor lauter Freude laufe ich rot an. »Dankeschön.« Mitarbeiterin des Jahres! Das ist echt cool! Man kriegt fünf Riesen! »Aber jetzt mal im Ernst.« Trevor lässt keine Sekunde verstreichen. »Wie haben Sie es geschafft, Becky? Können Sie das Geheimnis Ihres Erfolges erklären?« Der Applaus verhallt. Alle am Tisch warten gespannt auf meine Antwort. Ich vergrabe mein Gesicht in den Blumen und rieche daran, spiele auf Zeit. Die Sache ist ... ich bin mir nicht sicher, ob ich das Geheimnis meines Erfolges erklären möchte. Irgendetwas sagt mir, dass hier niemand Verständnis für die Auslieferung in Müllsäcken haben würde. Und selbst wenn doch, würden sie alle nur heikle Fragen stellen, wann wir damit angefangen haben und wer das genehmigt hat und wie sich das mit der Firmenpolitik verträgt ... »Wer weiß?« Schließlich blicke ich lächelnd auf. »Vielleicht wollen meine Kundinnen nur die Wirtschaft stützen.« »Aber wieso nur Ihre Abteilung?« Trevor wirkt frustriert. »Becky, wir möchten Ihre Methoden nutzen und sie auf alle Abteilungen übertragen, ob es nun an einem bestimmten Produkt liegt ... an einer speziellen Verkaufstechnik ... « »Vielleicht liegt es am Layout der Abteilung«, schlägt ein junger Mann mit Brille vor. »Ja, gute Idee!«, sage ich eilig. Doch Brenda schüttelt den Kopf. Sie ist nicht auf den Kopf gefallen, unsere Brenda. Das ist das Problem. »Meiner Meinung nach liegt der Schlüssel in der Kundenbetreuung«, sagt sie. »Offensichtlich drücken Sie irgendwie die richtigen Knöpfe. Dürfte ich Ihnen vielleicht mal ein paar Tage zusehen?« Oh, mein Gott. Auf keinen Fall wollen wir, dass Brenda bei uns rumschleicht. Sie würde sofort merken, was wir treiben und es Trevor petzen. »Lieber nicht«, sage ich hastig. »Jasmine und ich arbeiten sehr gut als Team zusammen... ohne noch jemanden. Ich fürchte, wenn wir an der Erfolgsformel herumdoktern, könnten wir das Gelingen gefährden.« Ich sehe, wie sich das Wort »gefährden« in Trevors Hirn eingräbt. »Nun, dann belassen wir es dabei«, sagt er gewichtig. »Machen Sie einfach weiter so. Gute Arbeit, Leute.« Er schiebt seinen Stuhl zurück und sieht mich an. »Danny und Becky, kommen Sie mit zum Lunch? Wir haben einen Tisch bei Gordon Ramsay reserviert, falls es Ihnen zusagt ... « »Ja, gern!«, sage ich freudig. Lunch bei Gordon Ramsay mit dem Geschäftsführer! Mitarbeiterin des Jahres! Ich bin so was von auf dem Weg in den Vorstand. Als Trevor einen Anruf entgegennimmt, rückt Danny seinen Stuhl zu mir herüber. »Und wie läuft's mit der Party?« »Schscht!«, fauche ich ihn an. »Nicht so laut!« »Ich war nur letzte Woche gerade bei dieser Fashion-Fete in Shoreditch und musste an dich denken.« Er bietet mir ein Kaugummi an. »Ich weiß nicht, welche Security-Firma du engagieren willst, aber Fifteen Star Security sind wirklich fürchterlich. Diese Rausschmeißer waren total aggressiv und die Leute vom Parkservice das reine Chaos. Falls du die also engagiert hast, solltest du es dir vielleicht noch einmal überlegen.« Einen Moment lang weiß ich nicht, was ich sagen soll. Rausschmeißer? Parkservice? An Rausschmeißer und Parkservice habe ich noch gar nicht gedacht. »Na, die Firma heuere ich schon mal bestimmt nicht an«, sage ich so überzeugend wie möglich. »Cool.« Danny legt seine Füße auf einen Stuhl. »Wen dann?« »Ich bin gerade ... äh ...dabei, mich um die Security zu kümmern.« Ganz ruhig. Keine Panik. Ich schreibe es einfach mit auf die Liste. Rausschmeißer und Parkservice engagieren. »Die Gästetoiletten waren allerdings grandios«, fügt er begeistert hinzu. »Die waren in einem separaten Zelt untergebracht, und jeder bekam eine Fußmassage. Gibt es bei dir auch eine Fußmassage?«  Ich kann nicht sprechen. Das blanke Entsetzen hat mich gepackt. Toiletten. Scheiße. Wie konnte ich die Toiletten vergessen? Hatte ich gedacht, zweihundert Leute könnten Janices Klo benutzen? Heimlich schreibe ich mir mit einem Kuli Klos mieten auf die Hand. »Selbstverständlich gibt es Fußmassagen.« Ich gebe mir Mühe, lässig zu klingen. »Und Handmassagen. Und ... Reiki.« Ich werde doch nicht zulassen, dass irgendeine blöde Fashion-Fete in Shoreditch meine Party übertrumpft. »Ausgezeichnet.« Seine Augen leuchten. »Und Luke hat keine Ahnung?« »Nein. Aber sprich nicht so laut!« »Na, das dürfte wohl kaum so bleiben. Noch hat niemand eine Überraschungsparty geschmissen, die auch wirklich eine Überraschung gewesen wäre ... « »Doch, wohl!«, erwidere ich genervt, aber Danny schüttelt nur den Kopf. »Glaub mir, Becky. Irgendein Idiot verplappert sich immer. Hey, guck mal, was ich für meine Patentochter gemacht habe!« Er holt ein kleines Schottenkaro-T-Shirt hervor, auf dem mit pinken Buchstaben »Minnie ist spitze« steht. Es ist doch immer dasselbe mit Danny. In dem Moment, in dem man ihm am liebsten eine reinhauen möchte, weil er dermaßen nervt, macht er irgendetwas total Süßes, und gleich verliebt man sich wieder in ihn. Ich kann ihn nur in den Arm nehmen und an mich drücken. Aber, oh, Gott! Was ist, wenn er recht hat? Als ich zu Hause ankomme, klingelt mein Handy, und endlich ruft Bonnie mich zurück. »Bonnie!« Ich verziehe mich in die Büsche. »Wie geht es Ihnen?« »Danke, es geht mir gut.« Bonnie klingt ein wenig angestrengt, gar nicht so wie sonst. »Alles ist gut.« Argwöhnisch betrachte ich mein Telefon. »Bonnie, was ist los? Sie klingen so bedrückt.« „Na ja, wenn ich ehrlich sein soll ...« Bonnie seufzt. »Luke hat es gerade eben nicht gut aufgenommen, als ich sein Duschgel erwähnt habe. Leider wurde er doch recht ärgerlich.«  »Oh, das tut mir leid«, sage ich. „Machen Sie sich keine Gedanken. Es war den Versuch wert. Was tut sich bei Ihnen wegen der Party?«  »Wir hatten heute wieder viele Zusagen! Ich habe eine Akte mit Details und Sonderwünschen angelegt.« »Mit Sonderwünschen?«, wiederhole ich verunsichert. »Es gab Anfragen wegen vegetarischer Speisen, koscherer Speisen, weizenfreier Speisen ... Ich vermute doch, dass Ihr Partyservice sich darum kümmert, oder? Hinzu kommt, dass ein Gast einen Aufenthaltsbereich für seinen Fahrer benötigt, ein anderer einen Stillraum für sein Baby, ein Staatsminister würde gern seine Sicherheitsleute vorher reinschicken, um sich auf dem Gelände umzusehen ...«  »Klar! Kein Problem!« Ich gebe mir Mühe, selbstbewusst und schaff-ich zu klingen, aber innerlich bin ich doch leicht deprimiert. Seit wann sind Geburtstagspartys dermaßen kompliziert? »Becky?«  »Tschuldigung.« Ich zerre meine Gedanken zurück. »Bonnie, da ist noch was. Ich muss Sie etwas fragen.« Ich hole tief Luft. »verbirgt Luke etwas vor mir?« In der Leitung ist es still, und mir bleibt das Herz stehen. Ich wusste es. »Geht es um Minnie? Seien Sie ehrlich.«  »Nein, nein!« Sie klingt betroffen. »Ich habe nichts davon gehört, dass Luke etwas über Minnie gesagt hätte!«  »Oh.« Ich reibe an meiner Nase herum. »Na, dann irgendwas bei der Arbeit?«  Wieder dieses Schweigen. Die Antwort ist ganz offensichtlich Ja. Plötzlich bekomme ich so eine unheilvolle Ahnung. »Bonnie, ich dachte, Sie sind meine Freundin«, sage ich schließlich. »Wieso können Sie mir nicht sagen, was los ist? Ist es so schlimm? Gibt es den nächsten Prozess?« Meine Gedanken hecheln die fürchterlichen Möglichkeiten durch. »Steckt Luke in Schwierigkeiten? Ist er bankrott?« »Nein!«, wirft Bonnie eilig ein. »Bitte, Becky, denken Sie so etwas nicht!« »Was soll ich denn denken?« Meine Stimme wird immer lauter. »Ich weiß, dass Luke mir schlechte Nachrichten ersparen möchte, aber wie kann ich ihm helfen, wenn ich nicht weiß, was los ist?« »Becky, bitte regen Sie sich nicht auf! Es ist nichts Schlimmes! Es ist nur ... ein neuer Kunde.« »Oh.« Das nimmt mir etwas den Wind aus den Segeln. Das hatte ich nicht erwartet. Obwohl mir jetzt doch einfallt, dass Luke einen neuen Klienten erwähnt hat, oder? Aber wieso ist es ein so großes Geheimnis? »Wer ist es?« »Das darf ich Ihnen nicht sagen«, antwortet Bonnie zögerlich. »Luke hat mich ausdrücklich gebeten, es nicht zu erwähnen. Er war der Ansicht, dass Sie vielleicht ... allzu euphorisch wären. Er wollte erst sichergehen, dass es auch klappt.« »Allzu euphorisch?« Entrüstet starre ich mein Handy an. »Bonnie, Sie müssen es mir erzählen!« »Ich kann nicht.« »Doch, können Sie! Sind wir denn nicht ein Team?« »Ich kann nicht. .. « Es scheint Bonnie direkt Schmerzen zu bereiten. »Becky, verstehen Sie doch! Luke ist mein Chef. .. « »Und ich bin Ihre Freundin. Freunde sind wichtiger als Chefs! Das weiß doch jeder.« Bonnie schweigt, dann flüstert sie: »Becky, ich muss wieder an die Arbeit. Wir sprechen morgen wieder miteinander.« Sie legt auf, und ich sehe, wie das Licht in meinem Handy erlischt. Ich gehe zu dem Weidenbaum mitten auf dem Rasen vor unserem Haus hinüber und setze mich auf die alte Holzbank. Wenn ich ehrlich sein soll, bin ich etwas beunruhigt. Was geht bei Luke vor sich? Und wie soll ich diese Party zustande bringen? Ich dachte, es lief alles so gut. Ich war doch zufrieden mit mir. Jetzt kriege ich langsam Panik. Türsteher. Parkservice. Koschere Speisen. Toiletten. Fußmassagen. Oh, Gott, oh, Gott. Wie soll ich das alles bezahlen? Wieso habe ich so viel Zeit mit den dämlichen Troddeln vertrödelt? Was muss ich noch bedenken? Bestimmt weiß Suze Bescheid. Suze geht ständig auf schicke Partys. Aber die kann ich nicht fragen. Nicht jetzt. Eilig klappe ich meinen BlackBerry auf und scrolle mich durch die Liste der Zusagen. Je mehr Namen ich lese, desto unwohler fühle ich mich. Wieso kann Luke keine normalen Freunde haben? Warum müssen die alles so nobel und wichtig sein? Diese Leute sind pompöse Empfänge an exklusiven Orten gewöhnt. Sie erwarten Marmorsäulen und Streichquartette und Kellner in weißen Uniformen ... »Becky?« Mom steht mit besorgtem Blick in der Haustür. »Alles in Ordnung, Schätzchen?« »Alles gut«, sage ich fröhlich. »Hab nur ... nachgedacht.« Nie im Leben werde ich zugeben, dass ich mir um die Party Sorgen mache. Mum verschwindet wieder, und ich knabbere an meinem Daumennagel. Na, ich habe keine Wahl, oder? Ich werde die Rausschmeißer und die Toiletten und die Masseure und alles andere engagieren müssen. Und für alles aufkommen... irgendwie. Mir wird ganz flau, als ich an meine Finanzen denke. Ich kann das Geld nicht von unserem gemeinsamen Konto abheben, weil Luke dann was merken würden. Und ich kann es auch nicht von meinem eigenen Konto nehmen, weil da nichts zu holen ist. Im Moment jedenfalls. Und ich habe schon die Hälfte meiner Karten ausgereizt. Diese Kreditkartenfirmen sind im Augenblick auch ziemlich eigen. Könnte ich Derek Smeath bei meiner alten Bank anrufen und um einen Party-Notkredit betteln? Er würde es bestimmt verstehen. Und er mochte Luke schon immer, und ich könnte ihn zur Party einladen ... Plötzlich sitze ich ganz starr. Nein. Ich hab's. Ich werde Trevor im Voraus um meine Prämie für die Mitarbeiterin des Jahres bitten. Das kann er mir doch nicht abschlagen, oder? Nicht nach den vielen netten Sachen, die er über mich gesagt hat. Und wenn ich schon mal dabei bin ... wieso frage ich nicht gleich nach einer Lohnerhöhung? Ich bin derart erleichtert, dass ich fast laut lachen muss. Wieso habe ich nicht schon früher daran gedacht? Schließlich hat er mir gerade erst Blumen geschenkt. Meine Abteilung ist mit Abstand die beste. Von Wirtschaftskrise keine Spur! Es liegt doch nahe, dass ich eine Lohnerhöhung bekommen sollte. Ich werde um ein vertrauliches Gespräch nachsuchen und ihn in aller Ruhe um eine kleine und doch nicht unerhebliche Lohnerhöhung bitten, zusammen mit der Prämie für die Mitarbeiterin des Jahres, und das müsste dann für alles reichen. Vielleicht eine mittelgroße und doch nicht unerhebliche Erhöhung. Noch besser. Und bis dahin googel ich »Pompös Luxusparty Planung Details«, nur um mal nachzusehen, was ich vergessen habe. Schon fühle ich mich tausend Mal besser, stehe auf und will gerade ins Haus gehen, als mein Handy piept. Ich nehme es hervor und sehe, dass ich eine SMS von Bonnie habe. Liebe Becky. Mein schlechtes Gewissen bringt mich um. Ich glaube, Sie haben recht. Ihre Freundschaft bedeutet mit sehr viel, und Vertrauen ist ein entscheidender Teil einer jeden Freundschaft. Daher werde ich Ihnen vertrauen und als separaten Text den Namen des neuen Klienten senden, den Luke vor Ihnen verheimlicht (aus redlichen Gründen, wie ich Ihnen versichern kann). Bitte löschen Sie den Text sofort, nachdem Sie ihn gelesen haben. Ich hoffe und glaube, Sie respektieren den Umstand, dass ich ein gewisses Risiko eingehe, indem ich diese Information preisgebe. Bitte versuchen Sie, Luke nicht wissen zu lassen, dass Sie davon Kenntnis haben. Sie werden sich in  Selbstbeherrschung üben müssen. Herzlichst Ihre Freundin Bonnie Ich bin richtig gerührt, als ich das lese. Bonnie ist mir eine Freundin. Und ich bin ihre Freundin. Und nur das ist wichtig. Fast interessiert mich der Name des Kunden gar nicht mehr. Ich meine, wahrscheinlich ist es sowieso nur irgendein feister, langweiliger Finanztyp, von dem ich noch nie gehört habe. Aber dass sie sagt, ich müsste mich in Selbstbeherrschung üben ... also echt! Manchmal scheint mir, die Leute in der PR-Branche fallen auf ihren eigenen Hype herein. Ich drücke »Antworten«, und fange an zu tippen: Liebe Bonnie, ich danke Ihnen sehr. Sie sind mir eine wunderbare Freundin. Keine Sorge, ich werde Luke nie im Leben verraten, dass ich den Namen seines Kunden kenne, und Selbstbeherrschung ist nun wirklich kein Problem ... Ein Piepen unterbricht mich. Oh, das könnte Bonnies zweite SMS sein. Vielleicht sollte ich mal kurz einen Blick darauf werfen, bevor ich weiterschreibe. Ich klicke sie an und warte, dass die Nachricht auf dem Bildschirm erscheint. Sie besteht nur aus zwei Worten. Einen Moment lang stehe ich stocksteif da, blinzelnd, kann nicht so ganz verarbeiten, was ich da sehe. Sage Seymour. Sage Seymour, der Filmstar? Sie ist der neue Kunde? Aber ... aber ... wie um alles in der Welt ... Nein. Das kann nicht stimmen. Das ist lächerlich. Luke vertritt keine Filmstars. Aber andererseits würde Bonnie es nicht sagen, wenn nicht ... Sage Seyrnour? Wie ist das passiert? Wann ist er von der Vertretung langweiliger, alter Banken zu Schauspielerinnen übergegangen? Und wieso hüllt er sich derart in Schweigen? Ich hyperventiliere fast. Immer wieder blicke ich auf und sehe mir dann den Bildschirm an, um sicherzugehen, dass da immer noch dasselbe steht. Sage Seymour ist der coolste Filmstar aller Zeiten. Sie war in diesem einen Film über die Nazis. Sie trug dieses atemberaubend nackte Perlenkleid bei den Oscars. Ich wollte sie schon immer, immer, immer mal kennenlernen. Und Luke kennt sie? Er arbeitet für sie? Wieso hat er mir NICHTS ERZÄHLT? Sage Seymour - Google Suche Vorschläge Google Earth Google Maps Google.com Google Wave Google Übersetzung Google Chrome Google Voice Bisherige Suche: sage seymour.luke brandon sage seymour luke brandon neuer public relations manager sage seymour becky brandon sage seymour mode jimmy choo 50 prozent billiger madonna kinder schule claudia schiffer kinder schule pompös luxusparty planung details bescheiden luxusparty planung details parkservice oxshott alexander wang handtasche alexander wang handtasche sonderangebot venetia carter diskreditiert und ruiniert sage seymour pink swimming pool sage seymour neue beste freundin 14 Ich kann nicht fassen, dass Luke mir nichts von Sage Seymour erzählt hat. Nie, nie, niemals würde ich ein so großes Geheimnis vor ihm haben. Ich bin richtig schockiert. Meint er, dass eine Ehe so funktionieren kann? Indem der eine einen Filmstar kennt und dem anderen nichts davon erzählt? Selbstverständlich darf ich ihm nicht sagen, dass ich was weiß, denn damit würde ich Bonnies Vertrauen missbrauchen. Aber ich darf ihm hin und wieder böse Blicke zuwerfen, als wollte ich sagen: »Na, da hat wohl jemand ein mächtig großes Geheimnis, was?«  »Becky, stimmt irgendwas nicht?« Luke sieht mich verwundert an, als er an mir vorbeikommt, mit zwei riesigen Tragetüten auf dem Weg zum Möbelwagen. Die Umzugshelfer sind seit einer Stunde hier, und wir haben fast alles eingepackt. »Nein!« , sage ich spröde. »Was sollte denn wohl nicht stimmen?«  Luke mustert mich einen Moment, dann seufzt er. »Oh, Gott. Jetzt verstehe ich. »Er stellt die Tüten ab und nimmt mich in die Arme. »Ich weiß, dass der Tag heute für dich nicht einfach ist. Natürlich wird es schön, wenn wir erst unser eigenes Zuhause haben, aber hier waren wir auch sehr glücklich! Eine Ära geht zu Ende.«  »Es geht nicht um das Ende einer Ära!«, möchte ich ihn anschreien. Wieso sollte mich das interessieren? Es geht um: »Wieso hast du mich nicht dem berühmten Filmstar vorgestellt?«  Ich kann nicht fassen, dass wir eine dermaßen einmalige Gelegenheit verpasst haben. Wir hätten längst alle zusammen essen gehen können. Wahrscheinlich hätten wir uns richtig gut verstanden. Sage und ich hätten Telefonnummern ausgetauscht und wären total gute Freundinnen geworden, und sie hätte mich in ihr Haus nach Malibu eingeladen, wo sie diesen pink gekachelten Swimmingpool hat. Der sieht einfach unglaublich aus. Ich sehe uns förmlich, auf Luftmatratzen dümpelnd, mit Smoothies in der Hand, über das Leben plaudernd. Sie hätte mir erklären können, wie sie diese unfassbare Farbe in ihr Haar bekommt, und ich hätte ihr genau erklären können, was mit ihrem letzten Freund schief gelaufen ist. (Denn ich bin kein bisschen der Meinung dieses Kolumnisten von Reat! Die Trennung war nicht unvermeidlich!) Und dann hätten wir shoppen gehen können und wären von Paparazzi fotografiert worden und hätten mit Kopftüchern oder irgendwas einen total neuen Trend ausgelöst. Aber Luke schließt mich aus. Vorsätzlich. Er hat keine Überraschungsparty verdient. Ich bin so übellaunig, dass ich es ihm fast sagen möchte. »Becky?« Ich blicke auf und sehe Jess in der Auffahrt. »Viel Glück mit eurem neuen Haus«, sagt sie nüchtern. »Hier ist unser Einzugsgeschenk.« Sie reicht mir eine riesige, pralle Tüte aus dickem, braunem Papier, und ich spähe hinein. Verdammt. Was ist das? »Wow, danke! Ist das ... Zuckerwatte?«, sage ich unsicher. »Dämmmaterial«, sagt Jess. »In diesem Land sind die Häuser erschreckend schlecht isoliert. Verarbeitet es in eurem Dach! Es spart Energie.« »Ausgezeichnet!« Sanft tätschle ich die Tüte. »Und wie geht es dir? Wir haben uns lange nicht gesehen.« »Ich war bei Freunden zu Besuch. Ich versuche, nicht länger als eine Nacht am Stück hier zu sein.« Jess spricht leise, mit düsterer Stimme. »Sie treibt mich in den Wahnsinn. Tom auch.« »Janice?«, flüstere ich mitfühlend zurück. »Redet sie immer noch davon, dass ihr endlich ein Baby kriegen sollt?« »Schlimmer! Sie weiß, dass sie nicht mehr davon anfangen darf, weil Tom sie niederbrüllt. Also ist sie zu anderen Maßnahmen übergegangen.« »Was für Maßnahmen denn?«, sage ich neugierig. »Neulich hat sie mir diesen Kräuterdrink gemacht. Sie meinte, ich würde so einen abgespannten Eindruck machen. Aber ich traue ihr nicht, also habe ich im Netz nachgesehen. Es ist eine natürliche Fruchtbarkeitsarznei. Ein Aphrodisiakum. Sie sieht empört aus. »Tom hatte schon drei Becher davon getrunken!«  »Gibt's ja nicht!« Ich möchte lachen, aber Jess ist so wütend, dass ich mich nicht traue. »Ich wünschte, wir würden auch in unser eigenes Heim ziehen.« Wehmütig betrachtet sie den Möbelwagen. »Und warum tut ihr es nicht?«  »Wir wollen in ein paar Wochen nach Südamerika zurück.« Jess zuckt mit den Schultern. »Es wäre Unsinn. Und dafür haben wir kein Geld übrig. Aber ich sage dir, wenn sie noch einmal so was anzettelt ... « »Kommt und wohnt bei uns!« Mitfühlend drücke ich ihren Arm. »Es wird bestimmt lustig, und ich verspreche dir, dass ich dir kein Fruchtbarkeitsmittel verabreiche.«  »Wirklich?« Jess macht ein überraschtes Gesicht. »Aber Mum und Dad sagen, man darf euch erst besuchen, wenn euer Haus fertig ist.« »Äh ... so ungefähr.« Ich räuspere mich. Ich hatte noch keine Gelegenheit, Jess die Lage zu erklären. Ich rufe sie nachher an, wenn wir in unserem gemieteten Haus sind. »Abfahrbereit?«, ruft Luke. Er hat unser Auto gestern am neuen Haus geparkt, damit wir im Möbelwagen mitfahren können. Das ist das Allercoolste überhaupt. Der Wagen hat vorn zwei Sitzreihen, sodass wir alle Platz finden, sogar Minnie. Sie sitzt schon mit ihrer Snackbox angeschnallt im Kindersitz und schenkt dem Fahrer eine Rosine nach der anderen. (Er heißt Alf und scheint glücklicherweise ein ausgesprochen geduldiger Mensch zu sein.) Wir sollten uns echt einen Laster kaufen, denke ich verträumt. Ich meine, es wäre das perfekte Familienauto. Man muss sich nie wieder Gedanken darum machen, ob man vielleicht zu viel eingekauft hat. Wir könnten alle vorne sitzen, und die Leute würden uns Die Familie im coolen Möbelwagen nennen, und ... »Becky?« Oh. Ups. Alle warten. Ich gehe zu Mum hinüber und schließe sie in die Arme. »Bye, Mum. Und vielen Dank, dass ihr uns so lange ausgehalten habt.«  »Ach, Schätzchen.« Mum winkt ab. »Sei nicht albern.«  Sie sieht Dad an. »Wollen wir ... ?« Dad nickt und räuspert sich unsicher. »Bevor ihr abfahrt, möchte ich noch ein paar Worte sagen«, beginnt er. Luke steigt mit verdutzter Miene aus dem Lkw, und ich zucke mit den Schultern. Ich hatte keine Ahnung, dass Dad eine Rede halten wollte. »Ich dachte eigentlich, dieser Tag würde nie kommen.« Dads Stimme hallt über die gepflasterte Auffahrt. »Unsere Tochter hat ein Haus gekauft!« Er macht eine kurze Pause. »Wir sind sehr, sehr stolz, habe ich recht, Jane?« »Wir haben immer gesagt: Wer um alles in der Welt würde unserer kleinen Becky eine Hypothek geben?«, stimmt Mum mit ein. »Wir waren ziemlich in Sorge, Liebes! Aber jetzt habt ihr ein hübsches Häuschen in Maida Vale!« Ich traue mich nicht, Luke anzusehen. Schweigend stehe ich da, kaue auf meiner Lippe herum und fühle mich zunehmend unwohl. Ich meine, ich weiß ja, dass wir bald ein eigenes Haus haben werden. Also habe ich nicht direkt gelogen. Aber trotzdem. »Und deshalb, aus diesem Anlass ... » Dad räuspert sich und klingt plötzlich so erstickt. »Becky, wir möchten gern, dass du das hier bekommst.« Er reicht mir ein Geschenk, das in Seidenpapier eingewickelt ist. »Oh, mein Gott! Das wäre doch nicht nötig gewesen!« Ich reiße das Papier ab ... und es ist das Bild von der Frau mit den Blumen. So lange wie ich denken kann, hängt das Gemälde oben auf dem Treppenabsatz. »Was ... wie?«  Sprachlos blicke ich auf. »Das kann ich nicht annehmen! Es gehört hierher!«  »Ach, Schätzchen.« Plötzlich bekommt Mum so einen verschleierten Blick. »Als du klein warst, hast du immer gesagt, du wolltest dieses Bild in deinem Zimmer haben. Und ich habe immer gesagt: »Du kannst es haben, wenn du erwachsen bist und dein eigenes Haus hast.« Und das bist du nun, Liebes: eine erwachsene Frau mit einem eigenen Haus.«  Noch nie in meinem ganzen Leben hatte ich ein schlechteres Gewissen. »Tja ... danke, Mum«, stottere ich. »Ich fühle mich wirklich geehrt. Es wird einen Ehrenplatz in unserem Haus bekommen.«  »Vielleicht in dieser hübschen Diele!«, schlägt Mum vor. »Es würde so gut zum Kamin passen.«  »Ja, vielleicht.« Inzwischen stehen meine Wangen in Flammen. Oh, Gott. Es ist unerträglich. Wir müssen dem Anwalt Druck machen und die ganze Angelegenheit beschleunigen. Und sobald wir im richtigen Haus sind, laden wir sie ein und hängen das Bild auf, und alles wird gut. »Du sagst uns Bescheid, wann wir euch besuchen können!«, sagt Mum beschwörend. »Nun ... wir kommen und besuchen euch ganz bald«, sage ich und weiche einer direkten Antwort aus. »Ich ruf dich an, Mum.« Wir klettern beide in die Kabine des Möbelwagens, und AIf sieht zu uns herüber. Er hat so weiße Haare, dass er ohne Weiteres hundertdrei sein könnte, obwohl er offenbar erst einundsiebzig ist. Er hat uns bereits mitgeteilt, dass er eine kaputte Hüfte, eine lädierte Schulter und ein schwaches Herz hat, weshalb die anderen Männer ihn drüben in Empfang nehmen, um beim Ausladen der Kisten zu helfen. »Fertig?«, krächzt er, und sein Goldzahn schimmert. »Ja, los geht's!« »Möchte das junge Fräulein die Rosinen vielleicht wiederhaben?« Er hat die ganze Hand voll, wie ich plötzlich merke. Ein paar davon zerkaut. »Minnie!«, schimpfe ich. »Tut mir so leid. Kommen Sie, geben Sie her ...« Eilig lege ich die Rosinen wieder in Minnies Snackbox, dann atme ich aus, als der Möbelwagen aus der Auffahrt in die Straße einbiegt. »Nun, Madame Hausbesitzerin«, sagt Luke sarkastisch. »Sie müssen ja sehr stolz sein.« »Halt den Mund!« Ich nehme meinen Kopf in beide Hände. »Hör zu ... es wird alles gut.«  Ich warte zwei Tage, dann rufe ich zu Hause an und denk mir irgendwas aus, dass das Haus renoviert werden muss und wir uns irgendwo einmieten. Es wird schon gehen. Und wenn wir das Haus dann haben, laden wir alle zum Essen ein. « »Vielleicht zum Weihnachtsessen.« Luke nickt. »Nächstes Jahr.« »Was?« Entsetzt starre ich ihn an. »Sei nicht albern! So lange wird es doch nicht dauern, bis wir das Haus haben. Der Anwalt meinte, es müsste sich alles schnell klären lassen!« »Was in der Anwaltssprache >Weihnachten nächstes Jahr< bedeutet.« »Nein, tut es nicht ...« »Ist das Ihre Mum?«, unterbricht uns Alf beiläufig. »Bitte?« »Blauer Volvo? Die verfolgen uns.« Er nickt zum Außenspiegel, und ich starre ungläubig hinein. Da sind sie. Fahren uns hinterher, direkt hinter uns. Was soll das werden? Ich nehme mein Handy und tippe Mums Nummer. »Mum, was macht ihr?«, sage ich ohne Einleitung. »Ach, Becky!«, ruft sie. »Jetzt ist die ganze Überraschung hin! Graham, ich habe dir doch gesagt, dass du weiter zurückbleiben sollst! Sie haben uns gesehen!« »Mum, hör gut zu!« Ich weiß, ich klinge barsch, aber ich kann nichts dagegen tun. »Ihr sollt nicht mitkommen! Wir haben doch gesagt, wir geben euch Bescheid, wenn ihr uns besuchen könnt.« »Becky, Schätzchen!« Mum lacht. »Das ist euer erstes Haus! Euer erstes eigenes Zuhause! Es ist uns doch egal, in welchem Zustand es ist!« »Aber ... « »Liebes, ich weiß, was du gesagt hast. Und wenn ich ehrlich sein soll, wollten wir euch auch erst mal allein lassen. Aber dann konnten wir einfach nicht widerstehen! Wir konnten euch nicht einfach so wegfahren lassen, ohne euch zu helfen. Ich habe ein paar Rosinenbrötchen dabei, und Dad bringt sein Werkzeug mit. Wir helfen euch. In null Komma nichts ist alles klar Schiff ... « Mein Herz rast. Unmöglich kann ich sie zu irgendeinem schäbigen Mietshaus mitnehmen. Nicht nachdem Dad diese Abschiedsrede gehalten hat. »Wir könnten sogar eine kleine Runde drehen und eure neuen Nachbarn kennenlernen!« Mum ist noch immer ganz aufgekratzt. »Vielleicht findest du dort gute Freunde, Becky. Ich meine, sieh dir Janice und mich an -nach dreißig Jahren immer noch befreundet. Ich kann mich noch gut an den Tag erinnern, als wir eingezogen sind und Janice mit einer Flasche Sherry herüberkam ... oh, Dad fragt, ob du ihm die Adresse noch mal sagen kannst, falls wir euch verlieren.« Mein Hirn arbeitet auf Hochtouren. »Mum, ich kann dich nicht mehr hören ... die Verbindung ist so schlecht ... « Ich reibe das Handy an meiner Tasche, um irgendwie ein lärmiges Geräusch zu machen, dann stelle ich es ab und sehe Luke an. »Alles okay. Sie wissen die Adresse nicht.« Eindringlich wende ich mich an Alf. »Wir müssen sie abhängen.« »Abhängen?« »Ja, wie im Krimi. Biegen Sie in eine Seitenstraße oder irgendwas ab.« »Seitenstraße?« Er klingt verdutzt. »Was für eine Seitenstraße denn?« »Ich weiß nicht! Suchen Sie eine! Sie wissen schon, wie bei einer Verfolgungsjagd!« Guckt er denn keine Filme? »Ich glaube, meine Frau möchte, dass Sie sehr schnell durch eine schmale Einbahnstraße fahren, entgegen der vorgeschriebenen Richtung, einen Obstkarren umkippen, sämtliche Umstehenden zum Schreien animieren, sich einmal mit dem Wagen überschlagen und auf diese Weise meinen Schwiegereltern entkommen«, sagt Luke trocken. »Ich hoffe doch, Sie sind Möbelwagen-Stuntman?« »Halt die Klappe!« Ich boxe ihn an die Brust. »Bist du dir darüber im Klaren, in welcher Lage wir uns befinden?« »Wenn es nach mir ginge, wären wir nicht in dieser Lage«, sagt er ganz ruhig. »Denn dann hätten wir deinen Eltern von vornherein die Wahrheit gesagt.« Wir kommen zu einer roten Ampel. Mum und Dad halten neben uns und winken fröhlich, und ich winke mit krankem Grinsen zurück. »Okay«, sage ich zu Alf. »Wenn die Ampel umspringt, geben Sie Gas!« »Wertes Fräulein, das hier ist ein Möbelwagen, kein Ferrari.« Die Ampel wird gelb, und ich gestikuliere >Los, los!<, mit beiden Händen. Alf wirft mir einen müden Blick zu und legt in aller Ruhe den ersten Gang ein. Ehrlich. Am liebsten würde ich ihm anbieten, dass ich das Fahren übernehme. »Tut mir leid, Leute. Tankstop.« Alf fährt zu einer Tankstelle, und natürlich folgen uns Mum und Dad in ihrem Volvo. Kurz darauf ist Mum schon ausgestiegen, kommt herüber und klopft an die Tür der Fahrerkabine. »Alles in Ordnung?«, ruft sie herauf. »Natürlich!« Ich kurble die Scheibe herunter und lächle. »Wir müssen nur tanken.« »Denn ich habe hier Janice am Telefon. Du hättest doch nichts dagegen, wenn sie mitkäme, oder, Liebes?« Was? Bevor ich antworten kann, hat Mum sich schon wieder dem Telefon zugewandt. »Ja, wir sind an dieser BP mit der Cafeteria ... bis gleich! Janice und Martin waren gerade unterwegs, auf dem Rückweg von ihrem Yogakurs ...« Sie wendet sich mir zu. »Da kommen sie schon!«  Euphorisch winkt sie, als ein schwarzer Audi auf die Tankstelle einschert. »Juuuuhu!« »Becky!« Janice lehnt sich aus dem Fenster, als der Audi näher kommt. »Du hast doch nichts dagegen, oder, Liebchen? Denn deine Mum hat uns alles über das Haus erzählt. Wie aufregend!«  »Ihr folgt uns«, erklärt Mum Martin. »Und wir folgen dem Möbelwagen.«  Ich fasse es nicht. Wir fahren im Konvoi. »Gib Maida Vale in dein Navi ein«, kommandiert Mum. »Denn falls wir uns doch verlieren sollten ... Becky, wie ist die genaue Adresse?«, ruft sie plötzlich zu mir herüber. »Ich ... äh ... ich sims sie dir ... «  Ich muss ihr die Wahrheit sagen. Ich muss einfach. Hier und jetzt. »Die Sache ist, Mum ...«, Ich schlucke und werfe hilfesuchend einen Blick zu Luke hinüber, doch der ist ausgestiegen und steht draußen vor der Tankstelle, mit dem Handy in der Hand. »Nein, das ist verdammt noch mal nicht okay!«, höre ich ihn sagen. Oh, Gott. Er sieht richtig wütend aus. Was ist passiert? »Becky.« Ich zucke zusammen, als Janice aus heiterem Himmel auftaucht und mich durch die Scheibe anstarrt. Sie trägt ein knallpinkes Yoga-Trikot, bei dem einem die Augen tränen, und dazu bunte Kniestrümpfe und Clogs. Ein dürres, neunzehnjähriges Model könnte mit diesem Look vielleicht noch so eben durchkommen. »Ich wollte nur mal kurz mit dir allein sprechen, wo Luke gerade nicht da ist.« Fast flüstert sie. »Es geht um die P.A.R. T.Y.. Neulich habe ich Hello gelesen. Über diese Royal Fashion Party. Hast du das gesehen?« Ich nicke abwesend, behalte Luke im Auge. Er hat sich vom Möbelwagen entfernt, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass er jemanden anschreit. Und ich bin mir ziemlich sicher, dass es mir lieber wäre, wenn Minnie seine Ausdrücke nicht hört. Streitet er mit Sage Seymour? Bricht er mit ihr, bevor ich überhaupt Gelegenheit hatte, sie kennenzulernen und ihre beste Freundin zu werden? Wenn ja, bringe ich ihn um. » ... und die hatten einen Schminkbereich für die zahlreichen Prominenten!«, endet Janice mit schwungvoller Geste. »Verstehst du?«  Da muss ich wohl irgendwas verpasst haben. »Entschuldige, Janice.« Ich lächle geknickt. Ich hab nicht richtig zugehört. »Ich bin Visagistin, Liebchen«, sagt sie, als sei es offensichtlich. »Und ich würde mich gern freiwillig melden und selbst einen kleinen Make-up-Bereich einrichten. Ich könnte alle Gäste schminken! Es wäre mein Geschenk für Luke!«  Mir fehlen die Worte. Janice ist mitnichten Visagistin. Sie hat einen Kurs an der Volkshochschule belegt und gelernt, wie man Rouge und Highlighter beidhändig auf die Wangen einer Plastikpuppe schmiert. Und jetzt will sie auf meiner Party die Gäste schminken? »Janice ... das ist wirklich lieb von dir«, sage ich so überzeugend wie möglich. »Aber du sollst doch mitfeiern.“ »Wir könnten in Schichten arbeiten!«, sagt sie triumphierend. »Weißt du, ich habe da so ein Team beisammen! Wir waren alle im selben Kurs, also verwenden wir auch alle dieselbe Technik.«  Wenn ich mir ein Team aus mehreren Janices vorstelle, jede mit Glitzerlidschatten in Händen, wird mir etwas schwindlig. »Gut«, presse ich hervor. »Also, das wäre ja wirklich ... was.«  Okay. Das muss mit auf meine Liste, ganz oben. Lass NICHT zu, dass Janice die Gäste schminkt. »Ich geh lieber«, haucht sie theatralisch. »Luke nähert sich bei ein Uhr.« Bevor ich noch etwas sagen kann, verdrückt sie sich zu ihrem Auto, während Luke wieder in den Möbelwagen steigt. »Unglaublich.« Er atmet schnell, und sein Unterkiefer ist steinhart. » Unglaublich. « »Was ist denn?«, sage ich nervös. »Aber nicht fluchen, wenn Minnie dabei ist.« »Becky, ich habe eine schlechte Nachricht.« Luke sieht mich offen an. »Es wird nichts mit dem Haus. Wir können nicht einziehen.« Eine Nanosekunde lang glaube ich, er macht Witze. Aber er zuckt mit keiner Wimper. »Aber ... « »Irgendein Vollidiot beim Maklerbüro hat es an andere vermietet. Die haben es schon übernommen, und unser Makler hat es eben erst gemerkt.« »Aber, es ist doch unser Haus!« Meine Stimme wird ganz laut vor Panik. »Wir brauchen dieses Haus!« »Ich weiß. Und glaub mir, die wissen es inzwischen auch. Sie suchen uns innerhalb der nächsten Stunde eine Alternative, sonst checken wir auf deren Kosten in ein Hotel ein.« Er atmet aus. »Was für eine Scheiße!« Mir wird ein bisschen schwindlig. Das kann doch nicht sein! »Ich sag lieber mal deinen Eltern Bescheid ...« Luke will schon aussteigen. »Nein!«, jaule ich fast. »Das geht nicht!« »Und was schlägst du vor?« Ich sehe, wie Mum mir aus dem Volvo zuwinkt, und im nächsten Augenblick bekomme ich eine SMS. Können wir los, Liebes? »Fahren wir einfach nach Maida Vale.« Ich lecke über meine trockenen Lippen. »Wenn wir Glück haben, ruft der Makler uns unterwegs an. Wir improvisieren irgendwas.« Alf hat sich gerade wieder hinters Lenkrad geklemmt. »Sind wir so weit?« »Ja«, sage ich, bevor Luke antworten kann. »Fahren wir. Los geht's.« Wir brauchen eine gute Stunde bis nach Maida Vale, denke ich. Mindestens. In der Zwischenzeit haben die uns ein anderes Haus gesucht, und da fahren wir dann hin, und alles wird gut. Es muss einfach klappen. Nur dass wir schon nach vierzig Minuten in Maida Vale sind. Ich kann es nicht fassen. Wo ist der ganze Verkehr geblieben? Hat sich denn alles gegen uns verschworen? Wir fahren die Haupteinkaufsstraße entlang und haben immer noch kein Haus. Äußerlich bin ich merkwürdig ruhig, obwohl mein Herz vor Panik galoppiert. Solange wir fahren, ist alles okay. »Fahren Sie langsamer«, sage ich Alf zum wiederholten Mal. »Nehmen Sie irgendeine verschlungene Nebenstrecke. Fahren Sie da rein!«, Ich deute auf eine enge, kleine Straße. »Kein Linksabbieger«, sagt Alf und schüttelt den Kopf. Wir haben Alf die ganze Geschichte erzählt. Oder zumindest hat er sie sich zusammengereimt, nachdem Luke und der Makler sich angeschrien haben. (Glücklicherweise ist Minnie eingeschlafen. Zweijährige verschlafen einfach alles.« Luke hat angefangen, noch andere Immobilienmakler anzurufen, aber bisher hat niemand ein Haus zur Verfügung, in das man innerhalb der nächsten zwanzig Minuten einziehen könnte. Am liebsten würde ich schreien vor Frust. Wo sind die Häuser alle geblieben? Und wo ist der ganze Verkehr? Ich blicke in den Rückspiegel, für den Fall, dass Mum und Dad ausgeschert sind oder sich verirrt haben, doch sie sind immer noch da, kleben an uns wie die Kletten. Luke lauscht seinem Telefon, und ich sehe ihm hoffnungsvoll in die Augen, aber er schüttelt nur den Kopf. »Wohin soll ich denn jetzt fahren?« Alf bleibt an einer Kreuzung stehen, stützt sich mit den Armen auf das vibrierende Lenkrad und sieht mich an. »Ich weiß nicht«; sage ich verzweifelt. »Könnten Sie einfach ... im Kreis fahren?«  »Im Kreis?«Er wirft mir einen bissigen Blick zu. »Sehe ich aus wie ein Taxifahrer?« »Bitte. Nur kurz.« Kopfschüttelnd blinkt AIf links und biegt in eine Wohnstraße ein. Wir fahren an einem Kanal entlang, dann durch eine weitere Wohnstraße und sind mehr oder weniger sofort wieder da, woher wir gekommen sind. »Das war zu schnell!«, sage ich bestürzt. Und natürlich kommt im nächsten Augenblick eine SMS von Mum: Liebes, habt ihr euch verfahren? In dieser Straße waren wir schon. Dad fragt nach der Adresse, damit er sie in sein Navi eingeben kann. »Becky.« Luke hat sein Handy ausgemacht. »Wir können nicht in Maida Vale herumgurken, bis wir ein Haus haben.«  »Kein Glück, Chef?«, sagt AIf. Offenbar ist sein Respekt für Luke gewachsen, seit er mitanhören durfte, wie er den Makler zusammengefaltet hat. Offen gesagt, glaube ich, dass er bei allen bösen Blicken doch seinen Spaß an dem Drama hat. »Nein«, antwortet Luke. »Becky, wir müssen reinen Tisch machen.«  »Nein. Noch nicht. Lass uns ... lass uns Mittagspause machen!«, sage ich spontan. »Wir suchen uns einen Coffee Shop oder irgendwas. Luke, das ist mein Plan: Ich lenke Mum und Dad ab, und du fährst zum Makler und zwingst ihn, uns ein Haus zu geben.«  Langmütig rollt Alf mit den Augen und versucht schon bald, den Laster in eine Parklücke gegenüber einem Cafe Rouge zu manövrieren. Ich sehe, wie auch die anderen halten, und Janice steigt aus, um Martin einzuweisen, mit viel Winken und Zeigen und »Vorsichtig, Martin!«. Ich schnalle Minnie los, und wir steigen alle aus und strecken unsere Beine. Ich fühle mich, als hätten wir eine mörderische Tour hinter uns und wären nicht nur von Oxshott hergefahren. »Hi.« Ich winke den anderen, versuche, heiter und entspannt zu wirken, als wäre das von Anfang an der Plan gewesen. »Was ist los, Schätzchen?« Mum kommt als Erste bei uns an. »Sind wir da?« Sie mustert die Wohnungen über den Läden, als würde sich eine davon plötzlich als Wohnhaus mit Keller und Garten und zwei Stellplätzen entpuppen. »Typisch Becky, über einem Shop einzuziehen.« Martin prustet über seinen eigenen Witz. »Nein, hier wohnen wir doch nicht!« Ich lache so natürlich, wie ich kann. »Wir machen Mittagspause.« Alles schweigt perplex. »Mittagspause, Liebchen?«, sagt Janice schließlich. »Aber es ist erst zwanzig nach zehn.« »Ja, nun. Der ... äh ... Fahrer braucht sein Mittagessen. Gewerkschaftsvorschrift«, improvisiere ich und werfe Alf einen vielsagenden Blick zu. »Stimmt's nicht, Alf?« »Aber wir müssen doch gleich da sein. Das ist doch Quatsch!« »Ich weiß«, sage ich eilig. »Trotzdem: Die Gewerkschaft ist echt streng. Wir haben keine Wahl.« »Ich kann nichts dafür«, sagt Alf, der mitspielt. »Ich hab mir das nicht ausgedacht.« »Du meine Güte«, sagt Dad ungeduldig. »So einen Unsinn habe ich ja noch nie gehört.«  Er wendet sich Alf zu. »Hören Sie. Könnten Sie Becky nicht am Haus absetzen und dann Ihre Mittagspause machen?« »Vorschrift ist Vorschrift«, sagt Alf und schüttelt unerbittlich den Kopf. »Wenn ich mich nicht daran halte, komme ich vor ein Disziplinargericht und bin meinen Job los. Ich gehe und mache meine wohlverdiente Pause, und Sie sagen mir Bescheid, wenn Sie so weit sind, dass wir weiterfahren können, okay?« Er zwinkert mir zu und geht in das Cafe Rouge. Mein Gott, er ist fantastisch. Am liebsten würde ich ihn umarmen. »Also wirklich!« Mum ist außer sich. »Jetzt wissen wir, was mit diesem Land nicht stimmt! Wer hat sich diese Vorschrift eigentlich ausgedacht? Ich werde an die Daily World schreiben, und an den Premierminister ... « Als wir ins Cafe Rouge marschieren, wirft sie Alf einen bösen Blick zu, und er winkt fröhlich zurück. »Wir sollten alle ordentlich was bestellen“, sage ich, als wir einen Tisch finden. »Ich meine, wir werden eine ganze Weile hier sein und auf Alf warten. Nehmt ein Sandwich, ein Croissant, ein Steak ... geht alles auf meine Kappe ... Minnie, nein!« Eilig entferne ich die Zuckerwürfel, bevor sie alle nehmen kann. »Wo ist Luke?«, sagt Mum plötzlich. »Er ist beim Makler«, sage ich wahrheitsgemäß. »Holt bestimmt die Schlüssel«, sagt Dad nickend. »Ich glaube, ich nehme ein Panino.«  Ich versuche, die Mittagspause so lange wie möglich auszudehnen. Allerdings möchte niemand schon morgens um zwanzig nach zehn ein Steak, und man kann nicht unendlich viele Croissants essen. Jeder von uns hatte zwei Cappuccinos, und noch immer hat Luke keine gute Nachricht gesimst, und schon jetzt langweilt sich Minnie mit den Sachen aus der Spielzeugkiste. Und nun werden auch noch Mum und Dad zappelig. »Das ist doch lächerlich!«, sagt Mum plötzlich, als sie sieht, wie sich Alf die nächste heiße Schokolade bestellt. »Ich werde nicht mehr länger darauf warten, dass irgendein Bürokrat von einem Lkw-Fahrer seine Mittagspause zu Ende bringt! Graham, du wartest hier, und Becky und ich gehen zu Fuß. Wir können doch von hier aus laufen, oder, Liebes?«  Nackte Angst packt mich im Nacken. »Ich glaube nicht, dass das eine gute Idee ist, Mum«, sage ich hastig. »Ich denke, wir sollten auf Luke warten und dann alle gemeinsam mit dem Möbelwagen fahren.« »Sei nicht albern! Wir rufen Luke an und sagen ihm, dass wir direkt hingehen. Auf dem Weg können wir die Schlüssel abholen. Wie ist die Adresse? Ist es weit von hier?«  Mum sammelt schon ihre Sachen zusammen und nimmt Minnies Fäustlinge. Das ist nicht gut. Ich muss dafür sorgen, dass alle im Cafe Rouge bleiben. »Ich weiß nicht genau, wo es ist«, sage ich eilig. »Wirklich, wir sollten lieber warten. Bestellen wir doch noch einen Kaffee ... « »Kein Problem!« Janice hat ein kleines, in rotes Leder gebundenes Straßenverzeichnis. »Ich fahre nie ohne irgendwohin«, erklärt sie munter. »Also, wie heißt deine neue Straße, Becky? Ich finde sie im Handumdrehen!« Mist. Alle starren mich erwartungsvoll an. Sobald ich den Straßennamen sage, laufen sie hin und finden alles raus. »Ich ... äh ...« Ich kratze mich an der Nase, um Zeit zu schinden. »Ich ... kann mich nicht erinnern.« »Du kannst dich nicht erinnern?«, sagt Janice unsicher. »Deine eigene Adresse?« »Schätzchen«, sagt Mum mit kaum verhohlener Ungeduld. »Du musst doch wissen, wo du wohnst!« »Ich kann mich einfach nur nicht mehr an den genauen Namen der Straße erinnern! Ich glaube, er fangt an mit ... B an füge ich willkürlich hinzu.«  »Ruf doch Luke an!« »Er geht nicht ran«, sage ich schnell. »Der ist bestimmt beschäftigt.« Mum und Dad tauschen Blicke, als sei ihnen gar nicht klar gewesen, was für ein Schwachkopf ihre Tochter ist. »Ich sitze hier nicht länger rum!« Mum schnalzt mit der Zunge. »Becky, du hast gesagt, es liegt ganz in der Nähe von den Läden. Wir spazieren einfach ein bisschen durch die Gegend, und dann wirst du es schon erkennen, wenn wir da sind. Graham, du bleibst hier und wartest auf Luke.« Sie steht auf. Ich kann nichts machen. Ich werfe Alf einen gequälten Blick zu und rufe: »Wir gehen ein Stück spazieren!« »Jetzt überleg mal, Becky ...«, sagt Mum, als alle -bis auf Dad -auf die Straße drängen. »In welcher Richtung liegt es?« »Äh ... da lang, glaub ich.« Sofort zeige ich in die Richtung, die vom Haus wegführt, und alle traben mir hinterher. »Ist es in der Barnsdale Road?«Janice fährt mit dem Finger den Index ihres Straßenplans ab. »Barnwood Close?«  »Ich glaube nicht ... «  »Becky, Schätzchen!«, bricht es plötzlich aus Mum hervor. »Wie kann es sein, dass du dich nicht an den Namen deiner eigenen Straße erinnerst? Ihr seid Hausbesitzer! Du musst Verantwortung übernehmen! Du musst ...« »Daddy!«, ruft Minnie plötzlich freudig. »Daaaaaddy!« Sie zeigt auf das Büro eines Immobilienmaklers. Da sitzt Luke, im Schaufenster, und macht dem offensichtlich erschütterten Magnus die Hölle heiß. Dreck. Wieso musste ich hier entlanggehen? »Ist das euer Makler?« Mum blickt zu dem Schild mit der Aufschrift Ripley & Co. auf.  »Na, das passt ja gut! »Wir können einfach reingehen und uns die Schlüssel holen! Bravo, Minnie, mein Schatz!« »Luke scheint mir ziemlich ärgerlich zu sein«, bemerkt Janice, als Luke wilde Gesten in Magnus' Richtung macht. »Geht es um die Ablöse, Liebes? Denn da kann ich euch nur raten: Lasst die Finger davon. Sollen sie doch den Duschvorhang mitnehmen. Nicht, dass ihr am Ende vor Gericht landet wie mein Bruder ... «  »Komm schon, Becky!« Mum ist schon halb bei der Tür. »Was ist denn?« Wie angewurzelt stehe ich da. »Mum ... « Meine Stimme klingt etwas erstickt. »Es gibt da was ... was ich dir sagen muss. Ehrlich gesagt ... ich war nicht ganz ehrlich.« Abrupt bleibt Mum stehen. Als sie sich umdreht, hat sie kleine, rosa Flecken auf den Wangen. »Ich wusste es. Ich wusste, dass da irgendwas nicht stimmt. Du hast uns etwas verschwiegen, Becky! Was ist es?« Ihre Miene wird lang, als käme ihr plötzlich ein schrecklicher Gedanke. »Ist es kein Einzelhaus?«  »Nein, es ist ein Einzelhaus, aber ...« »Müsst ihr auf der Straße parken?« Ich höre Janice und Martin scharf einatmen. In Surrey ist einem der eigene Parkplatz heilig. »Nein, das ist es nicht. Es ist. .. « Mein Atem geht so schnell, dass ich kaum sprechen kann. »Es ist. .. « »Mrs. Brandon.« Ein Mann im Anzug, den ich nicht kenne, kommt aus dem Maklerbüro auf den Gehweg hinausgelaufen. »David Ripley -Geschäftsführender Teilhaber.« Er hält mir seine Hand hin. »Bitte, bleiben Sie doch nicht hier draußen in der Kälte stehen! Lassen Sie mich Ihnen wenigstens eine Tasse Kaffee anbieten. Ich bin mir Ihrer unglücklichen Lage wohl bewusst, aber glauben Sie mir, wir tun alles, was in unserer Macht steht, um Ihnen so bald wie möglich ein neues Zuhause zu beschaffen.« Ich kann Mum nicht ansehen. Ich kann niemanden ansehen. Jetzt kann mich nur noch ein plötzlicher Tornado retten. »Becky ein neues Zuhause beschaffen?«, wiederholt Mum zögerlich. »Wir sind untröstlich, was den Irrtum mit dem Mietvertrag angeht«, fährt David Ripley fort. »Ihre Kaution wird natürlich sofort erstattet ... « »Mietvertrag?« Die Schärfe in Mums Stimme erreicht sogar David Ripley, der sich sogleich zu ihr umwendet. »Verzeihung, ist das Ihre Mutter?« Er reicht ihr die Hand. »Nett, Sie kennenzulernen. Lassen Sie mich Ihnen versichern, dass wir alles tun, um Ihrer Tochter ein Haus ... «  »Aber sie hat doch ein Haus!«, sagt Mum schrill. »Sie hat ein Haus gekauft! Wir sind hier, um die Schlüssel abzuholen! Was glauben Sie, was wir sonst hier in Maida Vale wollen?« David Ripley blickt verwirrt von Mum zu mir. »Verzeihung ... habe ich da irgendwas verpasst?«  »Nein«, sage ich, schwitzend vor Scham. »Meine Mutter hat nicht ... alles mitbekommen. Ich muss mit ihr sprechen.« »Ah.« David Ripley hebt die Hände mit vorsichtiger Geste und zieht sich in sein Büro zurück. »Ich bin da drinnen, wenn Sie mich brauchen.« »Mum ... « Ich schlucke. »Ich weiß, ich hätte es dir sagen sollen ... « »Martin, murmelt Janice, und die beiden ziehen sich diskret zurück, um sich das Schaufenster eines Reisebüros anzusehen. Mum steht nur da, runzelt die Stirn -aus Unverständnis und Enttäuschung. Plötzlich ist mir zum Heulen zumute. Meine Eltern waren so stolz auf mich, weil ich mein erstes Haus gekauft habe. Allen ihren Freunden haben sie es erzählt. Und hier stehe ich nun und habe alles versaut, wie üblich. »Es gab eine Verzögerung mit dem Haus«, nuschle ich und starre auf den Bürgersteig. »Und wir haben uns nicht getraut, es euch zu sagen, weil ihr so genervt davon wart, dass wir euer Haus so vollgerümpelt haben. Also haben wir uns irgendwo eingemietet, aber dann wurde daraus auch nichts. Und jetzt ... sitzen wir auf der Straße.« Ich zwinge mich, den Kopf zu heben. »Verzeih mir.« »Wir sind den ganzen Weg hierhergefahren ... und ihr habt gar kein Haus?« »Ja. Ich meine, wir kriegen eins, aber ... « »Du meinst, du hast uns absichtlich getäuscht? Du hast Dad seine kleine Ansprache halten lassen? Du hast dir von uns das Bild schenken lassen? Und es war alles gelogen« »Es war nicht wirklich gelogen .. .« »Und was war es dann?«, explodiert Mum plötzlich, und ich schrecke zurück. »Wir latschen hier durch Maida Vale. Janice und Martin haben sich extra die Mühe gemacht. Wir alle haben Einzugsgeschenke dabei ...« »Aber ich habe euch gesagt, dass ihr nicht mitkommen sollt!«, sage ich trotzig, doch Mum scheint mich nicht zu hören. »Alles, was du tust, Becky, endet in einem Fiasko! Alles sind nur Träumereien! Was wird dein Vater dazu sagen? Weißt du, wie enttäuscht er sein wird?« »Wir kriegen doch aber ein Haus!«  sage ich verzweifelt. »Bestimmt, versprochen! Und bis dahin könnt ihr das Bild wiederhaben.« »Es ist genauso wie mit George Michael ... « »Ist es nicht!«, falle ich ihr ins Wort. »Es ist nicht schon wieder dasselbe wie mit George Michael.« Wütend wische ich mir eine Träne aus dem Auge. »Es gibt nur ... ein kleines Problem.«  »Es gibt immer ein kleines Problem, Liebes! Immer!« Mum ist außer sich. »Mit der Party wird es bestimmt genauso ... « »Nein, wird es nicht!«, brülle ich beinah. »Und ich habe euch nicht darum gebeten, dass ihr den ganzen Weg hierherfahrt, oder? Und auch nicht, dass ihr mir was schenkt! Und wenn du nicht zu Lukes Party kommen möchtest, Mum, dann musst du es auch nicht! Ehrlich gesagt: Lass es lieber sein!«  Inzwischen laufen mir Tränen über die Wangen, und ich sehe, dass Janice und Martin angestrengt die Sonderangebote nach Marokko studieren, als wären sie geradezu fasziniert davon. »Nein!« Betrübt blickt Minnie zu mir auf. »Nein wein!« »Okay.« Plötzlich wird Lukes Stimme laut, und ich blicke auf und sehe ihn zu uns herüberkommen. »Ich hab's geregelt. Sie bringen uns unter ... « Er stutzt und sieht von einem zu anderen. »Was ist los? Was ist passiert?« Mum sagt nichts, kneift nur den Mund zusammen. »Nichts«, murmle ich trübsinnig. »Wir haben nur ... geredet.« »Aha«, sagt Luke, offensichtlich verwirrt. »Na gut, ich habe eine Suite mit drei Zimmern im West Place ausgehandelt, bis sie uns ein neues Quartier besorgt haben.« »Das West Place!« Janice wendet sich vom Schaufenster des Reisebüros ab. »Das war im Fernsehen! Weißt du noch, Martin? Dieses hübsche, neue Hotel mit dem Pool auf dem Dach? Mit den vielen Mosaiken?« »Na ja, ich hab mich nicht abspeisen lassen.« Luke lässt ein Lächeln blitzen. »Wir können heute einziehen, und unsere Sachen werden eingelagert ... « Sein Satz verklingt mit der Spannung, die in der Luft liegt. »Und ... ist dir das recht? Becky?«  »Mum sollte da wohnen.« Die Worte kommen aus meinem Mund, bevor ich sie noch richtig durchdacht habe. »Mum und Dad sollten da einziehen.«  »O-kaaay ... «, sagt Luke zögernd. »Nun, das wäre sicher eine Möglichkeit ... « »Wir haben Mum und Dad so lange auf der Pelle gehockt, und jetzt haben wir sie auch noch enttäuscht. Wir sollten ihnen das Luxusapartment überlassen ... « Ich starre ins Leere. Ich bringe es nicht fertig, Mum anzusehen. Lukes Blick geht zwischen uns hin und her, sucht nach Anhaltspunkten. Ich sehe, dass Janice ihm lautlos etwas zu sagen versucht. »Jane?«, sagt Luke schließlich. »Wäre dir das recht? Eine Weile im West Place zu wohnen?« »Es wäre mir sehr recht«, sagt Mum mit abgehackter, unnatürlicher Stimme. »Danke, Luke. Ich rufe gleich Graham an und sage es ihm.« Mich kann Mum offenbar auch nicht ansehen. Gut, dass wir nicht mehr zusammenwohnen müssen. »Ich geh mit Minnie Schaufenster gucken«, sage ich und nehme Minnie bei der Hand. »Sag mir Bescheid, wenn wir zurückfahren können.« Schließlich sind wir gegen vier wieder zu Hause. Mum und Dad sind vor uns zurückgefahren, haben ein paar Sachen eingepackt, und Luke hat sie in der Luxussuite untergebracht, die anscheinend ziemlich protzig ist. Nicht, dass ich etwas davon hören wollte. Ich habe Minnie ihren Tee gemacht und Peppa Wutz angestellt, sitze am Kamin und starre trübsinnig in die Flammen, als Luke wieder auftaucht. Er kommt herein und betrachtet mich einen Moment. »Becky, jetzt komm schon. Was ist los mit dir und deiner Mum?« »Schscht!«, macht Minnie unwirsch und zeigt auf den Fernseher. »Peppa!« »Nichts.« Ich wende mich ab. »Irgendwas ist doch los«, sagt Luke und geht neben meinem Sessel in die Hocke. »So habe ich euch zwei noch nie erlebt.« Schweigend sehe ich ihn an, als sich die Antworten in meinem Kopf überschlagen. Sie denkt, ich kann dir keine Party schmeißen. Sie denkt, es wird ein Reinfall. Und tief in meinem Inneren fürchte ich, dass sie vielleicht recht haben könnte. »Nur so Mutter-Tochter-Zeug«, sage ich schließlich. »Huuh!« Skeptisch zieht er eine Augenbraue hoch. »Na ja, ich bin froh, dass wir ein bisschen Zeit miteinander haben. Es gibt da etwas, worüber ich mit dir reden muss.« Er zieht sich einen Stuhl heran und betrachtet ihn ein wenig besorgt. »Du hattest recht, Becky«, sagt er freimütig. »Ich habe dir etwas verheimlicht. Und es tut mir leid. Aber ich wollte sicher sein, bevor ich etwas sage.« Augenblicklich bessert sich meine Laune. Er will mir von Sage Seymour erzählen! Ja! Vielleicht treffen wir uns heute Abend! Vielleicht will er uns zum Essen ins Ivy oder so einladen! Ich weiß, dass sie momentan in den Pinewood Studios dreht, weil ich sie gegoogelt habe. (Nur weil ich Anteil an der Karriere meines Mannes nehme, wie es jede wohlmeinende Ehefrau tun würde.) Oh, das würde mir diesen beschissenen Tag echt retten! Und ich könnte dieses Nanette-Lepore-Kleid tragen, das ich noch nie anhatte, mit meinen pinken Vivienne-Westwood Schuhen. »Mach dir keine Gedanken, Luke.« Ich strahle ihn an. »Ich weiß, dass du diskret sein musst.« Vielleicht bittet sie mich, ihre Einkaufsberaterin zu werden! Vielleicht hat Luke mich empfohlen! Ich könnte sie für die Golden Globes einkleiden. Ich meine, sie braucht doch jemanden, der darauf achtet, dass ihr Saum gerade sitzt ... »Ich habe kürzlich einen meiner Kontakte getroffen. Jemanden, der ... Prominente vertritt«. sagt Luke ganz langsam. »Tatsächlich?« Ich versuche, lässig zu klingen. »Was für Prominente denn?« »Hast du zufällig schon mal gehört von ... « Ob ich schon mal von ihr gehört habe? Ist er verrückt geworden? Du meine Güte, sie hat einen Oscar! Sie ist eine der berühmtesten Frauen auf der Welt! »Natürlich habe ich das!«, platze ich heraus, noch während er sagt: » ... einer gewissen Nanny Sue?« Einen Augenblick lang starren wir einander an. »Nanny Sue?«, wiederhole ich schließlich . »Offenbar ist sie Expertin für Kindererziehung.« Luke zuckt mit den Schultern. »Hat eine Fernsehsendung. Ich hatte noch nie von ihr gehört.« Ich bin so frustriert, dass ich ihm eine kleben könnte. Erstens: Selbstverständlich habe ich schon von Nanny Sue gehört, und er kennt sie nur nicht, weil er nicht genug fernsieht. Zweitens: Wieso reden wir über sie und nicht über Sage Seymour? »Ja, hab ich«, sage ich mürrisch. »Ich habe ihr Buch gelesen. Was ist mit ihr?« »Anscheinend will sie ein neues Unternehmen starten. So was wie ... « Er zögert, kann mir nicht in die Augen sehen. »Ein Camp für kindliches Verhaltenstraining. « Das kann nicht sein Ernst sein. »Du willst Minnie in ein Boot Camp schicken?« Fast bleiben mir die Worte im Hals stecken. »Aber ... aber ... das ist doch lächerlich! Sie ist erst zwei! Die würden sie doch gar nicht aufnehmen!« »Offensichtlich machen sie auch Ausnahmen.« Meine Gedanken purzeln vor Entsetzen nur so durcheinander. Da saß ich eben noch glücklich vor dem Kamin und dachte, er wollte mir erzählen, dass wir heute Abend mit einem Filmstar Cocktails trinken. Und stattdessen sagt er mir, er will unsere Tochter wegschicken? »Ist das ... « Ich schlucke. » Wie ein Internat?«  Mir wird ganz flau bei dem Gedanken. Er will sie in ein Internat für aufsässige Kinder schicken. Plötzlich sehe ich Minnie vor mir, im Schulblazer, mit eingezogenem Kopf, wie sie in der Ecke sitzt und ein Schild hält, auf dem steht: »Ich soll nicht sechzehn Mäntel im Internet bestellen.«  »Natürlich nicht!« Luke sieht schockiert aus. »Es soll nur ein Programm für Kinder mit bestimmten Verhaltensauffälligkeiten werden. Und es ist nur eine Idee.« Er reibt an seinem Nacken herum und kann mich immer noch nicht ansehen. »Ich habe schon mit dieser Nanny Sue gesprochen, und sie macht einen sehr verständnisvollen Eindruck. Sie würde herkommen und sich Minnie mal ansehen, wenn wir wollen, und uns dann etwas empfehlen. Also habe ich einen Termin ausgemacht.«  »Du hast was?« Ich kann es nicht glauben. »Du hast schon mit ihr gesprochen?«  »Ich habe mich nur erkundigt, welche Möglichkeiten es gibt.« Endlich sieht Luke mir in die Augen. »Becky, mir gefällt die Vorstellung genauso wenig wie dir. Aber wir müssen irgendwas tun.« Nein, müssen wir nicht! Am liebsten möchte ich ihn anschreien. Und ganz bestimmt müssen wir keine Fremden zu uns ins Haus einladen, damit sie uns sagen, was wir tun sollen! Aber ich merke schon, dass er einen Entschluss gefasst hat. Es ist genauso wie damals in unseren Flitterwochen, als er beschlossen hatte, dass wir mit dem Zug nach Lahore fahren, statt zu fliegen. Er wird nicht nachgeben. Na, schön. Er kann so viele Erziehungsgurus engagieren, wie er will. Niemand nimmt mir meine Minnie weg. Soll Nanny Sue doch kommen und sich die Zähne ausbeißen. Der werd ich's zeigen. Pass mal auf. DR. JAMES LINFOOT 36 HARLEY STREET LONDON W1 Rebecca Brandon The Pines 42 Elton Road Oxshott Surrey                                                                                                                 3. März 2006 Liebe Rebecca, vielen Dank für Ihren Brief vom 1. März. Vom »Schlaf-Shoppen« habe ich noch nie etwas gehört. Daher kann ich Ihnen auch weder die lateinische Bezeichnung dafür nennen noch Ihrem Gatten schreiben und ihm sagen, dass er »Rücksicht auf Ihr Krankheitsbild nehmen« soll. Ich kann Ihnen nur raten, Ihren Hausarzt zu konsultieren, falls die Symptome nicht nachlassen sollten. Mit freundlichen Grüßen, James Linfoot 15 Jetzt spreche ich also nicht mehr mit Mum, und mit Luke spreche ich auch kaum noch. Mehr als eine Woche ist vergangen. Heute kommt Nanny Sue, und ich bin bereit. Ich komme mir vor wie ein Gladiator auf dem Weg in die Arena, voll ausgerüstet mit stacheligen Knüppeln und baumeligen Eisendingern. Aber ich bin immer noch stinksauer auf Luke. Ehrlich gesagt, werde ich immer wütender, je mehr Zeit vergeht. Wie konnte er einen Termin vereinbaren, ohne sich vorher mit mir abzusprechen? Wir sitzen beim Frühstück und haben bisher kaum zwei Worte miteinander gewechselt. Und ganz bestimmt hat keiner von uns Nanny Sue erwähnt. »Möchtest du noch etwas Milch, Minnie?«, sage ich frostig und greife an Luke vorbei zum Krug. Luke seufzt. »Becky, so kann es nicht weitergehen. Wir müssen miteinander reden.« »Schön. Reden wir.« Ich zucke mit den Schultern. »Worüber? Das Wetter?« »Na ja ... was macht deine Arbeit?« »Ist okay.« Klappernd rühre ich meinen Kaffee um. »Wunderbar!« Luke klingt so begeistert, dass mir ganz anders wird. »Bei uns läuft auch alles gut. Sieht so aus, als könnten wir jeden lag mit einem Termin bei Christian Scott-Hughes rechnen. Seit über einem Jahr versucht der Kunde an ihn ranzukommen, und deshalb sind die da ganz aufgeregt.« Jappadappadu. Als würde ich mich für ein schnarchiges Treffen mit Christian Scott-Hughes interessieren. »Toll«, sage ich höflich. »Leider muss ich heute meiner persönlichen Assistentin den Marsch blasen. Nicht so gut.« Er seufzt. »Das kam eher überraschend.« Was? Er muss was tun? Ich hebe den Kopf, kann meine distanzierte Haltung nicht mehr wahren. Er will Bonnie den Marsch blasen? Wie kann er Bonnie den Marsch blasen? Sie ist doch perfekt! Sie ist ein Schatz! »Aber ... ich dachte, du bist ganz begeistert von ihr«, sage ich und gebe mir Mühe, nur mildes Interesse zu zeigen. »Ich dachte, sie ist die beste Assistentin, die du je hattest.« »Das dachte ich auch. Aber in letzter Zeit ist sie ... « Luke zögert. »Ich kann sie nur als ungeeignet bezeichnen.« Ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, dass Bonnie ungeeignet sein könnte. »Was meinst du damit? Was hat sie denn getan?« »Es ist merkwürdig.« Luke wischt mit der Hand über seine Stirn und wirkt ratlos. »Meistens verhält sie sich ausgesprochen diskret und taktvoll. Und dann mischt sie sich in Dinge ein, die sie -offen gesagt -nichts angehen. Wie zum Beispiel, dass sie Bemerkungen zu meinem Duschgel macht!« Luke runzelt die Stirn. »Ich finde solches Verhalten absolut unprofessionell, du nicht?« Ich spüre, wie meine Wangen heiß werden. »Äh ... ich vermute ... « »Es kamen weitere Bemerkungen, die noch taktloser und aufdringlicher waren. Ehrlich gesagt, habe ich sie nicht eingestellt, um mir ihre Ansichten zu meiner Familie oder meinem Haus anzuhören. Oder zur Wahl meiner Krawatten.« Scheiße. Scheiße. Das ist alles meine Schuld. Aber das darf ich ihm nicht sagen, oder? »Na, ich finde, du solltest ihr noch eine Chance geben«, sage ich eilig. »Du willst sie doch nicht grundlos vor den Kopf stoßen, oder? Wahrscheinlich wollte sie nur nett plaudern. Ich kann mir kaum vorstellen, dass sie noch mal indiskret sein wird. Da bin ich mir eigentlich ganz sicher.« Weil ich sie gleich anrufen und ihr sagen werde, dass sie das mit den Vorschlägen lieber lassen soll. Luke mustert mich mit wunderlichem Blick. »Wieso interessiert es dich so? Ich wusste gar nicht, dass du sie kennst.«  »Tu ich auch nicht! Ich finde nur, dass Menschen eine zweite Chance bekommen sollten. Und deshalb finde ich, du solltest auch deiner Assistentin eine zweite Chance geben. Wie heißt sie noch? Bobbie?«, füge ich treuherzig hinzu. »Bonnie«, verbessert mich Luke. »Bonnie.« Ich nicke. »Natürlich. Ich bin ihr nur einmal begegne!«, füge ich hinzu. »Vor einer Ewigkeit.« Ich werfe Luke einen verstohlenen Blick zu, aber er scheint mir nichts zu ahnen. Gott sei Dank. »Ich muss los.« Er steht auf, wischt sich den Mund. »Also ... Ich hoffe, es läuft gut heute.« Er gibt Minnie einen Kuss. »Viel Glück, Spätzchen.« »Sie ist nicht auf der Flucht«, erwidere ich knapp. »Sie braucht kein Glück.« »Na, wie dem auch sei ... sag mir Bescheid, wie es gelaufen ist.« Er macht eine unbeholfene Geste. »Becky, ich weiß, wie dir zumute ist wegen ... heute. Aber ich glaube wirklich, das könnte der Durchbruch sein, den wir brauchen.«  Ich mache mir nicht mal die Mühe, ihm zu antworten. Nie im Leben wird irgendeine kinderstehlende Boot-Camp-Expertin in meiner Familie einen »Durchbruch« erleben. Um zehn Uhr bin ich für sie bereit. Das Haus ist gerüstet, und ich bin gerüstet, und selbst Minnie versucht, in ihrem Marie Chantal-Trägerkleidchen einen braven Eindruck zu machen. Ich habe Recherchen angestellt. Zuerst habe ich mir Nanny Sues Website angesehen und jede einzelne Seite gelesen. Leider steht da noch nichts vom Boot Camp, nur ein Hinweis: »Meine neue Reihe von Verhaltensschulungen für Kinder und Erwachsene wird demnächst beginnen -nähere Einzelheiten später.« Huh. Überrascht mich gar nicht, dass sie damit hinterm Berg hält. Dann habe ich mir alle ihre DVDs gekauft und angesehen. Es ist immer dasselbe Muster. Da gibt es eine Familie mit herumwuselnden Kindern und streitenden Erwachsenen und normalerweise einem alten, kaputten Kühlschrank im Garten oder ungesicherten Steckdosen oder irgendwas. Dann kommt Nanny Sue rein und guckt sich alles an und sagt: »Ich möchte sehen, wer die Ellises wirklich sind«, was heißen soll: »Ihr macht eine ganze Menge falsch, aber ich sag euch noch nicht, was.«  Am Ende schreien sich die Erwachsenen immer an und heulen sich dann schluchzend an Nanny Sues Schulter aus und erzählen ihre Lebensgeschichte. Und jede Woche holt sie ihre kleine Schachtel mit den Taschentüchern raus und sagt feierlich: »Ich glaube, hier geht es nicht nur um das Betragen Ihrer Kinder, was?«, und sie nicken, plaudern alles über ihr Sexualleben oder Probleme bei der Arbeit oder Familientragödien aus, und dazu läuft traurige Musik, und am Ende muss man selbst heulen. Ich meine, es ist komplett berechenbar, und nur komplette Vollidioten fallen auf ihre Tricks rein. Und jetzt will sie das Drama wahrscheinlich noch verschärfen und alle Kinder in ein Boot Camp schicken, irgendwo in der Wüste, in Utah oder Arizona, denn das macht sich dann im Fernsehen noch viel besser, wenn sie sich alle am Ende wiedersehen. Tja, nicht mit mir. Nie im Leben. Ich sehe mich in der Küche um und prüfe nach, ob alles an seinem Platz ist. Ich habe eine riesige Tafel am Kühlschrank aufgehängt, auf der Minnie goldene Sternchen für gutes Benehmen sammeln kann, und die unterste Treppenstufe mit »Stille Treppe« ausgeschildert, und auf dem Tisch liegt ein ganzer Haufen pädagogisch wertvolles Spielzeug. Aber mit etwas Glück tut meine erste Breitseite gleich ihre Wirkung und es kommt gar nicht erst so weit. Auf keinen Fall darf man bei Nanny Sue sagen: »Mein Kind hat keinerlei Probleme.«  Denn dann knöpft sie sich einen vor und findet garantiert welche. Also werde ich schlauer sein. Es klingelt an der Tür, und ich zucke zusammen. »Komm mit, Min«, murmle ich.  Gehen wir und schaffen uns die böse Kinderexpertin vom Hals!« Ich mache die Tür auf, und da steht sie. Nanny Sue höchstpersönlich, mit ihrem typischen, blonden Bob, hübschen, zarten Zügen und rosa Lippenstift. In echt sieht sie viel kleiner aus und trägt Jeans, eine gestreifte Bluse und eine wattierte Jacke, wie eine Reiterin. Ich dachte, sie käme in ihrer blauen Uniform mit dem Hut, wie im Fernsehen. Fast erwarte ich schon, dass die Titelmusik einsetzt und eine Stimme aus dem Off sagt: »Heute wurde Nanny Sue zum Haus der Brandons gerufen ...« »Rebecca? Ich bin Nanny Sue«, sagt sie mit ihrem altbekannten, singenden Tonfall aus dem Südwesten Englands. »Nanny Sue! Gott sei Dank! Wie bin ich froh, dass Sie gekommen sind!«, sage ich dramatisch. »Wir wissen überhaupt nicht mehr, was wir machen sollen! Sie müssen uns helfen, und zwar so schnell wie möglich!« »Ach, ja?« Nanny Sue macht einen verdutzten Eindruck. »Ja! Hat mein Mann Ihnen denn nicht gesagt, wie verzweifelt wir sind? Das ist unsere Minnie. Sie ist zwei.« »Hallo, Minnie. Wie geht es dir?« Nanny Sue hockt sich hin, um mit Minnie zu sprechen, und ich warte ungeduldig, bis sie sich wieder erhebt. »Sie glauben ja nicht, was für Probleme wir mit ihr hatten. Es ist beschämend. Blamabel geradezu. Ich mag es kaum zugeben.« Ich lasse meine Stimme beben. »Sie weigert sich zu lernen, wie man sich die Schuhe zubindet. Ich habe es versucht ... mein Mann hat es versucht ... alle haben es versucht. Aber sie tut es einfach nicht!« Es folgt eine Pause, während der ich weiter die besorgte Mutter spiele. Nanny Sue wirkt etwas erstaunt. Ha! »Rebecca«, sagt sie. »Minnie ist noch sehr jung. Von einem zweijährigen Kind sollte man nicht erwarten, dass es sich die Schuhe selbst zubinden kann.« »Oh!« Augenblicklich strahle ich sie an. »Ach, ich verstehe. Na, dann ist ja alles in Ordnung! Andere Probleme haben wir mit ihr nicht. Vielen Dank, Nanny Sue, bitte schicken Sie meinem Mann die Rechnung. Ich sollte Sie nicht länger aufhalten. Auf Wiedersehen. « Bevor sie noch etwas sagen kann, knalle ich ihr die Tür vor der Nase zu. Sieg! Ich klatsche Minnie ab und will mir schon in der Küche ein Belohnungs-Kit -Kat genehmigen, als es wieder an der Tür klingelt. Ist sie gar nicht weggegangen? Ich spähe durch den Spion, und da steht sie, wartet geduldig auf der Treppe. Was will sie? Sie hat unsere Probleme gelöst. Sie kann gehen. »Rebecca?« Ihre Stimme dringt durch die Tür. »Sind Sie da?« »Hallo!«, ruft Minnie. »Schscht!«, zische ich. »Sei still!« »Rebecca, Ihr Mann hat mich gebeten, Ihre Tochter zu begutachten und Ihnen beiden meine Einschätzung zu unterbreiten. Das ist mir auf Grundlage einer einminütigen Begegnung kaum möglich.« »Sie muss nicht begutachtet werden!«, rufe ich durch die Tür zurück. Nanny Sue reagiert nicht, sondern steht nur da und wartet mit dem gleichen geduldigen Lächeln. Will sie denn keinen freien Tag haben? Wenn ich ehrlich sein soll, weiß ich nicht so richtig weiter. Ich dachte, sie würde einfach abhauen. Was ist, wenn sie Luke erzählt, dass ich sie nicht reinlassen wollte? Was ist, wenn es am Ende wieder einen Riesenkrach gibt? Oh, Gott. Vielleicht ist es einfacher, wenn ich sie reinlasse, sie ihre sogenannte »Beurteilung« macht und ich sie auf diesem Wege loswerde. »Na, schön.« Ich reiße die Tür auf. »Kommen Sie rein! Aber meine Tochter hat keine Probleme. Und ich weiß genau, was Sie vorhaben und was Sie gleich sagen werden. Und eine Stille Treppe haben wir auch schon.«  »Du meine Güte ...« Nanny Sues Augen blitzen kurz auf. »Sie sind ja glänzend vorbereitet, was?« Sie tritt ein und lächelt erst Minnie an, dann mich. »Bitte machen Sie sich keine unnötigen Gedanken. Ich möchte mir nur einen ganz normalen Tag bei Ihnen beiden ansehen. Verhalten Sie sich wie immer, und tun Sie, was Sie sonst auch tun würden. Ich möchte sehen, wer die Brandons wirklich sind.<< Ich wusste es! Sie hat uns die erste Falle gestellt. Im Fernsehen hat die Familie entweder keinen Plan für den Tag, oder das Kind weigert sich, den Fernseher auszumachen, und alle fangen an zu streiten. Aber ich bin ihr so was von voraus. Ich habe mich auf diesen Moment vorbereitet, für alle Fälle. Offen gesagt habe ich ihn mit Minnie geprobt. »Hm, ich weiß nicht«, sage ich nachdenklich. »Was meinst du, Minnie? Wollen wir zusammen etwas backen?« Ich schnalze mit der Zunge. »Ach, da fallt mir ein, dass wir gar kein mühlsteingemahlenes Bio-Mehl mehr haben. Vielleicht könnten wir aus Pappkartons kleine Häuser basteln. Die könntest du dann mit bleifreier Farbe anmalen ...«  Vielsagend sehe ich Minnie an. Das ist ihr Stichwort. Sie soll: »Laufen! Natur!«, sagen. Ich habe es mit ihr eingeübt und alles. Stattdessen starrt sie sehnsüchtig zum Fernseher im Wohnzimmer hinüber. »Peppa Wutz«,  sagt sie. »Mein Peppa Wutz ... «  »Wir können uns heute keine echten Schweinchen ansehen, Schätzchen!«, unterbreche ich sie hastig. »Aber machen wir doch einen kleinen Spaziergang durch die Natur und diskutieren über die Umwelt!« Ich bin richtig stolz auf meine Idee mit dem Spaziergang durch die Natur. Es ist pädagogisch wertvoll und total einfach. Man muss nur hinterhertapern und hin und wieder sagen: »Da ist eine Eichel! Da ist ein Eichhörnchen!« Und schon wird Nanny Sue ihre Niederlage eingestehen. Sie muss uns Höchstnoten geben und zugeben, dass es an einer perfekten Familie einfach nichts zu verbessern gibt, und dann kann Luke nichts mehr sagen. Als ich Minnie ihre Stiefel angezogen habe (klitzekleine UGGs, total niedlich), greife ich in meine Tasche und hole vier dunkelgraue Samtbänder hervor, die ich jeweils am Ende mit einem Klettverschluss versehen habe. Gestern Abend habe ich diese Teile gebastelt, und sie sehen echt hübsch aus. »Wir sollten lieber unsere Stillen Schleifehen mitnehmen«, sage ich großspurig. »Stille Schleifehen?«, erkundigt sich Nanny Sue höflich. »Ja, mir ist aufgefallen, dass Sie in Ihrer Fernsehsendung die Stille Treppe nicht zum Einsatz bringen können, wenn Sie unterwegs sind. Deshalb habe ich >Stille Schleifehen< gemacht. Ganz einfach, aber wirkungsvoll. Man klettet sie einfach an die Jacke des Kindes, wenn es unartig war.«  »Verstehe.« Nanny Sue äußert keine Meinung, aber das liegt bestimmt daran, dass sie vor Neid innerlich brodelt und wünschte, sie wäre selbst darauf gekommen. Ehrlich, ich glaube, ich könnte ohne Weiteres Kinderexpertin werden. Ich habe viel mehr Ideen als Nanny Sue, und ich könnte auch noch Modetipps geben. Ich begleite sie zur Tür hinaus, und wir gehen die Auffahrt hinunter. »Schau, Minnie, ein Vogel!« Ich zeige auf irgendein Viech, das aus einem Baum aufflattert. »Vielleicht ist er vom Aussterben bedroht«, füge ich feierlich hinzu. »Wir müssen die Natur bewahren.«  »Eine Taube?«, sagt Nanny Sue milde. »Ob die vom Aussterben bedroht ist?« »Ich versuche nur, grün zu denken.« Ich werfe ihr einen tadelnden Blick zu. Hat sie denn keine Ahnung von der Umwelt? Eine Weile latschen wir so vor uns hin, und ich deute auf ein paar Eichhörnchen. Dann kommen wir zur Ladenzeile am Ende von Mums Straße, und ich kann nicht verhindern, dass mein Blick nach rechts schweift:, um kurz nachzugucken, was es in dem Antiquitätenladen so zu sehen gibt. »Kaufen!«, sagt Minnie und zerrt an meiner Hand. »Nein, wir gehen nichts kaufen, Minnie.« Nachsichtig lächle ich sie an. »Wir wollen doch durch die Natur spazieren, weißt du noch? Uns die Natur ansehen.« »Kaufen! Taxi!« Zuversichtlich hebt sie ihre Hand und schreit noch lauter: »TAXI! TAAXXIIII!« Gleich darauf kommt das erste Taxi angerattert, hält direkt auf uns zu. »Minnie! Wir nehmen kein Taxi! Ich weiß nicht, warum sie das gemacht hat«, füge ich eilig hinzu. »Es ist gar nicht so, als würden wir ständig Taxi fahren ... « »Minnie!«, höre ich eine laute, fröhliche Stimme. »Wie geht es meiner kleinen Stammkundin?« Verdammt. Es ist Pete, der uns normalerweise zum Shoppen nach Kingston fährt. Ich meine, nicht, dass wir so oft hinfahren. »Pete bringt uns manchmal zum ... zum ... Kinderturnen im Softplay Center«, sage ich eilig zu Nanny Sue. »Tax-iiiii!« Minnie bekommt diesen Blick, wie ein wilder Stier mit roten Bäckchen. Oh, Gott. Im Beisein von Nanny Sue kann ich keinen Wutanfall riskieren. Vielleicht könnten wir ja doch mit dem Taxi irgendwohin fahren. »Also ... « Pete beugt sich aus dem Fenster. »Wohin soll's denn heute gehen, meine Hübschen?« »Starbucks«, artikuliert Minnie deutlich, bevor ich etwas sagen kann. »Starbucks-Shops.« »Wie immer also?«, sagt Pete fröhlich. »Rein mit euch!« Ich spüre, wie mein Gesicht rot anläuft. »Wir wollen nicht zu Starbucks, Minnie!«, sage ich schrill. »Was für eine ... eine verrückte Idee! Würden Sie uns bitte zum Kinderturnen bringen, Pete? In diesem Softplay Center in Leatherhead, wo wir immerzu sind?« Verzweifelt blicke ich ihm tief in die Augen, damit er nicht sagt: »Wovon reden Sie da?«  »Muffin?« Voller Hoffnung blickt Minnie zu mir auf. »Muffin Starbucks?« »Nein, Minnie!«, schnauze ich sie an. »Jetzt sei ein braves Mädchen, sonst kriegst du ein Stilles Schleifchen.« Ich hole die Stillen Schleifchen aus meiner Tasche und schwenke sie unheilschwanger vor ihr hin und her. Augenblicklich greift Minnie danach. »Mein! Meeeiiiin!« Sie soll die Stillen Schleifchen doch nicht haben wollen! »Vielleicht später«, sage ich und stopfe sie wieder in meine lasche. Das ist alles Nanny Sues Schuld. Sie verdirbt mir noch alles. Wir steigen ein, ich schnalle Minnie an, und Pete fahrt los. »Rebecca«, sagt Nanny Sue freundlich. »Wenn Sie Besorgungen zu machen haben, lassen Sie sich von mir bitte nicht aufhalten. Ich komme gern mit zum Shoppen. Ich mache alles mit, was Sie auch sonst tun würden.« »Aber natürlich!« Ich gebe mir Mühe, so locker wie möglich zu klingen. »Heute ist ein ganz normaler Tag! Kinderturnen steht an! Hier, nimm, Schätzchen«, füge ich an Minnie gewandt hinzu und gebe ihr einen Dinkelkeks, den ich aus dem Bioladen habe. Skeptisch sieht sie ihn an, leckt daran, dann wirft sie ihn auf den Boden und schreit: »Muffin! Muffin STARBUCKS!« Mein Gesicht wird puterrot. »Starbucks ist ... der Name von der Katze unserer Freundin«, improvisiere ich verzweifelt. »Und Muffin ist die andere Katze. Minnie liebt Tiere über alles. Stimmt es nicht, Schätzchen?« »Haben Sie den großen Kasten da drüben schon gesehen?«, höre ich Petes fröhliche Stimme von vorn. »Jetzt haben sie ihn endlich aufgemacht!« Wir sind auf der Schnellstraße angekommen. Plötzlich sehe ich, wohin Pete zeigt. Da steht eine riesige, schwarzweiße Plakatwand mit der Aufschrift: HEATHFIELD VILLAGE! NEUES LUXUS OUTLET ZENTRUM ERÖFFNUNG HEUTE! Wow. Seit Ewigkeiten ist davon die Rede, dass das Riesending da eröffnet werden soll. Mein Blick schweift auf der Plakatwand weiter abwärts. HEUTE SPEZIELLE EINFÜHRUNGSANGEBOTE! JEDER KUNDE BEKOMMT EIN GESCHENK! NÄCHSTE AUSFAHRT! Jeder Kunde bekommt ein Geschenk? Ich meine, wahrscheinlich wird es nichts Aufregendes sein. Eine winzige Duftkerze oder ein Stück Schokolade oder so was. Und die Läden dort sind bestimmt auch gar nicht so toll. Außerdem habe ich überhaupt kein Interesse an irgendeinem Einkaufszentrum, weil wir ja auch nicht zum Einkaufen hergekommen sind, oder? Wir sind hergekommen, um etwas pädagogisch Wertvolles zu machen, das unsere Bindung zueinander stärkt. »Guck mal, die Wolken!“, sage ich zu Minnie und zeige eilig aus dem gegenüberliegenden Fenster. »Weißt du, wie Wolken entstehen, Süße? Das geht mit. .. äh ... Wasser.“ Meine ich Wasserdampf? Oder einfach nur normalen Dampf? »Burberry“, sagt Pete interessiert. »Nicht schlecht. Mein Schwiegersohn kriegt das ganze nachgemachte Zeug aus Hong Kong, und der sagt ... „ Burberry? Mein Kopf zuckt herum, und ich sehe die nächste Plakatwand -diesmal mit allen Designern, die sie im Outlet führen. Burberry. Matthew Williamson. Dolce & Gabbana. Oh, mein Gott. Anya Hindmarch. Temperley. Vivienne Westwood? Alles zu Discount-Preisen? Zum Greifen nah? Das Taxi rückt ein Stück vorwärts, und mich ergreift die nackte Panik. Jeden Moment sind wir an der Ausfahrt vorbei. Dann ist es zu spät. Okay, denken wir es mal vernünftig durch. Ich weiß, wir sollten nach Lcatherhead fahren und in einem Bällebad herumhüpfen. Aber andererseits ... Nanny Sue hat gesagt, sie hätte nichts dagegen, wenn wir shoppen gehen würden. Sie hat es wortwörtlich so gesagt. Nicht, dass ich etwas für mich kaufen wollte. Selbstverständlich nicht. Ich halte mein Versprechen. Aber das da ist ein brandneues, hochmodernes Discount-Shopping-Center, das Geschenke verteilt. Wir können nicht einfach daran vorbeifahren. Das wäre ... das wäre ... falsch. Es wäre undankbar. Es wäre gegen die Natur. Und Minnie darf ich ja was kaufen, oder? Es gehört zu den Pflichten einer Mutter, ihr Kind einzukleiden. Ich werfe noch einen Blick auf die Liste. Petit Bateau. Ralph Lauren Girls & Boys. Funky Kids. Baby in Urbe. Ich werde etwas atemlos. Es gibt kein Entrinnen. »Wissen Sie, mir ist gerade was eingefallen. Minnie braucht noch ein paar neue Söckchen.« Ich versuche, beiläufig zu klingen. »Vielleicht könnten wir mal einen Blick in dieses neue Shopping Center werfen, statt zum Turnen zu fahren. Nur so eine Idee. Was meinen Sie?« »Das ist Ihre Entscheidung.« Nanny Sue hebt beide Hände. »Voll und ganz.« »Also, äh, Pete, könnten Sie uns stattdessen zum Outlet bringen?« Ich spreche etwas lauter. »Ich danke Ihnen!« »Dann sollte ich wohl lieber meinen Kofferraum ausräumen, was?« Er dreht sich um und grinst mich an. »Für die vielen Tüten.« Kraftlos lächle ich zurück. Ich werde Nanny Sue nachher erklären, dass er einen echt schrulligen Sinn für Humor hat. »Dann gehen Sie also gern shoppen, Rebecca?«, sagt Nanny Sue freundlich. Ich mache eine Pause, als müsste ich darüber nachdenken. »Nicht gern«, sage ich schließlich. »Gern würde ich nicht sagen. Ich meine, es muss einfach gemacht werden, oder? Es muss ja was im Kühlschrank sein.« Zerknirscht zucke ich mit den Schultern. »Eine verantwortungsvolle Mutter kann sich dem nicht entziehen.« Wir halten vor dem Haupteingang, dessen gigantische Glastüren in ein riesiges, luftiges Atrium führen. Dort stehen Palmen, und Wasser plätschert an einer Stahlwand herab, und als wir eintreten, glitzern mich schon »Valentino« und »Jimmy Choo« aus der Ferne an. Die Luft ist von duftendem Zimtgebäck und dampfenden Cappuccino-Maschinen erfüllt, gemischt mit teuren Leder-und Designerdüften und einfach ... Neuheit. »Und wohin müssen Sie?«, fragt Nanny Sue mit einem Blick in die Runde. »Wir suchen Söckchen, richtig?« »Ich ... äh ...« Ich kann kaum geradeaus denken. Mulberry ist direkt vor uns, und ich habe schon eine traumhafte Tasche gesehen. »Mh ... « Ich muss mich zusammenreißen. »Ja. Söckchen.« Kindersöckchen. Nicht Valentino. Nicht Jimmy Choo. Nicht Mulberry. Oh, Gott, ich frage mich, was diese Tasche wohl kosten mag ... Aufhören. Nicht hinsehen. Ich kaufe nichts für mich. Ich denke nicht mal daran. »Mein! Meeeeiiiinn Püppi!« Minnies Stimme reißt mich in die Gegenwart zurück. Sie steht draußen vor Gucci und deutet auf eine Schaufensterpuppe. »Das ist kein Püppchen, Süße. Das ist eine Schaufensterpuppe! Komm.« Ich nehme sie fest bei der Hand und führe sie zum Wegweiser. »Wir kaufen dir ein paar Söckchen.« Wir machen uns auf den Weg zur Kid Zone, in der sich alle Kindergeschäfte befinden. Da gibt es einen Clown, der die Kunden begrüßt, und Stände voller Spielzeug, und der ganze Bereich kommt einem eher wie ein Jahrmarkt vor. »Buch!« Minnie ist schnurstracks zu einem der Stände gelaufen und hat sich ein großes, rosafarbenes Buch mit Feen geschnappt. »Mein Buch.« Ha! Zufrieden werfe ich Nanny Sue einen Blick zu. Meine Tochter hat sich für ein pädagogisch wertvolles Buch entschieden, nicht für irgendwelchen Plastikschrott! »Selbstverständlich darfst du dir ein Buch kaufen, Minnie«, sage ich laut. »Wir bezahlen es von deinem Taschengeld. Ich bringe Minnie nämlich Finanzplanung bei«, füge ich an Nanny Sue gewandt hinzu. »Ich schreibe alles auf, was wir von ihrem Taschengeld kaufen.« Ich zücke mein kleines, pinkes Smythson-Büchlein, auf dem vorn »Minnies Taschengeld« steht. (Ich habe es extra prägen lassen. Es war ziemlich teuer, aber es ist ja auch eine Investition in das ökonomische Verantwortungsbewusstsein meiner Tochter.) »Männlein!« Minnie hat sich außer dem Buch noch eine Puppe geschnappt. »Mein Männlein! Meeeiiin!« »Äh ...« Skeptisch betrachte ich die kleine Puppe. Sie ist ganz süß, und wir haben kaum Puppen. »Na gut, okay. Solange du sie von deinem Taschengeld bezahlst. Verstehst du, Süße?« Ich spreche superdeutlich: »Wir müssen sie von deinem Taschengeld bezahlen!« »Sagen Sie mal!«, meint Nanny Sue, als wir zur Kasse gehen. »Wie viel Taschengeld bekommt Minnie denn?« »Fünfzig Pence die Woche«, antworte ich und greife nach meinem Portemonnaie. »Aber wir haben ein System, bei dem sie einen Vorschuss bekommen kann und ihn dann zurückzahlt. So lernt sie Finanzplanung. « »Verstehe ich nicht«, beharrt Nanny Sue. »Inwiefern lernt sie Finanzplanung?« Ehrlich. Für eine sogenannte Expertin ist sie ganz schön langsam. »Weil alles in dem Büchlein festgehahen wird.« Ich schreibe die Kosten für das Feen-Buch und die kleine Puppe auf, klappe das Büchlein zu und strahle Minnie an. »Komm, wir suchen dir ein paar Söckchen!« Mein Gott. Ich liebe Funky Kids. Sie ändern jede Saison ihr Dekor, und heute ist der ganze Laden als Scheune hergerichtet, mit Holzbalken und nachgemachten Strohballen. Die haben fantastische Sachen für Kinder, zum Beispiel lustige, kleine Strickjäckchen mit Kapuzen und wattierte Mäntel mit applizierten Flicken. Ich finde geradezu anbetungswürdige Söckchen mit Kirschen und Bananen um den Saum, zum halben Preis für 4.99, und lege zwei Paar davon in meinen Korb. »Schön«, sagt Nanny Sue resolut. »Gut gemacht. Wollen wir zur Kasse gehen?« Ich antworte nicht. Ein Ständer mit Trägerkleidchen hat mich abgelenkt. Die habe ich schon im Katalog gesehen. Sie sind aus mintgrünem Feincord mit weißer Bordüre aus Kreuzstichstickerei. Sie sind absolut hinreißend und um 70 % herabgesetzt! Eilig sondiere ich die Ständer, aber es gibt kein einziges für Zwei-bis Dreijährige. Natürlich nicht. Die sind schon weg. Verdammt. »Entschuldigung?«, sage ich zu einer vorbeihastenden Verkäuferin. »Gibt es die hier auch in Größe 2-3?« Augenblicklich verzieht sie das Gesicht. »Tut mir leid. Ich glaube, in der Größe haben wir keine mehr. Die sind sehr gefragt.« »Braucht Minnie denn unbedingt so ein Kleidchen?«, erkundigt sich Nanny Sue, als sie hinter mich tritt. Langsam habe ich genug von Nanny Sue und ihrer sinnlosen Fragerei. »Die sind außergewöhnlich preiswert«, sage ich ganz ruhig. »Ich finde, als verantwortungsvolle Mutter sollte man immer nach preiswerten Sonderangeboten Ausschau halten, finden Sie nicht auch, Nanny Sue? Wenn ich es recht bedenke ... « Plötzlich kommt mir eine Idee. »Ich glaube, ich bunkere eins für nächstes Jahr.« Ich nehme ein Kleidchen für Drei-bis Vierjährige. Wieso ist mir das nicht gleich eingefallen? Ich nehme auch noch ein rotes und gehe zu dem Ständer mit den pinken Regenmänteln mit den Blumenkapuzen. Da gibt es überhaupt keine kleinen Größen, aber ich finde eine Größe 7-8. Ich meine, Minnie wird schließlich einen Mantel brauchen, wenn sie sieben ist, oder? Und da gibt es ein wirklich süßes Samtjäckchen für Zwölfjährige, für nur 20, heruntergesetzt von 120! Es wäre doch ein totaler Fehler, es nicht zu kaufen. Ich kann gar nicht fassen, wie vorausschauend ich bin, während ich immer mehr Sachen in meinen Korb lege. Ich habe praktisch alle entscheidenden Kleidungsstücke für die nächsten zehn Jahre gekauft, spottbillig! Jetzt braucht sie nichts mehr! Als ich den ganzen Stapel bezahle, glühe ich förmlich vor Selbstzufriedenheit. Ich habe Hunderte gespart. »Schön!« Nanny Sue scheinen ein wenig die Worte zu fehlen, als die Kassiererin mir drei riesige Tüten reicht. »Da haben Sie doch erheblich mehr als nur ein paar Söckchen gekauft! « »Hab nur vorausgedach« Ich nehme einen weisen, mütterlichen Ton an. »Kinder wachsen so schnell. Das darf man nicht vergessen. Wollen wir jetzt einen Kaffee trinken« »Starbucks?«, stimmt Minnie sofort mit ein. Sie hat darauf bestanden, den pinken Regenmantel Größe 7-8 zu tragen, obwohl er am Boden schleift. »Starbucks-Muffin?« »Vielleicht sollten wir lieber gleich zu einer Coffee-Shop Kette gehen.« Ich versuche, bedauernd zu klingen. »Es könnte sein, dass es hier keine Bioläden gibt.« Ich konsultiere den Lageplan -um zum Cafe-und Restaurantbereich zu kommen, müssen wir an allen Designer-Shops vorbei. Was okay ist. Es wird schon gehen. Ich werde einfach nicht in die Schaufenster gucken. Als wir drei loslaufen, ist mein Blick starr geradeaus gerichtet, auf diese spitze, moderne Skulptur, die von der Decke hängt. Es geht schon. Es macht mir nichts aus. Ich habe mich daran gewöhnt, nicht shoppen zu gehen. Es fehlt mir fast überhaupt nicht ... Oh, mein Gott, da ist dieser Burberry-Mantel mit den Rüschen, der sogar auf dem Laufsteg war. Gleich da im Fenster. Ich frage mich, wie viel ... Nein. Geh weiter, Becky. Nicht hinsehen. Ich schließe die Augen, bis sie nur noch zwei schmale Schlitze sind. Ja, das ist gut. Wenn ich die Läden nicht richtig sehen kann ... »Ist alles in Ordnung?« Plötzlich sieht mich Nanny Sue an. »Rebecca, sind Sie krank?« »Es geht mir gut!« Meine Stimme klingt ein wenig erstickt. Es ist so lange her, seit ich zuletzt shoppen war. Ich merke, dass sich in mir ein gewisser Druck aufbaut, eine Art brodelnde Verzweiflung. Aber ich muss sie ignorieren. Ich habe es Luke versprochen. Ich habe es versprochen. Denk an was anderes. Ja. Zum Beispiel daran, wie ich in dem Schwangerschaftskurs war und man mir gesagt hat, ich solle atmen, um mich von den Schmerzen abzulenken. Ich werde atmen, um mich vom Shoppen abzulenken. Einatmen ... ausatmen ... einatmen ... oh, mein Gott, das ist ein Temperley-Kleid. Meine Beine sind stehen geblieben. Es ist ein weißgoldenes Temperley-Abendkleid in einem Laden, der Fifty Percent Frocks heißt. Es hat eine atemberaubende Stickerei um den Hals, reicht bis auf den Boden und sieht aus, als wäre es bis eben noch auf dem roten Teppich gewesen. Und daneben steht ein Schild, auf dem steht »Heute noch mal 20% billiger«. Ich kralle meine Finger um meine Einkaufstüten, als ich durch die Scheibe starre. Ich darf dieses Kleid nicht kaufen. Ich darf es nicht mal ansehen. Aber irgendwie ... kann ich mich auch nicht rühren. Wie angewurzelt stehe ich auf dem polierten Marmorboden. »Rebecca?« Auch Nanny Sue ist stehen geblieben. Sie betrachtet das Kleid und schnalzt missbilligend mit der Zunge. »Diese Kleider sind schrecklich teuer, nicht? Sogar noch heruntergesetzt. « Was anderes fällt ihr dazu nicht ein? Das ist das schönste Kleid auf der Welt, und es kostet nur einen Bruchteil dessen, was es normalerweise kosten würde, und wenn ich Luke nicht dieses dämliche Versprechen gegeben hätte ... Oh, mein Gott. Ich habe die Lösung. Im Grunde könnte es die Lösung für so vieles sein. »Minnie.« Abrupt drehe ich mich zu ihr um. »Mein süßes, allerliebstes kleines Mädchen.« Ich beuge mich zu ihr herab und nehme ihr Gesicht in beide Hände. »Schätzchen ... hättest du gern ein Temperley-Kleid als Geschenk zu deinem einundzwanzigsten Geburtstag?« Minnie antwortet nicht, was nur daran liegt, dass sie nicht versteht, was ich ihr da anbiete. Wer möchte kein Temperley-Kleid zu seinem einundzwanzigsten Geburtstag? Und bis sie einundzwanzig wird, ist es ein seltenes Vintage-Stück! Ihre Freundinnen werden alle total neidisch sein! Sie werden sagen: »Gott, Minnie, ich wünschte, meine Mutter hätte mir so ein Kleid gekauft, als ich zwei war.Die Leute werden sie Das Mädchen mit dem Vintage-Temperley-Kleid nennen.«  Und ich könnte es mir für Lukes Party leihen. Nur um es für sie auszuprobieren. »Muffin?«, sagt Minnie hoffnungsvoll. »Kleid«, sage ich mit fester Stimme. »Das ist für dich, Minnie! Es ist dein Geburtstagsgeschenk!« Entschlossen führe ich sie in den Laden und ignoriere Nanny Sues erstaunten Blick. Ich brauche zehn Sekunden, um den Laden zu überschauen und festzustellen, dass das Temperley-Kleid das Beste ist, was sie haben. Ich wusste, dass es ein guter Deal ist. »Hi«, sage ich atemlos zu der Verkäuferin. »Ich möchte bitte gern das Temperley-Kleid. Oder besser ... es ist für meine Tochter. Ich kaufe es im Voraus ... offensichtlich!«, füge ich mit einem kleinen Lachen hinzu. »Für ihren einundzwanzigsten Geburtstag.« Die Verkäuferin starrt Minnie an. Dann mich. Dann ihre Kolleginnen, als bräuchte sie Hilfe. »Bestimmt hat sie später mal dieselbe Kleidergröße wie ich«, füge ich hinzu. »Also probiere ich es für sie an. Gefällt dir das hübsche Kleid, Minnie?« »Nein Kleid.« Ihre Stirn runzelt sich zusammen. »Süße, es ist ein Temperley.« Ich halte den Stoff hoch, um ihn ihr zu zeigen. »Du wirst zauberhaft darin aussehen! Eines Tages.« »Nein Kleid!« Sie rennt zum anderen Ende des Ladens und klettert in eine offene Vorratsschublade. »Minnie!«, rufe ich. »Komm da raus! Entschuldigen Sie ... «, rufe ich über meine Schulter hinweg der Verkäuferin zu. »Muffin!«, schreit sie, als ich versuche, sie mit Gewalt herauszuhieven. »Will Muffin!« »Du kriegst einen Muffin, sobald wir das Kleid haben«, sage ich beschwichtigend. »Es geht ganz schnell ... « »Nein Kleid!« Irgendwie entwindet sie sich meinem Griff und krabbelt ins Schaufenster. »Püppi! Mein Püppi!« Jetzt greift sie sich die nackte Schaufensterpuppe. « Minnie, hör bitte auf damit, Süße!« Ich gebe mir Mühe, nicht so entsetzt zu klingen, wie ich in Wirklichkeit bin. »Komm zurück!« ,>Mein Püppi!« Sie reißt die Puppe komplett vom Sockel, sodass sie krachend auf den Boden fällt, und nimmt sie in die Arme. ,>Meeeiiiin!« »Komm da runter, Minnie!«, sage ich. »Das ist keine Püppi! Sie denkt, es ist eine Puppe«, füge ich zur Verkäuferin gewandt hinzu und bemühe mich um ein unbekümmertes Lachen. »Sind Kinder nicht urkomisch?« Die Verkäuferin lacht nicht zurück. Sie lächelt nicht mal. »Würden Sie sie bitte dort herunterholen?«, sagt sie. »Natürlich! Tut mir leid ... « Rotgesichtig versuche ich, Minnie mit aller Kraft von der Puppe wegzureißen. Doch sie saugt sich daran fest wie eine Napfschnecke. »Komm schon, Minnie!« Ich versuche, entspannt und nachdrücklich zu klingen. »Komm, Schätzchen. Runter da!« »Nein!«, kreischt sie. »Mein Püppiiiii!« »Was ist hier los?«, bellt jemand hinter mir. »Was macht dieses Kind da? Könnte es vielleicht mal jemand zurückrufen?« Mein Magen krampft sich zusammen. Ich kenne diese schnarrende, weinerliche Stimme. Ich fahre herum -und tatsächlich ist es die Elfe, die uns aus der Weihnachtsmannwerkstatt verbannt hat. Noch immer hat sie lila Fingernägel und ein lächerlich sonnenstudiogebräuntes Dekollete, doch jetzt trägt sie ein schwarzes Kostüm mit einem Schild, auf dem steht »Assistant Manager«  »Sie!« Ihre Augen werden schmal. »Oh, hi«, sage ich nervös. »Nett, Sie wiederzusehen. Wie geht es dem Weihnachtsmann?« »Würden Sie bitte Ihr Kind entfernen?«, sagt sie spitz. »Äh ... okay. Kein Problem.« Ich sehe Minnie an, die sich nach wie vor an die Schaufensterpuppe klammert, als hinge ihr Leben davon ab. Ich werde sie nur dort wegbekommen, indem ich jeden Finger einzeln zurückbiege. Ich werde zehn Hände brauchen. »Könnten wir die Schaufensterpuppe vielleicht ... kaufen?« Als ich den Gesichtsausdruck der Sonnenstudio-Elfe sehe, wünsche ich mir nur, ich hätte diese Frage nie gestellt. »Komm, Minnie, jetzt aber runter da!« Ich versuche, forsch und fröhlich zu klingen, wie eine Mutter in einer Waschmittelwerbung. »Bye-bye, püppi.« »Neeeeeeiiiinnn!« Sie klammert sich noch fester. »Runter da!« Mit aller Kraft schaffe ich es, eine Hand zurückzubiegen, aber sofort krallt sie sich wieder fest. »Meeeeiiin!« »Holen Sie Ihre Tochter von dieser Schaufensterpuppe!«, fährt mich die Elfe an. »Da kommen Kunden! Schaffen Sie sie da runter!« »Ich versuche es ja!«, sage ich verzweifelt. »Minnie, ich kauf dir eine püppi. Ich kaufe dir zwei Püppis!« Ein paar Mädchen mit Einkaufstüten sind stehen geblieben, um uns zuzusehen, und eine fängt an zu kichern. »Minnie, gleich kriegst du ein Stilles Schleifchen!« Mir ist total heiß und schwummerig. »Und du kommst auf die Stille Treppe! Und du kriegst nie wieder was Süßes! Und der Weihnachtsmann zieht auf den Mars, und die Zahnfee auch ...« Ich packe sie bei den Füßen, aber sie tritt mir ans Schienbein. »Autsch! Minnie!«  »Püppiiiiiii!«, heult sie. »Wissen Sie was?«, bricht es plötzlich aus der Elfe hervor. »Nehmen Sie die Schaufensterpuppe! Nehmen Sie die verdammte Puppe einfach mit!«  « Mitnehmen?« Ich starre sie an, verdutzt. « Ja! Egal! Gehen Sie endlich! GEHEN SIE! RAUS!«  Minnie liegt noch immer der Länge nach auf der Schaufensterpuppe und klammert sich mit aller Kraft daran. Unbeholfen hebe ich die Puppe mit beiden Händen auf und schleppe sie wie eine Leiche hinter mir her. Ächzend vor Anstrengung bringe ich es irgendwie fertig, sie bis vor die Tür zu manövrieren -dann lasse ich sie fallen und blicke auf. Nanny Sue ist uns mit meinen drei Einkaufstüten gefolgt. Jetzt beobachtet sie mich und Minnie mit undurchschaubarer Miene. Und plötzlich ist es, als erwachte ich aus einer Trance. Plötzlich sehe ich alles, was eben passiert ist, mit Nanny Sues Augen. Ich schlucke mehrmals, versuche, mir irgendeine unbekümmerte Bemerkung wie »Tja, so sind Kinder... was soll man machen?«,  zu überlegen. Aber mir will nichts einfallen, und außerdem ist mein Mund sowieso total ausgetrocknet. Wie konnte ich das geschehen lassen? Im Fernsehen wird nie jemand aus einem Laden rausgeworfen. Ich bin schlimmer als die ganzen Familien mit ihren alten Kühlschränken im Garten. Was wird sie wohl in ihrer Beurteilung schreiben? Was wird sie Luke erzählen? Was wird sie ihm raten? »Haben Sie jetzt genug eingekauft?«, sagt sie mit ganz normaler, freundlicher Stimme, als würden uns nicht sämtliche Passanten anstarren. Ich nicke schweigend, mit brennenden Wangen. »Minnie«, sagt Nanny Sue. »Ich glaube, du tust der armen Püppi weh. Wollen wir sie jetzt loslassen und dir was Leckeres kaufen? Wir könnten ja auch Püppi was kaufen.« Minnie dreht sich um und sieht Nanny Sue einen Moment misstrauisch an -dann klettert sie von der Puppe herunter. « Braves Mädchen«, sagt Nanny Sue. »Wir lassen die Püppi da, wo sie wohnt.« Sie hebt die Puppe auf und lehnt sie an die Tür. »Und jetzt suchen wir dir was Hübsches zu trinken. Sag: »Ja, Nanny Sue.« »Aah, Nanny Sue«, plappert Minnie ihr gehorsam nach. Hä? Wie hat sie das gemacht? »Rebecca, kommen Sie?« Irgendwie schaffe ich es, meine Beine in Gang zu bringen, und laufe mit ihnen los. Nanny Sue fangt an zu reden, aber ich höre kein Wort davon. Die Sorge macht mich krank. Sie wird ihren Bericht abgeben und sagen, dass Minnie eine Spezialbehandlung in einem Boot Camp braucht. Ich weiß es genau. Und Luke wird auf sie hören. Was soll ich nur tun? Um neun Uhr abends bin ich völlig neben der Spur, laufe auf und ab und warte darauf, dass Luke nach Hause kommt. Es ist der schlimmste Moment in unserer Ehe. Mit Abstand. Mit Millionen Meilen Abstand. Denn wenn es hart auf hart geht, bleibt mir gar nichts anderes übrig, als Minnie irgendwo in Sicherheit zu bringen und Luke nie wiederzusehen und unsere Namen notariell ändern zu lassen und meine Trauer mit Alkohol und Drogen zu ertränken. Na, gut. Schlimmstenfalls. Als ich seinen Schlüssel in der Tür höre, erstarre ich. »Becky?« Er erscheint in der Küchentür. »Ich dachte, du rufst mich an! Wie ist es gelaufen?« »Prima! Wir waren shoppen und ... äh ... Kaffee trinken.« Ich klinge total aufgesetzt und steif, aber Luke scheint nichts davon zu merken, was nur wieder mal zeigt, wie aufmerksam er ist. »Und was hat sie über Minnie gesagt?« »Nicht viel. Du weißt schon. Ich denke, sie wird sich wohl wieder melden. Wenn sie ihre Schlussfolgerungen gezogen hat.« »Hmm.« Luke nickt, lockert seinen Schlips. Er geht zum Kühlschrank, dann bleibt er am Tisch stehen. »Dein BlackBerry blinkt.« »Ach, ja?«, sage ich mit gespielter Überraschung. »Oh, dann habe ich wohl eine Nachricht bekommen! Willst du sie abhören? Ich bin soooo müde.« »Wenn du möchtest.« Luke wirft mir einen merkwürdigen Blick zu, nimmt das Gerät und wählt die Mailbox an, während er sich eine Flasche Bier aus dem Kühlschrank holt. »Das ist sie.« Abrupt blickt er auf. »Es ist Nanny Sue.« »Wirklich?« Ich versuche, erstaunt zu klingen. »Na ... dann stell sie doch auf Mithören!« Während die Küche von den gedehnten Vokalen Südwestenglands erfüllt ist, lauschen wir beide regungslos. » ... folgt ein vollständiger Bericht. Ich wollte nur kurz sagen, dass Minnie ein zauberhaftes Kind ist. Es war mir ein Vergnügen, den Tag mit ihr und Ihrer Frau zu verbringen. Beckys erzieherisches Talent ist tadellos, und ich kann in Ihrer Familie keinerlei Probleme erkennen. Herzlichen Glückwunsch! Auf Wiederhören. « »Wow!«, rufe ich, nachdem aufgelegt wurde. »Wenn das nicht erstaunlich ist! Da können wir die ganze Episode ja jetzt hinter uns lassen und zu Wichtigerem übergehen.« Luke hat bisher mit keiner Wimper gezuckt. Jetzt wendet er sich um und sieht mich lange und eindringlich an. »Becky.« »Ja?« Ich werfe ihm einen nervösen Blick zu. »War das zufällig Janice, die mit Akzent gesprochen hat?« Was? Wie kann er so was auch nur sagen? Ich meine, okay, es war Janice, aber sie hat ihre Stimme perfekt verstellt. Ich war echt beeindruckt. »Nein!« Ich plustere mich auf. »Das war Nanny Sue, und ich bin echt gekränkt, dass du mich so was fragst.«  »Gut. Na, ich ruf sie gleich mal an und rede mit ihr.« Er holt seinen BlackBerry hervor. »Nein, nicht!«,  jaule ich. Wieso ist er so misstrauisch? Das ist kein feiner Charakterzug. Das werde ich ihm eines Tages mal sagen. »Du störst sie nur«, improvisiere ich. »Es gehört sich nicht, so spät noch anzurufen.«  »Das ist deine einzige Sorge, ja?« Er zieht die Augenbrauen hoch. »Dass es sich nicht gehört?« »Ja«, sage ich trotzig. »Natürlich.« »Na, dann schick ich ihr eine Mai!.« Oh, Gott. Das läuft nicht wie geplant. Ich dachte, ich könnte wenigstens etwas Zeit schinden. »Okay, okay! Es war Janice«, sage ich verzweifelt, als er schon tippt. »Aber ich hatte keine Wahl! Luke, es war schrecklich. Es war eine Katastrophe. Minnie ist aus einem Laden rausgeflogen, und sie hat eine Schaufensterpuppe gestohlen, und Nanny Sue hat nichts gesagt, hat mich nur so angesehen, und ich weiß genau, was sie uns empfehlen wird, aber ich kann Minnie nicht in irgendein Boot Camp in Utah schicken! Ich kann es einfach nicht. Und wenn du mich zwingst, muss ich eine richterliche Verfügung erwirken, und wir gehen vor Gericht, und dann sind wir wie Kramer gegen Kramer, und sie ist für ihr Leben gezeichnet, und alles ist nur deine Schuld! « Aus heiterem Himmel laufen mir Tränen über das Gesicht. »Was?« Ungläubig starrt Luke mich an. »Utah?« »Oder Arizona. Oder wo das auch sein mag. Ich kann das nicht, Luke.« Ich reibe mir die Augen und fühle mich genau wie Meryl Streep. »Verlang das nicht von mir!« »Ich verlange doch nichts von dir! Himmel!« Er scheint absolut perplex zu sein. »Verdammte Scheiße, wer hat denn was von Utah gesagt?« »Ich ... äh ... « Ich bin nicht mehr ganz sicher. Irgendwer bestimmt. »Ich habe diese Frau engagiert, weil ich dachte, sie könnte uns ein paar Ratschläge zur Kindererziehung geben. Wenn es hilfreich ist, nutzen wir sie. Wenn nicht, dann nicht.« Luke klingt dermaßen sachlich, dass ich ihn überrascht anblinzle. Plötzlich fällt mir ein, dass er die Sendung noch nie gesehen hat. Er weiß nicht, wie Nanny Sue in dein Leben eindringt und alles verändert und du dich am Ende an ihrer Schulter ausheulst. »Ich glaube, dass man auf Profis hören sollte«, sagt Luke ganz ruhig. »Nachdem sie sich Minnie jetzt angesehen hat, sollten wir uns ihre Empfehlungen anhören. Aber darüber geht es nicht hinaus. Abgemacht?« Wie kann er eine Situation, die wie ein riesiges, verheddertes Spinnennetz aussieht, auf einen einzigen Faden reduzieren? Wie macht er das? »Ich kann Minnie nicht wegschicken.« Meine Stimme ist immer noch zittrig. »Du wirst uns auseinanderreißen müssen.« »Becky, hier wird nichts gerissen«, sagt Luke geduldig. »Wir fragen Nanny Sue, was wir tun können, ohne Minnie wegzuschicken. Okay? Drama beendet?« Darauf bin ich überhaupt nicht vorbereitet. Ehrlich gesagt war ich auf noch mehr Drama eingestellt. »Okay«, sage ich schließlich. Luke macht sein Bier auf und grinst mich an. Dann runzelt er die Stirn. »Was ist das?« Er kratzt eine Platzkarte vom Boden der Flasche. >Happy Birthday Mike<. Wer ist Mike?« Mist. Wie ist das denn da hingekommen? »Keine Ahnung!« Ich reiße ihm die Karte aus der Hand und knülle sie zusammen. »Komisch. Hab ich wohl aus dem Laden. Wollen wir ... äh ... fernsehen?« Da wir das Haus für uns allein haben, müssen wir nicht die ganze Zeit Snooker gucken. Oder Real Life Crime. Oder Dokus über den Kalten Krieg. Wir kuscheln auf dem Sofa, während die Gasflamme friedlich vor sich hin flackert, und Luke zappt sich durch die Kanäle, als er plötzlich stutzt und mich ansieht. »Becky ... du glaubst doch nicht wirklich, dass ich Minnie jemals wegschicken würde, oder? Ich meine, hältst du mich für so einen Vater?« Er sieht ziemlich aufgewühlt aus, und plötzlich habe ich ein ganz schlechtes Gewissen. Ich habe es tatsächlich geglaubt. »Äh ... « Mein Telefon klingelt, bevor ich antworten kann. »Es ist Suze«, sage ich mit ungutem Gefühl. »Ich sollte besser rangehen ... « Eilig laufe ich hinaus und hole tief Luft. »Hi, Suze!« Seit unserem Mini-Streit habe ich Suze mehrmals angesimst, aber miteinander gesprochen haben wir noch nicht. Ob sie mir noch böse ist? Sollte ich die Sache mit der Spezialkekssorte überhaupt erwähnen? »Hast du Style Central gesehen?« Ihre Stimme gellt durch die Leitung, überrascht mich richtig. »Hast du es gesehen? Ich hab mir gerade ein Heft bringen lassen. Ich dachte, ich traue meinen Augen nicht!« »Was? Ach, du meinst Tarkies Interview? Sieht er gut aus? Danny meinte, Tarquin wäre richtig experimentierfreudig gewe ... « »Experimentierfreudig? So nennt er das? Interessante Wortwahl. Da würde mir ein besseres Wort einfallen.« Suzes Stimme hat etwas seltsam Scharfes, Sarkastisches an sich. »Was ist los?« Suze ist sonst nie sarkastisch. »Suze ... ist alles okay?«, sage ich nervös. »Nein, ist es nicht! Ich hätte Tarkie nie allein zu diesem FotoShooting schicken dürfen! Ich hätte Danny niemals trauen dürfen. Was habe ich mir nur dabei gedacht? Wo waren Tarkies Berater? Wer hat die Fotostrecke gemacht? Denn wer es auch war: Ich werde ihn verklagen ... «  »Suze!« Ich versuche, ihren Wortschwall zu bremsen. »Sag doch mal: Was ist denn los« « Sie haben Tarkie in Leder-Bondage-Klamotten gesteckt!«, bricht es aus ihr hervor. Das ist los! Er sieht aus wie ein schwules Model!« Oh, Gott. Die Sache bei Tarquin ist, er kann tatsächlich ein bisschen ... metrosexuell aussehen. Und Suze ist ziemlich empfindlich, was das angeht. »Komm schon, Suze«, sage ich beschwichtigend. Er sieht bestimmt nicht richtig schwul aus ... « »Doch, tut er! Und zwar absichtlich! Die haben nicht mal erwähnt, dass er verheiratet ist und Kinder hat! Es dreht sich alles nur um den sexy Lord Tarquin mit seinen gestählten Muckis und um das, was er unter seinem Kilt versteckt! Und sie haben alle möglichen, zweideutigen Requisiten verwendet ... « Ich höre förmlich, wie sie sich schüttelt. Ich bring Danny um. Ich bring ihn um!« Bestimmt übertreibt sie. Aber andererseits kann Suze eine ziemliche Löwenmutter werden, wenn es um ihre Familie geht. »Ich bin nicht sicher, ob es wirklich so schlimm ist, wie du meinst ... «, setze ich an. »Ach, meinst du?«, sagt sie wütend. »Na, dann warte mal, bis du es siehst! Und ich weiß nicht, wieso du ihn verteidigst, Bex. Dich hat er auch reingelegt.« Ich glaube, langsam wird Suze ein bisschen seltsam. Wie um alles in der Welt sollte Danny mich in einem Interview über seine neue Kollektion reingelegt haben? »Okay, Suze«, sage ich geduldig. »Inwiefern hat Danny mich reingelegt?« »Lukes Party. Er hat geplaudert.« So schnell bin ich noch nie die Treppe raufgelaufen. Innerhalb von dreißig Sekunden bin ich online, klicke mich fiebrig durch, bis ich zur richtigen Seite komme. Und da ist es, gleich unter einem schwülstigen Schwarzweiß-Foto von Tarkie, der im engen, weißen T-Shirt Holz hackt und den Kilt fast obszön weit unten trägt. (Er hat tatsächlich hübsche Bauchmuskeln, unser Tarkie. Das war mir gar nicht so bewusst.) Kovitz plant eine eigene Möbel-Kollektion und eine Lifestyle-Website, steht da im Interview. Nimmt sich der Mode-Wirbelwind auch mal eine Auszeit? >Natürlich<, lacht Kovitz, ich feiere gern. Gerade bin ich auf dem Weg nach Goa, dann komme ich extra für eine Surprise Party zurück. Die gilt übrigens Luke Brandon, dem Mann von Rebecca Brandon, die diese ganze Zusammenarbeit initiiert hat. So schließen sich in der Modewelt die Kreise.« Ich lese es dreimal und atme immer schnelIer. Ich bring Danny um. Ich bring ihn um! Von: Becky Brandon Betrifft: DRINGENDE NACHRICHT!!!!!! Datum: 13. März 2006 An: Abonnenten@stylecentral-magazine.com Liebe Leser von Style Central, beim Lesen der letzten Ausgabe von Style Central wird Ihnen vielleicht ein kleiner Hinweis von Danny Kovitz auf eine Überraschungsparty für meinen Mann Luke Brandon -aufgefallen sein. Ich bitte Sie herzlichst, ALLES ZU VERGESSEN UND ES AUS IHREM GEDÄCHTNIS ZU LÖSCHEN. Sollten Sie meinen Mann zufällig kennen, erwähnen Sie es bitte nicht. Es soll nämlich eine ÜBERRASCHUNG werden. Noch besser wäre es, wenn Sie die Seite herausreißen und vernichten könnten. Mit aufrichtigem Dank Rebecca Brandon (geborene Bloomwood) Leute, die über die Party Bescheid wissen Ich Suze Tarquin Danny Jess Tom. Mum Dad Jaice Martin Bonnie Diese drei Frauen die am Nebentisch gelauscht haben Gary Janices Klempner Rupert und Harry bei The Service Vertriebschefs von Bollinger, Dom Perignon, Bacardi, Veuve Cliqnot, Party Time Beverages, Jacob´s Creek, Kentish English Sparkling Wine Cliff Maniküre (ich war so gestresst, dass ich mit irgendwem sprechen musste und sie hat versprochen, nichts auszuplaudern) 165 geladene Gäste (ohne die Leute von Brandon C) 500 Leser von Style Central Insgesamt = 693 Oh Gott. 16 Warum musste er es erwähnen? Warum? Und Suze hat recht. Eins von diesen Bildern von Tarkie ist absolut unschicklich. Ich habe Danny etwa zwanzig Nachrichten hinterlassen, die immer bissiger wurden, bis er gestern Abend endlich anrief, als ich Minnie gerade in der Wanne hatte und er auf dem Anrufbeantworter den Versuch einer Rechtfertigung hinterließ. Der hat echt Nerven. »Becky. Okay. Hör zu. Der Typ hat total seine Kompetenzen überschritten. Ich hatte es ihm inoffiziell erzählt! Wir haben nach dem Interview noch ein bisschen geplaudert! Und eigentlich macht es doch auch nichts. Kein Mensch liest Style Central. Jedenfalls keiner von Lukes Bekannten.«  Fairerweise muss man sagen, dass das stimmt. Und das ist mein einziger Trost: Style Central hat nur ungefähr fünfhundert Leser. Ich meine, die sind alle cool und wichtig und einflussreich in Mode und Design, aber entscheidend ist, dass sie Luke nicht kennen. Am nächsten Morgen habe ich mich gleich mit dem Redakteur in Verbindung gesetzt und ihn angefleht, mir die Adresse sämtlicher Abonnenten zu geben, und schließlich willigte er ein, eine E-Mail weiterzuleiten, in der ich sie bat, nichts zu verraten. Inzwischen sind zwei Wochen vergangen, und noch scheint nichts durchgesickert zu sein. Ich glaube, wir haben die Katastrophe verhindert. Aber entspannen kann ich mich trotzdem nicht. Offen gesagt, stehe ich insgesamt ganz schön unter Strom. Ich schlafe nicht gut, und meine Haare sehen schrecklich aus. In gewisser Hinsicht habe ich die Party besser im Griff als vorher, denn ich habe alles gebucht, woran ich vorher nicht gedacht hatte, zum Beispiel Heizgeräte und Klos und Fußböden. Aber alles kostet dermaßen viel Geld. Meine Kreditkarten geben langsam nichts mehr her, und es wird mir ein bisschen unheimlich. Gestern hatte ich ein eher unangenehmes Gespräch mit dieser Frau von Dixilux (ich muss besser aufpassen, wenn ich ans Telefon gehe), die wissen wollte, wieso sich meine Überweisung verzögert, und kein bisschen Mitgefühl für meine kürzlich durchgeführte Not-Wurzelbehandlung zeigte. Mir war gar nicht bewusst gewesen ... Ich meine, ich hatte ja nicht geahnt ... Wie dem auch sei. Heute ist der große Tag. Ich werde reinmarschieren, in meinem smartesten Kostüm eines zukünftigen Vorstandsmitglieds mit Killer Heels. Trevor ist aus dem Urlaub zurück, und um elf habe ich einen Termin bei ihm. Ich werde ihn um die Prämie für die Mitarbeiterin des Jahres bitten, plus eine Lohnerhöhung. Zahlbar sofort. Als ich bei der Arbeit ankomme, ist mir ganz zitterig zumute. Ich habe noch nie um mehr Gehalt gebeten. Aber Luke meint, es sei völlig normal und angemessen. Er sagt, er hat Respekt vor Menschen, die ihren Wert richtig einschätzen. Und ich schätze meinen Wert auf präzise 7.200 mehr ein, als ich momentan bekomme. (Das ist der Betrag, den ich für die Party brauche. Vielleicht bitte ich vorsorglich gleich um acht.) Ich werde keinen Aufstand machen. Ich werde einfach energisch auftreten und gleich auf den Punkt kommen. Ich werde sagen: »Ich habe die Marktlage sondiert und ausgerechnet, dass eine Einkaufsbegleiterin von meinem Kaliber achttausend Pfund mehr wert ist. Die ich gern heute als Vorschuss hätte wenn möglich.« Oder noch besser ... sagen wir: zehn. Das ist eine hübsche, runde Summe. Und was sind schon zehntausend Pfund unter Freunden? The Look ist ein riesiges Kaufhaus, das ungeheure Umsätze macht. Die können ohne Weiteres zehntausend Pfund für eine wertvolle Mitarbeiterin und potentielle Vorstandssprecherin aufbringen. Ich meine, Elinor hat in fünf Minuten weit mehr als zehntausend Pfund in meiner Abteilung gelassen. Was ich vielleicht erwähnen werde, falls es unvermutet zäh werden sollte. Als ich auf der Rolltreppe stehe, summt mein BlackBerry mit zwei neuen Nachrichten. Endlich melden sich die Beleuchtungsfirma und die Security-Leute zurück. Nacheinander lese ich beide Kostenvoranschläge, und als ich fertig bin, ist mir so schummerig, dass ich beinah stolpere, als ich am oberen Ende der Treppe ankomme. Beide wollen vierstellige Beträge, die mit einer »4« anfangen, wobei die Hälfte sofort zahlbar wäre, aufgrund der späten Buchung. Also, kurzer Überschlag: Alles in allem brauche ich jetzt ... Okay. Keine Panik. Es ist ganz einfach. Um diese Party vernünftig auszurichten, brauche ich ... fünfzehn Riesen. Fünfzehn Riesen? Will ich meinen Chef ernstlich um fünfzehntausend Pfund bitten? Allen Ernstes? Ich möchte hysterisch loslachen oder -besser noch -weglaufen. Aber ich kann nicht. Das ist meine einzige Chance. Ich muss optimistisch bleiben. Ich muss daran glauben, dass ich fünfzehntausend Pfund mehr wert bin. Jawohl. Bin ich. Als ich in unsere Abteilung komme, tauche ich in einen der Umkleideräume ab, schließe die Tür hinter mir zu, hole dreimal tief Luft und betrachte mich im Spiegel. »Trevor«, sage ich so zuversichtlich wie möglich. »Ich habe die Marktlage sondiert und ausgerechnet, dass eine Einkaufsbegleiterin von meinem Kaliber fünfzehntausend Pfund mehr wert ist. Die ich gern heute als Vorschuss hätte -wenn es geht. Scheck oder Bargeld wäre gut.« Das war schon ganz ordentlich. Abgesehen von der zitternden Stimme. Und dem Schlucken, als ich zu »fünfzehntausend« kam. Vielleicht sollte ich mit zehntausend anfangen. Und dann sagen: >Eigentlich meinte ich fünfzehn<, wenn er schon dabei ist, den Scheck auszustellen. Nein. Keine gute Idee. Mir wird ganz flau im Magen. Das ist der Moment, in dem ich wünschte, ich könnte mit Danny tauschen. Er muss nie jemanden um Geld bitten. Im Grunde tut er, als gäbe es kein Geld. »Becky.« Jasmine klopft an die Tür. »Deine Kundin ist da.« Okay. Ich werde einfach improvisieren. Oder hoffen, dass mir jemand einen richtig, richtig guten Tipp gibt. Positiv bleibt zu vermerken, dass es ein wirklich guter Morgen ist. Als ich mir um halb elf einen Kaffee hole, ist der Laden voll. Jasmine und ich haben beide einen Termin nach dem anderen, und dazu schneien noch ein paar unangemeldete Kundinnen herein. Unsere Stammkundschaft darf die hübschen Umkleideräume benutzen, selbst wenn sie keinen Beratungstermin gebucht hat. Da gibt es eine Cappuccino-Maschine und Sofas und eine Schale Süßigkeiten, und man fühlt sich einfach wohl. Ein paar meiner Kundinnen kommen sogar einfach auf einen Plausch hierher. Als ich mich umsehe und den vertrauten Geräuschen von Bügeln und Reißverschlüssen und Geplauder und Gelächter lausche, bin ich unwillkürlich stolz. Der Laden mag zu kämpfen haben, aber meine Abteilung brummt. Jasmine verpackt einen Stapel Paul-Smith-Hemden, und beim Eintippen in die Kasse sieht sie mich mit hochgezogenen Augenbrauen an. »Guck mal, was ich aus dem Internet habe.« Sie holt einen Plastikkittel hervor, auf dem BUEROMATERIAL.COM steht. »Den trage ich, wenn ich Ware ausliefere. Da stellt keiner blöde Fragen.« »WOW«, sage ich beeindruckt. »Gut durchdacht.« »Als Botin nenne ich mich Gwen.« Sie nickt. »Ich hab voll die zweite Identität laufen. Gwen raucht nicht. Und ihr Sternzeichen ist Fische.« »Äh ... super!« Manchmal bin ich etwas in Sorge, dass Jasmine die ganze Mantel-und-Degen-Geschichte etwas zu weit treibt. »Hi, Louise!«  Jasmines Kundin ist bei der Kasse angekommen. Es ist Louise Sullivan, die drei Kinder und ihren eigenen Internet Lebensmittelversand hat und unablässig darüber nachdenkt, sich den Bauch wegoperieren zu lassen, was absurd ist. Sie sieht toll aus. Es ist nicht ihre Schuld, dass ihr Mann kein Taktgefühl besitzt und gern derbe Witze reißt. »Wollen Sie Ihre Sachen gleich mitnehmen, oder möchten Sie, dass wir sie diskret anliefern?«, fragt Jasmine, als sie Louises Karte durch das Lesegerät zieht. »Vielleicht könnte ich eine Tüte jetzt mitnehmen«, sagt Louise und kaut auf ihrer Lippe. „Aber nicht mehr als eine.«  »Kein Problem.« Jasmine nickt professionell. »Also ... liefern wir den Rest in einem Druckerpapierkarton?« »Eigentlich ... « Louise greift in ihre Einkaufstüte. »Ich habe mir selbst was mitgebracht. Einen flachen Karton mit dem Aufdruck »Olivenöl aus Ligurien« »Das gefallt mir.« Ich sehe, dass Jasmine Louise plötzlich mit anderen Augen sieht. »Dann also Olivenöl.«  Sie nimmt den Karton. »Morgen Abend?«  »Wer von Ihnen ist Becky?«, bellt eine Männerstimme, und wir zucken alle zusammen. Es kommen nicht oft Männer in diese Etage, aber ein Kerl mit Lederjacke und fleischigem Gesicht marschiert auf uns zu. Er hält einen Karton in der Hand, auf dem »Druckerpapier«, steht, und macht ein finsteres Gesicht. Plötzlich habe ich so ein ungutes Gefühl. Ich hoffe wirklich, dass das nur ein Druckerpapierkarton ist. »Ich!«, sage ich beschwingt, während Jasmine den Olivenölkarton unter den Tresen schiebt und Louise sich eilig verkrümelt. »Was kann ich für Sie tun?« »Was zum Teufel geht hier vor sich?« Er fuchtelt mit dem Karton vor mir herum. »Was ist das?« »Äh ... ein Karton? Möchten Sie einen Termin bei einer Einkaufsberaterin, Sir«, füge ich eilig hinzu. »Die Herrenbekleidung ist eigentlich im zweiten Stock ... « »Ich brauche keine Herrenbekleidung«, sagt er wütend. »Ich brauche eine Erklärung!« Er knallt den Karton auf den Tresen und nimmt den Deckel ab. Jasmine und ich, wir sehen uns an. Es ist das Preen-Kleid, das ich Ariane Raynor letzte Woche verkauft habe. Oh, Gott, das muss Arianes Mann sein. Der angeblich früher mal Rockstar war, aber schon seit Jahren keinen Hit mehr hatte. Der das Aupair angebaggert hat und sich die Schamhaare bei Desperate Housewives trimmt. (Wir plaudern ziemlich viel, Ariane und ich.) »Shop in Private.« Er zieht ein Blatt Papier aus der Tasche und liest mit lauter, sarkastischer Stimme vor. »Lassen Sie sich die Kleider diskret in einem Pappkarton mit der Aufschrift >Druckerpapier< oder >Hygieneartikel < liefern.« Scheiße. »Sie war wohl shoppen, ja?« Er knallt mir den Zettel hin. »Wie viel hat sie ausgegeben?« Mein Handy piept, und ich sehe, dass Jasmine nickend darauf deutet. Verstohlen klicke ich die Nachricht an und sehe, dass sie von ihr ist. Ariane ist wegen ihrer Änderung hier!!!! Ich habe sie in Raum 3 gebracht, als Du mit Victoria beschäftigt warst. Soll ich sie warnen? Ich nicke Jasmine unauffällig zu und drehe mich wieder zu Arianes Mann um. » Mister ... « »Raynor.« »Mister Raynor, dazu darf ich mich leider nicht äußern«, sage ich sanft. »Ich muss die Privatsphäre meiner Kundinnen respektieren. Vielleicht könnten Sie zu einem späteren Zeitpunkt wiederkommen?« »Jasmine?«, höre ich Arianes unverkennbare Stimme aus einem der Umkleideräume. »Könnten Sie sich den Saum mal ansehen? Denn ich glaube nicht, dass ... « Ihre Stimme reißt urplötzlich ab, als würde ihr jemand den Mund zuhalten -aber es ist zu spät. Man sieht ihrem Mann an, dass er sie erkannt hat. »Ist das Ariane?« Er sieht aus, als könnte er es nicht fassen. »Geht sie schon wieder shoppen?« Nein, tut sie nicht, du Blödmann, möchte ich am liebsten sagen. Sie lässt sich ein Kleid ändern, dass sie vor zwei Jahren gekauft hat. Und außerdem -was ist mit der Bang&Olufsen-Anlage, die du unbedingt in eurem Landhaus einbauen musstest? Die hat Trillionen mehr gekostet als ein Kleid. Stattdessen aber lächle ich zuckersüß und sage: »Unsere Kundentermine sind vertraulich. Und wenn das alles ist ... « »Nein, ist es nicht!« Er fängt an zu brüllen. »Ariane, du kommst sofort da raus!« »Sir, würden Sie bitte aufhören, hier herumzuschreien?«, sage ich ganz ruhig, während ich nach meinem Handy greife und Jasmine simse: Arianes Mann kocht. Lass sie hinten raus. »Ariane, ich weiß, dass du da drinnen bist!« ruft er drohend. »Ich weiß, dass du mich belogen hast!« Er steuert auf den Eingang zu, aber ich verstelle ihm den Weg. »Ich fürchte, ich kann Sie hier nicht reinlassen.« Ich lächle. »Nur Kundinnen dürfen in den Personal-Shopping-Bereich. Das werden Sie sicher verstehen.« »Verstehen?« Seine Wut wendet sich gegen mich. »Ich will Ihnen sagen, was ich verstehe. Ihr Hexen steckt alle unter einer Decke. Von wegen Druckerpapier.« Er schlägt mit der Faust auf den Karton. »Einsperren sollte man euch, alle, wie ihr da seid!« Unwillkürlich zucke ich zurück. Seine blauen Augen sind blutunterlaufen, und plötzlich frage ich mich, ob er wohl trinkt. »Es ist nur eine diskrete Verpackungsoption.« Ich bemühe mich um eine ruhige Stimme. »Nicht jede Frau möchte in diesen Zeiten ein Designer-Label zur Schau stellen.« »Kann ich mir vorstellen.« Er mustert mich wütend. »Jedenfalls nicht vor ihrem Trottel von Ehemann. Sind wir hier bei. Wer kann seinen Mann am besten foppen?« Ich bin so aufgebracht, dass ich laut stöhne. »Die meisten meiner Klientinnen haben ihr eigenes Einkommen«, erkläre ich und zwinge mich, höflich zu bleiben. »Und ich denke, es ist ihre Sache, wofür sie es ausgeben, oder wie sehen Sie das? Soweit ich weiß, läuft Arianes Möbelgeschäft momentan sehr gut, oder?«  Den kleinen Stich kann ich mir nicht verkneifen. Ich weiß, dass ihr Erfolg ihn unter Druck setzt. Sie sagt es jedes Mal, wenn sie kommt. Und dann sagt sie, dass sie ihn verlassen will. Und am Ende unserer Sitzung weint sie dann und sagt, dass sie ihn wirklich liebt. Ehrlich. Shoppen ist besser als jede Therapie. Es kostet dasselbe, aber man kriegt noch ein Kleid obendrauf. »Ariane!« Er will sich an mir vorbeidrängen. »Halt!« Ich packe ihn beim Arm, fuchsteufelswild. »Ich sage Ihnen doch, nur Kundinnen dürfen in den ...« »Aus dem Weg!« Er schüttelt mich ab wie eine Puppe. Okay. Jetzt geht es ums Prinzip. Niemand kommt hier rein und stürmt an mir vorbei in meine Abteilung. »Nein! Sie gehen nicht da rein!« Ich packe ihn bei den Schultern, aber er ist zu stark. »Jasmine!«, schreie ich, während ich mit ihm ringe. »Bringen Sie alle Kundinnen in Sicherheit!« »Verdammt, lass mich da rein!«  »Das hier ist ein privater Einkaufsbereich ...«  Ich keuche vor Anstrengung, ihn zurückzuhalten. »Was geht hier vor sich?« Direkt hinter mir höre ich eine tiefe Stimme und lasse los. Ich fahre herum und weiß längst, dass es Trevor ist. Gavin lauert hinter ihm und freut sich wie ein Zuschauer in einer Unterhaltungsshow. Trevor sieht mich mit grimmigem Blick an, der mir sagen soll, dass es hoffentlich einen guten Grund für das alles gibt, und achselzuckend erwidere ich den Blick, als wollte ich sagen: »Ja, gibt es.«  Als Trevor sich Mister Raynor zuwendet, verwandelt sich seine Miene plötzlich in Erstaunen. »Meine Güte! Ist das ... Doug RaYrlor?« Hätte ich mir denken können, dass er irgendeinen Uralt Rocker kennt, von dem kein Mensch je gehört hat. »Yeah.« Doug Raynor plustert sich auf. »Der bin ich.« »Mister Raynor, wir sind hocherfreut, Sie hier bei The Look zu haben.« Trevor geht voll in seinen unterwürfigen Geschäftsführer-Modus über. »Wir sind hier alle Riesenfans. Wenn ich irgendetwas für Sie tun kann ...« »Das können Sie allerdings«, fällt Doug Raynor ihm ins Wort. »Sie können mir erklären, was es hiermit auf sich hat. Sie nennen es vielleicht »diskretes Shoppen« Ich nenne es »gemeines Lügen.« Er knallt den Zettel auf den Tresen. »Und morgen rufe ich die Daily World an. Und entlarve die ganze Bande hier.« »Was ist das?«, sagt Trevor verwundert. »Shop in Private?«  »Weiß ich davon was?« »Das ist. .. äh ...« Plötzlich fühlt sich mein Mund ganz trocken an. »Ich wollte es noch erwähnen ... « Ich merke, wie mir das Blut ins Gesicht steigt, während Trevor den Zettel schweigend liest. Als er schließlich aufblickt, sind seine Augen zwei schwarze Löcher der Missbilligung. Nein. Schlimmer als Missbilligung. Er sieht aus, als wollte er mich ermorden. Gavin liest über Trevors Schulter hinweg. »Sie geben sich als Putzfrauen aus?« Er schnaubt vor Lachen. »Du meine Güte, Becky ... « »Halten Sie das für richtig?«, stimmt Doug Raynor mit ein. »Würden Sie sagen, dass ein angesehenes Kaufhaus so was tun sollte? Das ist kriminell. Das ist arglistige Täuschung, nicht mehr und nicht weniger!« »Gavin.« Trevor geht voll auf Schadensbegrenzung. »Seien Sie doch so nett, und begleiten Sie Mister Raynor in die Herrenabteilung, und offerieren Sie ihm einen neuen Anzug, auf Kosten des Hauses. Mister Raynor, vielleicht darf ich Ihnen danach ein Glas Champagner in der Oyster Bar anbieten, und dann könnten Sie mir Ihre Bedenken direkt vortragen?«  »Yeah.« »Und Ihnen werde ich was erzählen, das kann ich Ihnen versprechen.« Doug Raynor ist offensichtlich hin und her gerissen, ob er bleiben und noch etwas herumschreien oder einen kostenlosen Anzug anprobieren soll, aber schließlich lässt er sich von Gavin mitschleppen. Auch Jasmine ist hinten in den Umkleideräumen verschwunden. Zurück bleiben nur Trevor und ich -und beängstigende Stille. »Sie . .. Sie sagten, Sie wollten wissen, welches Geheimnis hinter unserem Erfolg steht«  presse ich hervor. »Nun, das ist es.« Trevor sagt nichts, liest nur den Zettel noch mal durch, hält ihn mit verkrampften Fingern fest. Je länger er schweigt, desto unsicherer werde ich. Offensichtlich ist er wütend ... aber könnte er vielleicht auch ein wenig beeindruckt sein? Sagt er vielleicht gleich: »Auch im Einzelhandel gilt: Frechheit siegt?«  Sagt er vielleicht, das Ganze erinnert ihn an eine dreiste Nummer, die er mal abgezogen hat, als er anfing, und ob ich gern sein spezieller Protege sein möchte? »Becky.« Endlich hebt er den Kopf, und mein Herz schöpft Hoffnung. Seine Augen sind keine schwarzen Löcher mehr. Er wirkt ganz ruhig. Ich glaube, es ist okay. »Wollten Sie mich heute deshalb sprechen? Hatten Sie dafür den 11-Uhr-Termin ausgemacht?«  Er klingt so vernünftig, dass ich mich entspanne. »Eigentlich nicht. Ich wollte noch was anderes mit Ihnen besprechen ...« Wieder herrscht Schweigen zwischen uns. Plötzlich frage ich mich, ob das der richtige Moment ist, von der Lohnerhöhung anzufangen. Ich meine, ja, er ist sauer wegen des Zettels, aber das wird doch sicher meine Karriere nicht gefährden, oder? Besonders nicht, wenn ich sein spezieller Protege werde. Okay. Ich mache es. Nur bitte ich ihn nicht um fünfzehn. Ich bitte um zehn. Nein, zwölf. Ich hole tief Luft und balle beide Hände zu Fäusten. »Trevor, ich habe die Marktlage sondiert und ausgerechnet, dass eine Einkaufsberaterin von meinem Kaliber ... « »Becky ...« Er fällt mir ins Wort, als hätte er mich gar nicht gehört. »Ihre sogenannte Initiative war ungenehmigt, unangemessen und unaufrichtig.« Er klingt so kalt und distanziert, direkt beunruhigend. Okay, vergiss erst mal die Lohnerhöhung. Ich konzentriere mich vorerst auf das Geld für die Mitarbeiterin des Jahres. Ich meine, das kann er mir ja nicht wegnehmen, oder? Egal wie sauer er ist. »Äh, Trevor, wissen Sie noch, wie Sie gesagt haben, dass ich Mitarbeiterin des Jahres werden soll?«, versuche ich es eilig noch einmal. »Also, ich habe mich gefragt ... « »Mitarbeiterin des Jahres? Soll das ein Witz sein?« Seine Stimme hat so eine stählerne Schärfe, dass ich nervös einen Schritt zurückmache. Plötzlich fallt mir auf, wie sehr er die Lippen zusammenpresst. Oh, Gott, ich habe mich geirrt. Er ist wütend. Auf diese schreckliche, stille, furchteinflößende Weise. Plötzlich sind meine Hände ganz klamm. »Sie haben ein Verhalten an den Tag gelegt, das zum Schaden von The Look sein dürfte.« Seine Stimme klingt unerbittlich. »Sie haben mich und die Geschäftsleitung hintergangen. Sie haben den anständigen Gepflogenheiten dieses Unternehmens zuwidergehandelt und vor den Kunden eine lautstarke Auseinandersetzung provoziert. Dieses Verhalten ist zutiefst unprofessionell. Ganz zu schweigen davon, dass Sie den ganzen Laden vor Doug Raynor, einer prominenten Persönlichkeit, unmöglich gemacht haben. Meinen Sie, dass er je wieder zu uns kommt, um hier einzukaufen?« »Ich weiß, ich hätte mir vorher die Erlaubnis holen sollen«, sage ich eilig. »Und es tut mir furchtbar leid. Aber nur deshalb waren meine Umsätze so gut! Wegen Verbleibe ich missbilligend die Deine< womit sie einmal einen Brief an mich beendet hat. Danke!, simse ich zurück. Freue mich auf Nachricht! Ich gehe hinaus -und ich brauche einen Moment, bis ich merke, was Luke da macht. Er schließt die Garage auf. Scheiße. Scheiße! Wo hat er den Schlüssel her? Den hatte ich extra versteckt, damit er sie nicht aufschließt und das schimmlige Zelt findet, zusammen mit den 132 Plastiktüten-Troddeln. (Die ich nicht wegwerfen werde, egal was Elinor sagt. Ich habe sie für die Party gebastelt und Stunden dafür gebraucht, und deshalb kommen die auf jeden Fall mit.) »Neeeeiiiiin!«  Irgendwie schaffe ich es, aus dem Auto zu hechten und einmal quer über die Auffahrt zu spurten, um mich zwischen ihn und das Garagentor zu werfen. »Nicht! Ich meine ... was brauchst du denn? Ich hole es dir. Lass du den Motor an! Wärm den Wagen auf!«  »Becky ... «, Luke sieht mich erstaunt an. »Was ist denn los?«  »Du ... willst dir doch bestimmt nicht deinen hübschen Mantel schmutzig machen!« »Na, aber dein Mantel muss auch nicht unbedingt schmutzig werden«, erklärt er mir sinnreich. »Ich suche nur die Straßenkarte. Mein verdammtes Navi ist kaputt.« Wieder langt er nach dem Griff, aber ich versperre ihm den Weg. »Wir können uns unterwegs eine Karte kaufen.«  »Eine kaufen?« Er mustert mich scharf. »Warum denn das?«  »Eine Ersatzkarte kann man doch immer gebrauchen.« Meine Hand umklammert den Garagengriff. »Das wird lustig. Wir können sie zusammen aussuchen!« »Aber wir haben schon eine«, sagt er geduldig. »Wenn du mich nur einfach in die Garage lassen würdest ... « Okay, ich muss zu extremen Mitteln greifen. »Weißt du, wie dringend ich irgendwas kaufen muss?«, klage ich theatralisch, mit bebender Stimme wie eine Shakespeare-Darstellerin. »Ich darf mir keine Kleider kaufen. Und jetzt darf ich mir nicht mal eine Straßenkarte kaufen! Ich muss ein bisschen Geld ausgeben, sonst werde ich noch verrückt!« Ich halte inne, keuchend. Luke sieht so erschrocken aus, dass er mir fast leid tut. »Okay, Becky. Gut.« Er weicht zurück, wirft mir einen argwöhnischen Blick zu. »Wir können an einer Tankstelle halten. Kein Problem.« »Gut.« Ich wedle mir Luft zu, als rissen mich die Emotionen mit. »Danke für dein Verständnis. Sag mal, woher hast du eigentlich den Garagenschlüssel?«, füge ich beiläufig hinzu. »Ich dachte, er ist weg.« »Das war echt ein Ding.« Luke schüttelt den Kopf. »Ich habe ihn gesucht und laut gesagt: »Wo ist bloß dieser Schlüsse!?«, und Minnie hat mich direkt hingeführt. Wahrscheinlich hat sie ihn selbst versteckt!« Ehrlich. Das war das letzte Mal, dass ich Minnie in irgendwelche Vorbereitungen miteinbezogen habe. Sie ist eine echte Plaudertasche. »Du wirst nicht glauben, wo er war«, fügt Luke hinzu, als er den Wagen anlässt. »In deiner Make-up-Tasche. Kannst du das glauben?« »Unfassbar!« Ich versuche, erstaunt zu klingen. »Was für ein kleiner Schlingel!« »Übrigens, möchtest du am Freitag mit mir nach Paris kommen?«, fügt Luke lässig hinzu, während er zurücksetzt. Ich bin so verdattert, dass ich nicht antworten kann. Leeren Blickes starre ich ihn an, und meine Gedanken rattern. Was soll ich sagen? Was wäre die natürlichste Reaktion? »Paris?«, bringe ich schließlich hervor. »Wie meinst du das?« »Ich muss doch zu diesem Termin nach Paris, weißt du noch? Ich dachte einfach, du und Minnie, ihr würdet vielleicht gern mitkommen. Wir könnten übers Wochenende bleiben. Du weißt, dass ich Geburtstag habe, oder?« Das Wort »Geburtstag« explodiert wie eine Handgranate im Auto. Was soll ich sagen? Soll ich so tun, als hätte ich es vergessen? Soll ich so tun, als hätte ich ihn nicht gehört? Nein. Benimm dich normal, Becky. Benimm dich normal. »Äh ... ach ja?« Ich schlucke. »Stimmt, klar hast du Geburtstag! Na, das klingt doch hübsch!« »Den Freitagabend müssten wir leider mit meinen Klienten verbringen, aber zumindest gäbe es was zu feiern. Ich meine, wenn wir mit Christian gesprochen haben, steht einem Treffen mit Sir Bernard selbst nichts mehr im Wege!« Luke klingt überschwänglich. »Ich sage Bonnie, sie soll alles arrangieren. Dann ist es also abgemacht?« »Super!« Ich lächle kraftlos. »Ich muss nur eben Suze noch was simsen ... « Ich nehme mein Handy und simse Bonnie eilig: Luke will uns am Freitag mit nach Paris nehmen! KEINE Tickets buchen!! Ehrlich, wenn das so weitergeht, geh ich bald am Stock. Nein, tu ich nicht. Wird schon klappen. Elinor ist an der Sache dran. Durchatmen. Nur noch drei Tage. Die Hardy House School ist eine viel nettere Schule als St. Cuthbert's, wie ich finde. Erstens trägt die Sekretärin, die uns begrüßt, ein echt cooles Pippa-Small-Kettchen um den Hals. Und es gibt hier keine Eloise. (Ich habe extra nachgefragt.) Und sie backen ihre Kekse selbst. Während wir unseren Kaffee trinken und die Kekse knabbern, blicken wir auf den Spielplatz hinaus, der von Rosskastanien umsäumt ist. Ich sehe die kleinen Mädchen hüpfen und herumrennen, und plötzlich packt mich so eine Sehnsucht. Ich sehe Minnie schon mittendrin. Es wäre perfekt. »Meinst du, Minnie kriegt hier einen Platz?« Voll Sorge wende ich mich an Luke. »Da bin ich mir ganz sicher.« Er blickt von seinem BlackBerry auf. »Wieso sollte sie nicht?« »Weil die hier total überbucht sind!« Ich werfe noch einen Blick auf die Broschüre, die man uns gegeben hat. Sie heißt »Unser Aufnahmeverfahren«. Dieses besteht aus sechs Stufen, beginnend mit dem Ausfüllen eines Formulars, und es endet mit einer »Tea Party zur abschließenden Beurteilung«. Plötzlich wird mir klar, wieso alle von den Schulen immer so gestresst sind. Ich kriege jetzt schon Angst. Was ist, wenn Minnie sich alle Kekse schnappt und »Meeeinn!«  schreit? So kriegt sie hier nie einen Platz. »Luke, hör auf, deinen BlackBerry anzustarren!«, fauche ich. ,>Wir müssen einen guten Eindruck machen.« Ich nehme einen Zettel mit den Leistungsstufen und will gerade darin herumblättern, als die Sekretärin wiederkommt. »Mr. und Mrs. Brandon? Kommen Sie bitte hier entlang.« Sie führt uns einen kurzen Korridor entlang, in dem es nach Bienenwachs riecht. »Hier ist das Büro unserer Rektorin«, sagt sie und führt uns direkt in einen holzgetäfelten Raum mit Mahagoni-Schreibtisch und grün gepolsterten Sesseln. »Unsere derzeitige Leitung verlässt uns zum Ende des Jahres, und die kommende Rektorin ist für ein paar Tage bei uns, sodass wir es für sinnvoller hielten, wenn Sie mit ihr sprechen. Sie wird jeden Moment hier sein. « »Danke«, sagt Luke charmant. »Und darf ich der Schule mein Kompliment für die köstlichen, selbst gebackenen Kekse aussprechen?« »Danke!« Sie lächelt. »Ich bin gleich mit unserer neuen Schulleiterin wieder da. Sie heißt Mrs. Grayson«, fügt sie im Gehen noch hinzu. »Harriet Grayson.« »Siehst du?«, murmelt Luke. »Wir machen einen perfekten Eindruck.« Ich kann nichts antworten. Ich erstarre zur Salzsäule. Habe ich diesen Namen nicht schon mal gehört? Okay. Das könnte böse ausgehen. Ich muss hier verschwinden oder Luke warnen oder ... Doch schon fliegt die Tür wieder auf -und sie ist es. Harriet Grayson MA, in demselben Strickkostüm. Mit professionellem Lächeln kommt sie auf mich zu ... und dann erkennt sie mich. »Professor Bloomwood!«, sagt sie erstaunt. »Professor Bloomwood ist doch richtig, oder?« Es gibt kein Entrinnen. »Äh ... ja!«, sage ich schließlich, und das Blut steigt mir ins Gesicht. »Hi!« »Nun, welch eine Überraschung!« Sie strahlt Luke an. »Professor Bloomwood und ich sind uns schon einmal begegnet. Brandon muss dann wohl Ihr Ehename sein, was?« Ich riskiere einen ultrakurzen Blick zu Luke, dann wünschte ich, ich hätte es nicht getan. Bei seinem Gesichtsausdruck möchte ich halb losprusten, halb weglaufen. »Sind Sie auch in der Welt der Künste tätig, Mr. Brandon?«, sagt sie freundlich, als sie ihm die Hand schüttelt. »Der Welt der Künste?«, sagt Luke nach einer ziemlich langen Pause. »Nein, ist er nicht«, werfe ich eilig ein. »Ganz im Gegenteil. Jedenfalls, um auf das eigentliche Thema zu sprechen zu kommen: Wir möchten gern unsere Tochter Minnie auf diese Schule schicken. Ihr Spielplatz ist so hübsch! Traumhaft schöne Bäume!« Ich hoffe, wir können zum nächsten Thema übergehen, aber Harriet Grayson MA wirkt doch leicht verwundert. »Sie ziehen also von New York wieder hierher?« »Ja . .. das stimmt«, sage ich nach einer Weile. »Stimmt es nicht, Liebling?« Ich werfe Luke einen kurzen, verzweifelten Blick zu. »Großer Gott! Aber was ist mit Ihrer Arbeit am Guggenheim Museum, Professor Bloomwood?« »Am Guggenheim?«, wiederholt Luke mit leicht erstickter Stimme. »Ja, das Guggenheim. Absolut.« Ich nicke mehrmals, schinde Zeit. »Das Guggenheim wird mir natürlich sehr fehlen. Aber ich werde ... mich auf meine eigene Kunst konzentrieren.« »Sie sind selbst auch Künstlerin?« Harriet Grayson ist überwältigt. »Wie wundervoll! Sind Sie Malerin?« »Nicht wirklich.« Ich huste. »Meine Arbeit ist ... ist ziemlich schwer zu beschreiben ... « »Beckys Kunstform ist einzigartig«, stimmt Luke plötzlich mit ein. »Sie erschafft ... surreale Welten. Manche mögen es als Fantasielandschaft bezeichnen.« Ich werfe ihm einen kurzen Blick zu, als es an der Tür klopft. »Mr. Brandon?« Zögerlich sieht die Sekretärin herein. »Für Sie kam Nachricht, dass Sie dringend Ihr Büro anrufen sollen.« »Wie unangenehm.« Luke sieht überrascht aus. »Es muss sehr wichtig sein, wenn man mich hier aufstöbert. Entschuldigen Sie mich.« Als er hinausgeht, nehme ich mir den Prospekt und blättere wahllos zu irgendeiner Seite. »So!«, sage ich eilig. »Wenn Sie sagen, die Kinder lesen jeden Tag, was genau meinen Sie damit?« Gott sei Dank. Etwa fünf Minuten redet Mrs. Grayson über Leselisten, und ich nicke intelligent. Dann stelle ich eine Frage zum Naturwissenschaftlichen Gebäude, was mir weitere drei Minuten beschert, und gerade will ich zum Korbball übergehen, als die Tür aufgeht. Staunend starre ich Luke an. Er strahlt. Er sieht aus, als hätte er im Lotto gewonnen. Was um alles in der ... Oh, mein Gott. Elinor hat es geschafft! Okay, jetzt kann ich es kaum mehr erwarten, meine Nachrichten zu checken. »Es tut mir wirklich leid«, sagt Luke höflich zu Mrs. Grayson. »Ich muss in einer dringenden Angelegenheit in mein Büro. Aber Becky kann bleiben und sich alles zeigen lassen. « »Nein!« Wie von der Tarantel gestochen springe ich auf. »Ich meine. .. Ich würde es mir lieber mit dir ansehen, Liebling. Seien Sie mir nicht böse, Mrs. Grayson ... « »Das ist schon in Ordnung«, sagt sie lächelnd. »Und darf ich vielleicht noch einmal hinzufügen, wie sehr es mich freut, Sie wiedergesehen zu haben, Professor? Wissen Sie, Ihr Ratschlag hinsichtlich des kleinen Ernest Cleath-Stuart war unbezahlbar.« Ich spüre, wie Luke neben mir die Ohren spitzt. »Was war das?«, sagt er höflich. »Gern geschehen«, sage ich hastig. »Nicht der Rede wert ... « »Da muss ich widersprechen! Professor Bloomwood hat auf den ersten Blick das Potential eines meiner Schüler in St. Cuthbert's erkannt«, erklärt Harriet Grayson. »Eines kleinen Jungen, der ein paar ... wollen wir sagen: Probleme hatte. Aber er ist wirklich aus sich herausgekommen, seit wir ihm diesen Kunstpreis verliehen haben. Er ist wie ausgewechselt!« »Ah.« Luke nickt, denn jetzt hat er begriffen. »Verstehe.« Sein Blick ist schon viel sanfter, als er mir in die Augen sieht. »Nun, in solchen Dingen ist Professor Bloomwood wirklich sehr gut.« Wortlos laufen wir durch die Korridore und zum Schultor hinaus, steigen in den Wagen und sehen uns eine Weile schweigend an. »So.« Luke zieht fragend eine Augenbraue hoch. »Professor.« »Luke ... « »Kein Wort zu Suze.« Er nickt. »Ich hab's kapiert. Und Becky ... das hast du gut gemacht. Nur können wir Minnie jetzt nicht mehr auf diese Schule schicken. Das weißt du, oder?« »Ich weiß«, sage ich trübe. »Und dabei hat sie mir so gut gefallen.« »Wir finden eine andere.« Er drückt mein Knie, dann greift er nach seinem Handy und wählt. »Hi, Gary? Ich komme gleich rüber. Ich weiß, unglaublich!« Heimlich werfe ich einen Blick auf meinen BlackBerry. Er blinkt und zeigt mir neue Nachrichten an. Die erste ist von Elinor. Ich habe mit Bernard gesprochen. Herzlich, Elinor. Schlicht und einfach. Geklärt, ohne großen Aufwand. Je näher ich Elinor kennenlerne, desto bewusster wird mir, was für eine unglaubliche Frau sie ist. Ich schätze, Luke dürfte wohl ein paar von ihren Genen abbekommen haben. Die tatkräftigen und stählernen, mit denen man alle Hindernisse überwindet. Nicht, dass ich es ihm jemals sagen würde. »Also ... was ist los?<«, sage ich unschuldig, als Luke den Wagen anlässt. »Woher die große Aufregung bei der Arbeit?«  »Du erinnerst dich an unseren Ausflug nach Paris?« Luke sieht über seine Schulter hinweg, um zurückzusetzen. »Der ist leider abgesagt. Wir treffen uns gar nicht mit Christi an Scott-Hughes wir treffen den Häuptling selbst, heute Nachmittag. Sir Bernard hat beschlossen, uns eine halbe Stunde zu widmen, aus heiterem Himmel! Sir Bernard Cross höchstpersönlich! « »Wow!« Zum Glück bin ich eine gute Schauspielerin. »Das ist ja echt ein Ding!« »Das hat es noch nie gegeben.« Luke nickt und hält die Augen auf die Straße gerichtet. »Alle können es irgendwie gar nicht fassen.« »Na, Glückwunsch! Du hast es verdient!« Danke, Elinor, simse ich zurück. Du bist absolut die GRÖSSTE!!!!!!!!! »Ich glaube aber ... « Luke macht eine Pause, während er einen unübersichtlichen Kreisverkehr umrundet, » ... dass da irgendwer für uns die Fäden zieht. So etwas passiert nicht einfach von selbst.« Er sieht mich an. »Irgendjemand irgendwo steckt dahinter. Irgendjemand mit Einfluss.«  Es ist, als pochte mir das Herz im Hals. Einen Moment lang kann ich vor lauter Panik gar nichts sagen. »Wirklich?«, bringe ich schließlich hervor. »Wer würde denn so was tun?«  »Ich weiß nicht. Schwer zu sagen.« Nachdenklich runzelt er die Stirn, dann wirft er mir ein kleines Lächeln zu. »Aber wer es auch sein mag, ich liebe ihn.« Den Rest des Nachmittags sitze ich wie auf glühenden Kohlen. Alles läuft nach Plan -sofern die einzelnen Teile des Plans funktionieren. Sofern das Meeting gut läuft. Sofern Luke nicht beschließt, trotzdem nach Paris zu fliegen. Sofern sich niemand im Büro verplappert ... Ich versuche, einen Sitzplan aufzustellen, aber ehrlich, das ist schlimmer als Sudoku, und ich bin zu abgelenkt, um mich zu konzentrieren. Ständig kommt Janice hereingelaufen und macht einen Aufstand, weil sie sich nicht sicher ist, wo genau der Eingang zum Zelt hin soll, und Minnie rammt auf der Hälfte von Findet Nemo einen Bleistift in den DVD-Player. So wird es mehr oder weniger siebzehn Uhr, und ich bin noch nicht überTisch 3 hinausgekommen, als ich einen Schlüssel in der Haustür höre. Eilig sammle ich meine Tischkarten zusammen und lasse sie hinter Dads Sound ofthe 70's-CD-Sammlung verschwinden. Als Luke hereinkommt, sitze ich auf dem Sofa und lese ein Buch, das ich noch schnell vom Boden aufgehoben habe. »Hi, wie war's?« Ich blicke auf. »Gut. Wirklich gut.« Luke strahlt sogar noch triumphierender als am Morgen. »Sir Bernard ist ein klasse Typ. Er war bei der Sache, hat zugehört, war interessiert, wir haben eine Menge interessanter Nebenaspekte angesprochen ...« »Fantastisch!« Ich lächle, kann mich aber noch nicht recht entspannen. Ich muss sichergehen. »Also ... musst du am Freitag nicht nach Paris?« »Leider nicht. Aber wir könnten trotzdem hin, wenn du möchtest ... «, fügt Luke hinzu. »Nein!« Die Erleichterung schießt meine Stimme in höchste Höhen. »Oh, Gott, nein! Lass uns einfach ... hierbleiben. Ausruhen. Nichts tun.« Ich kann nicht verhindern, dass ich vor mich hinplappere. »Also, alles in allem ein guter Tag.« Ich lächle ihn an. »Wir sollten eine Flasche Champagner köpfen!« »Ja. Von einer Sache abgesehen.« Luke runzelt kurz die Stirn. »Ich musste meiner Assistentin eine mündliche Abmahnung aussprechen. Nicht gerade schön, seinen Nachmittag so zu beenden. Unter Umständen muss ich sie gehen lassen.« »Was? Mein Lächeln erstirbt. »Du meinst Bonnie? Aber ... warum? Du hast gesagt, du wolltest nichts sagen. Was hat sie getan?« »Ach, es ist wirklich enttäuschend.« Luke seufzt. »Monatelang war sie die perfekte Sekretärin. Ich hatte überhaupt nichts an ihr auszusetzen. Aber dann fing sie an, diese unpassenden Bemerkungen zu machen, von denen ich dir erzählt hatte. Und kürzlich habe ich bemerkt, dass sie reichlich abgelenkt ist. Inzwischen bin ich mir sicher, dass sie während ihrer Arbeitszeit irgendwelche Telefonate tätigt.« Oh, Gott, oh, Gott. Alles nur wegen mir und der Party! »Jeder darf doch mal privat telefonieren«, sage ich eilig, aber Luke schüttelt den Kopf. »Es ist mehr als das. Ich habe so einen Verdacht. Vielleicht hat sie noch einen Nebenjob, aber es könnte auch sein, dass sie Firmeninformationen weiterleitet. « »So was würde sie nie tun!«, sage ich entsetzt. »Sie sieht doch total ehrlich aus. « »Meine Süße, du bist ein gutgläubiger Mensch.« Luke wirft mir ein liebevolles Lächeln zu. »Aber ich fürchte, du täuschst dich. Irgendwas ist da im Busch. Ich habe Bonnie mit einem Stapel Unterlagen erwischt, der ganz offensichtlich nichts mit Brandon Communications zu tun hatte. Und nicht nur das. Sie hatte ein unübersehbar schlechtes Gewissen, als ich hereinkam. Und sie hat die Papiere sofort unterm Tisch versteckt. Offenbar hatte sie nicht damit gerechnet, dass ich schon so bald wiederkommen würde. Also musste ich ein ernstes Wort mit ihr reden.« Er zuckt mit den Achseln. »Es war für uns beide eher unangenehm, aber so ist das nun mal.« »Du hast sie ins Gebet genommen?«, sage ich entsetzt. Ich kann mir genau vorstellen, was passiert ist. Bonnie: ist heute Nachmittag die Gästeliste mit mir durchgegangen. Die hat sie bestimmt unterm Tisch versteckt. Ich dachte mir schon, dass sie sehr eilig aufgelegt hat. »Was genau hast du gesagt?«, will ich wissen. »Hat sie die Fassung verloren?« »Ist das wichtig?« »Ja!« Eine Woge der Frustration geht über mich hinweg. Du blöder Hammel!, möchte ich schreien. Ist dir nie in den Sinn gekommen, dass sie mir vielleicht dabei hilft, deine Überraschungsparty zu organisieren? Ich meine, natürlich bin ich froh, dass es ihm nicht in den Sinn gekommen ist. Ich hoffe nur, dass es Bonnie gut geht. Sie hat so ein sanftes Wesen und ist so lieb. Ich kann den Gedanken kaum ertragen, dass Luke sie vielleicht aus der Fassung gebracht hat. »Becky ... « Luke ist leicht verwundert. »Was hast du denn?« Ich darf nichts sagen. Ich würde alles verraten. »Nichts.« Ich schüttle den Kopf. »Kein Problem. Du hast sicher recht. Es ist ... schade.« »Okay«, sagt Luke ganz langsam und sieht mich so komisch an. »Na gut, ich gehe mich umziehen. Nanny Sue müsste bald hier sein.« Sobald er weg ist, wetze ich nach unten in die Toilette, wähle Bonnies Nummer und kriege die Mailbox. »Bonnie!«, rufe ich. »Luke hat mir eben erzählt, dass er Sie mündlich abgemahnt hat. Es tut mir so leid. Sie wissen, dass er nichts ahnt. Er wird sich sicher schämen, wenn er es rausfindet. Aber das Gute ist, dass Paris definitiv nicht stattfindet! Also fügt sich endlich eins zum anderen. Haben Sie der Belegschaft von Brandon C schon Bescheid gesagt? Rufen Sie mich zurück, sobald Sie können. « Als ich auflege, höre ich es an der Tür klingeln. Toll. Das muss Nazi Sue sein. Heute trägt Nanny Sue ihre offizielle, blaue Uniform. Wie sie da auf dem Sofa sitzt, mit einer Tasse Tee und ihrem Notebook neben sich, sieht sie aus wie eine Polizistin, die gekommen ist, um uns zu verhaften. »So«, sagt sie, blickt von mir zu Luke und lächelt dann zu Minnie herab, die mit ihrem Puzzle auf dem Boden hockt. »Es hat Spaß gemacht, etwas Zeit mit Becky und Minnie zu verbringen.« Dazu sage ich nichts. Auf ihre ach so freundliche Ouvertüre falle ich nicht herein. So fängt sie ihre Fernsehsendung immer an. Erst ist sie supernett, dann stürzt sie sich auf ihre Beute, und am Ende schluchzen sich alle an ihrer Schulter aus und heulen: »Nanny Sue, wie können wir bessere Menschen werden?«  »Okay.« Sie tippt etwas ins Notebook, und auf dem Bildschirm erscheint mit schwarzen Buchstaben »Minnie Brandon«. »Wie Sie wissen, habe ich -wie ich es immer tue -unseren gemeinsamen Morgen gefilmt. Nur für meine eigenen Aufzeichnungen.« »Bitte?« Ich glotze sie an. »Ist das Ihr Ernst? Wo war die Kamera?«  »An meinem Revers.« Nanny Sue ist ebenso erstaunt und wendet sich Luke zu. »Ich dachte, Sie hätten Becky darüber informiert?« »Du wusstest es? Und hast mir nichts gesagt!«, fahre ich Luke an. »Ich bin die ganze Zeit gefilmt worden, und du hast mir nichts davon gesagt?« »Ich hielt es für besser. Ich dachte, wenn du es wüsstest, würdest du vielleicht. …« Er zögert. »Dich unnatürlich benehmen. Theater spielen.« »Ich würde nie Theater spielen«, erwidere ich wütend. Nanny Sue scrollt durch die Bilder, hält hier und da an, und ich sehe mich, wie ich theatralisch einen Vortrag über Knetgummi aus Bio-Mehl halte. »Der Part ist unwichtig«, sage ich hastig. »Da können wir vorspulen.«  »Und, was sagen Sie denn nun, Nanny Sue?«, Luke beugt sich auf seinem Stuhl vor, die Hände erwartungsvoll auf den Knien gefaltet. »Haben Sie größere Probleme festgestellt«  »Leider ist mir tatsächlich etwas aufgefallen, das mir Sorgen bereitet«, sagt Nanny Sue ernst. »Ich zeige es Ihnen gleich ... können Sie beide den Bildschirm sehen?«  Was ist ihr aufgefallen? Was es auch war, sie täuscht sich. Ich bin außer mir vor Entrüstung. Woher nimmt sie das Recht, in unser Haus zu kommen, uns zu filmen und uns zu sagen, was mit unserer Tochter nicht stimmt? Wer hat eigentlich gesagt, dass sie Expertin ist? »Moment!«, rufe ich, und überrascht hält Nanny Sue das Video an. »Viele Kinder sind lebhaft, Nanny Sue. Aber das heißt nicht, dass sie verwöhnt sind. Es heißt nicht, dass sie Probleme haben. Der Mensch ist ein vielfältiges und wunderbares Wesen. Manche sind ängstlich, manche sind beherzt! Unsere Tochter ist eine wundervolle Person, und ich werde nicht zulassen, dass ihr freier Geist in einem ... autoritären Boot Camp unterdrückt wird! Und Luke sieht das genauso!«  »Ich auch.« Nanny Sues Stimme überrascht mich. »Bitte?«, sage ich flau. »Meiner Ansicht nach hat Minnie nicht das geringste Problem. Sie könnte etwas mehr Struktur und Disziplin gebrauchen, aber ansonsten ist sie ein lebendiges, ganz normales Kind.«  »Normal?« Benommen starre ich sie an. »Normal?«, ruft Luke. »Ist es normal, Leute mit Ketchup zu bespritzen?«  »Für ein zweijähriges Kind, ja.«  Nanny Sue scheint sich zu amüsieren. »Völlig normal. Sie testet nur die Grenzen aus. Wann hat sie denn übrigens das letzte Mal jemanden mit Ketchup bespritzt?«  »Nun ... « Etwas unsicher sieht Luke mich an. »Also ... das weiß ich gerade nicht. Es ist schon eine Weile her.« »Sie ist stur. Und gelegentlich scheint sie die Oberhand zu gewinnen. Ich schlage vor, dass ich einen Tag mit Ihnen verbringe und Ihnen ein paar Ratschläge gebe, wie Sie Minnies wilderes Gebaren lenken können. Aber ich möchte wirklich nicht, dass Sie glauben, Sie hätten ein Problemkind. Minnie ist ein ganz normales Kind. Und ein wirklich süßes Kind dazu.«  Ich bin so verdutzt, dass ich gar nicht weiß, was ich dazu sagen soll. »Sie ist sehr intelligent«, fügt Nanny Sue hinzu, »was eine Herausforderung wird, wenn sie etwas älter ist. Intelligente Kinder testen ihre Eltern oft am meisten aus ... «  Dann fangt sie wieder von den Grenzen an, aber ich freue mich viel zu sehr, als dass ich ihr weiter zuhöre. Minnie ist intelligent! Nanny Sue hat gesagt, mein Kind ist intelligent! Eine echte Expertin aus dem Fernsehen! »Sie wollen uns also kein Boot Camp vorschlagen?“, breche ich beschwingt in ihren Vortrag ein. »Oh, das habe ich nicht gesagt.“ Nanny Sues Miene verdüstert sich. »Wie bereits erwähnt, ist mir bei meinen Beobachtungen sehr wohl etwas aufgefallen. Und es hat mich doch beunruhigt. Sehen Sie hier ... „ Sie drückt eine Taste, und der Film fangt an -doch zu meiner Überraschung ist auf dem Bildschirm nicht Minnie zu sehen. Da bin ich. Ich sitze im Taxi auf dem Weg zum Einkaufszentrum, und die Kamera zoomt auf meine Hände. »Wo seid ihr da?“ Luke versucht, auf dem Bildschirm etwas zu erkennen. »In einem Taxi?“ »Wir sind ... unterwegs. Müssen wir uns das wirklich ansehen?“ Ich will den Bildschirm schon zuklappen, doch Nanny Sue nimmt ihn sanft aus meiner Reichweite. »Vielleicht könnten wir mal einen Blick in dieses neue Shopping Center werfen, statt zum Turnen zu fahren«, höre ich mich auf dem Bildschirm sagen. »Becky, ich möchte, dass Sie sich Ihre Hände ansehen.«  Nanny Sue zeigt mit einem Bleistift. »Sie zittern. Sehen Sie, wie Ihre Finger zucken? Es fing an, als Sie das Schild des Shopping Centers zum ersten Mal sahen, und ich glaube, es hörte erst auf, nachdem Sie etwas gekauft hatten.« »Manchmal zucken meine Finger eben.« Ich stoße ein kleines Lachen aus. Aber Nanny Sue schüttelt den Kopf. »Ich möchte Sie nicht beunruhigen, Becky ... aber ist Ihnen schon mal in den Sinn gekommen, dass Sie vielleicht shoppingsüchtig sein könnten?« Luke gibt ein unvermitteltes Schnauben von sich, das ich ignoriere. »Shopping?«, wiederhole ich schließlich, als wäre ich mir nicht mal ganz sicher, was das Wort bedeutet. »Äh ... ich glaube nicht .. .« »Sehen Sie sich Ihren Unterkiefer an. Wie verkrampft er ist!« Sie deutet auf den Bildschirm. »Sehen Sie sich an, wie Sie mit den Fingern auf dem Sitz herumtrommeln.« Ehrlich. Darf man jetzt schon nicht mehr auf dem Sitz trommeln? »Sie strahlen eine gewisse Verzweiflung aus«, beharrt Nanny Sue. »In meinen Augen ist das eine Reaktion, die über das normale Maß hinausgeht.« »Nein, ist es nicht!« Ich merke, dass ich zu bockig klinge, und rudere sofort zurück. »Hören Sie. Ich war eine Weile nicht shoppen, und das ist ein nagelneues Shopping Center, ich bin auch nur ein Mensch! Es gab etwas umsonst! Es gab Jimmy Choo für die Hälfte! Und Burberry! Da würden doch jedem die Finger zucken!« Nanny Sue sieht mich einen Moment an, als hätte ich irgendwelches Kauderwelsch geredet, dann wendet sie sich Luke zu. »Ich bin dabei, neue Behandlungsprogramme für Erwachsene einzuführen. Dabei wird es um alle möglichen Störungen gehen, von Suchtverhalten über Aggressionen ... « »Moment mal eben!« Ungläubig falle ich ihr ins Wort. »Soll das heißen, Sie wollen mich in ein Boot Camp schicken? Luke, kannst du das glauben?« Ich sehe ihn an, warte, dass er lacht und sagt: »Was für eine lächerliche Idee.« Aber er runzelt nur sorgenvoll die Stirn. »Becky, ich dachte, du hättest gesagt, du wolltest eine Weile nicht shoppen gehen. Ich dachte, wir hätten eine Vereinbarung.« »Ich war nicht für mich shoppen«, sage ich ungeduldig. »Ich habe nur ein paar notwendige Kleinigkeiten für Minnie gekauft. Und die waren alle heruntergesetzt!«  »Wie Sie leben wollen, ist selbstverständlich Ihre Sache«, sagt Nanny Sue. »Allerdings habe ich die Sorge, dass Minnie vielleicht einige Ihrer Neigungen übernimmt. Schon jetzt verfügt sie über ausgesprochen fortgeschrittene Kenntnisse von Markennamen, sie scheint über unbegrenzte finanzielle Mittel zu verfügen ...«  Das geht zu weit. »Das stimmt nicht!«,  schreie ich gekränkt. »Sie gibt nur ihr Taschengeld aus! Es steht alles in dem kleinen Buch, das ich Ihnen gezeigt habe!« Ich greife in meine Tasche und hole Minnies Taschengeldbüchlein hervor. »Sie erinnern sich?« Ich halte es Nanny Sue hin. »Ich meine, ja, hin und wieder kriegt sie einen kleinen Vorschuss, aber ich habe ihr erklärt, dass sie das Geld zurückzahlen muss.«  Eine Weile blättert Nanny Sue in dem Buch herum, dann sieht sie mich so seltsam an. »Wie viel Taschengeld bekommt sie wöchentlich?« »Fünfzig Pence« , sagt Luke. »Vorläufig.« Nanny Sue hat aus ihrer Mappe einen Taschenrechner hervorgezaubert und tippt darauf herum. »Nach meinen Berechnungen ...« , gelassen blickt sie auf, » ... hat Minnie ihr Taschengeld bis zum Jahr 2103 ausgegeben.«  »Wie bitte?«, Verunsichert starre ich sie an. »Wie bitte?«, Luke reißt ihr das Büchlein weg und fängt an, darin herumzublättern. »Was zum Teufel hat sie denn gekauft?« »Gar nicht so viel ... «  Bis zum Jahr 2103? Kann das stimmen? Panisch versuche ich, es im Kopf durchzurechnen, während Luke die Einträge in Minnies Büchlein untersucht, als wäre er von der Gestapo. »Sechs Puppen?« Er zeigt auf eine Seite. »An einem Tag?« »Die gehörten zusammen.«  sage ich trotzig. »Und sie haben französische Namen! Das hilft ihr mit der Sprache!«  »Was ist das hier?« Er ist schon auf einer anderen Seite. »Junior-Dolce-Boots?«  »Die hat sie neulich getragen! Diese kleinen Wildleder stiefel. Du hast gesagt, wie hübsch sie aussehen!«  »Ich wusste ja nicht, dass sie zweihundert Pfund kosten!«, platzt er heraus. »Ich meine, Herrgott noch mal, Becky, sie ist ein kleines Kind! Wozu braucht sie Designerstiefel?«  Er sieht richtig schockiert aus. Ehrlich gesagt, bin ich selbst etwas schockiert. Vielleicht hätte ich zwischendurch doch mal die Ausgaben zusammenzählen sollen. »Okay, ich behalte ihr Taschengeld vorerst ein ... «  Luke hört mir gar nicht zu. Er hat sich wieder zu Nanny Sue umgedreht. »Sie meinen, wenn wir Becky nicht kurieren, könnte Minnie ebenfalls zum Shopaholic werden?«  So besorgt habe ich ihn noch nie gesehen. »Nun, Suchtverhalten wird in Familien bekanntermaßen weitergereicht.« Die beiden reden, als wäre ich gar nicht da. »Ich bin nicht süchtig«, sage ich wütend. »Und Minnie auch nicht!« Ich reiße ihm das Büchlein aus der Hand. Bestimmt hat Nanny Sue nur falsch addiert. So viel können wir gar nicht ausgegeben haben. Minnie hat sich wirkungsvoll durch die Shortbread-Kekse auf dem Kaffeetisch gefuttert, doch jetzt fällt ihr das Taschengeldbüchlein auf. »Taschengeld?« Ihre Augen leuchten auf. »Shops?« Sie zieht an meiner Hand. »Starbucks-Shops?« »Nicht jetzt«, sage ich hastig. »Shops! Shops!« Enttäuscht reißt Minnie an meiner Hand, als müsste ich nur begreifen, was sie will. Den gleichen Gesichtsausdruck hatte Dad in Frankreich, als wir einen Ventilator kaufen wollten und die französischen Verkäufer ihn nur mit leeren Blicken anstarrten, während er » Ventilator! ventilator! Electrique!«  rief und mit beiden Händen herumwedelte. »Shops.«  »Nein, Minnie!« fahre ich sie an. »Sei jetzt still!« Minnie sieht aus, als würde sie ihr Hirn nach einer anderen Möglichkeit martern, wie sie es mir sagen könnte -da hellt sich ihre Miene auf. » Visa?« Luke unterbricht sein Gespräch und starrt sie an, sprachlos. »Hat sie eben < Visa < gesagt?«  »Ist sie nicht schlau?« Ich lache etwas zu fröhlich. »Was Kinder so reden ...« »Becky ... das ist schlimm. Richtig schlimm.« Er sieht so aufgebracht aus, dass es mir die Brust zusammen schnürt. »Das ist nicht schlimm!«, sage ich verzweifelt. »Sie ist nicht ... ich bin nicht ...« Mein Satz versandet. Einen Moment lang sagt keiner was, nur Minnie, die noch immer an meinem Arm zieht und »Visa!«, ruft. Schließlich hole ich Luft. »Du meinst tatsächlich, es gibt da ein Problem? Na, gut. Wenn du meinst, ich sollte ins Boot Camp gehen, dann gehe ich ins Boot Camp.«  »Keine Sorge, Becky.« Nanny Sue lacht. »So schlimm wird es nicht werden. Bei dem Programm geht es nur um Gespräche und Verhaltensmodifikationen in unserer Londoner Zentrale, mit einer Unterbringungsmöglichkeit für anreisende Teilnehmer. Es gibt Workshops, Einzelgespräche, Rollenspiele ... Ich glaube, es wird Ihnen gefallen!« »Mir gefallen?« Sie reicht mir einen Zettel, aber ich bringe mich nicht dazu, ihn anzusehen. Ich kann nicht fassen, dass ich eingewilligt habe, ins Boot Camp zu gehen. Ich wusste, ich hätte Nanny Sue gar nicht erst ins Haus lassen sollen. »Hauptsache, mit Minnie ist alles in Ordnung«, seufzt Luke. »Wir haben uns schon Sorgen gemacht.« Nanny Sue nimmt einen Schluck Tee und blickt von ihm zu mir. »Nur so aus Interesse ... wie sind Sie denn überhaupt darauf gekommen, dass etwas mit ihr nicht stimmen könnte?« »Ich hab mir von Anfang an keine Sorgen gemacht«, sage ich sofort. »Das war Luke. Er meinte, wir könnten kein Kind mehr bekommen, weil wir Minnie nicht im Griff haben. Er meinte, sie ist zu wild.« Während ich rede, wird es mir bewusst. Jetzt gibt es für ihn keine Ausreden mehr! Sieg! Ich fahre zu Luke herum. »Und wirst du dir das mit dem zweiten Kind jetzt überlegen? Du musst es dir noch mal überlegen!« »Ich ... weiß nicht.« Luke sitzt in der Falle. »Solche Entscheidungen sollte man nicht überstürzen, Becky. Es ist ein großer Schritt ... « »Alles im Leben ist ein großer Schritt!«, sage ich abfällig. »Sei nicht so ein Schisshase! Sie finden doch auch, dass Minnie noch ein Geschwisterchen haben sollte, oder?«, flehe ich Nanny Sue an.Sie glauben doch auch, dass es gut für sie wäre.« Ha! Das wird Luke eine Lehre sein. Dieses Spielchen Wie ziehe ich Nanny Sue auf meine Seite? beherrsche ich auch. »Das ist eine sehr persönliche Entscheidung.« Sie wirkt nachdenklich. »Allerdings dürfte es bisweilen hilfreich sein, solche Fragen zu besprechen. Luke, hat es einen speziellen Grund, wieso Sie nicht noch ein Kind möchten?« »Nein«, sagt Luke nach einer langen Pause. »Eigentlich nicht.« Er fühlt sich offensichtlich unwohl, wie ich plötzlich merke. »Warum ist es für ihn so ein wunder Punkt?«  »Natürlich sind Babys kleine Störenfriede ... «, beginnt Nanny Sue. »Minnie nicht!«, verteidige ich sie sofort. »Ich meine, nur ein ganz kleines bisschen ... « Betroffen stutze ich. »Hat es damit zu tun, dass sie damals deine Akten zerkaut hat? Sie hat gezahnt, Luke! Und du hättest die Unterlagen nicht auf dem Bett liegen lassen sollen, und vielleicht hättest du auch eine Kopie davon machen sollen ... « »Damit hat es nichts zu tun!«, fallt mir Luke ins Wort. »Sei nicht albern! Das wäre kein Grund. Das wäre doch kein ... « Abrupt kommt er ins Stocken, und seine Stimme bekommt plötzlich so etwas Schneidendes. Er hat sich abgewandt, aber ich sehe die Anspannung in seinem Nacken. »Was ist los?« »Ich glaube, hier geht es nicht nur darum, wie sich Ihr Kind benimmt, habe ich recht, Luke?«, sagt Nanny Sue leise, und ich starre sie nur an. Das ist genau wie im Fernsehen! »Lassen Sie sich Zeit«, fügt sie hinzu, als Luke tief Luft holt. »Kein Grund zur Eile.« Alles ist still, nur Minnie kaut an einem Keks. Ich wage nicht, mich zu rühren. Die Atmosphäre im Raum hat sich total verändert. Es ist viel ruhiger. Was wird er sagen? »Minnie zu bekommen war wundervoll.« Endlich sagt Luke etwas, wenn auch mit ein wenig rauer Stimme »Aber ich glaube einfach nicht, dass ich einem anderen Kind dieselbe Intensität an Gefühl entgegenbringen könnte. Und das Risiko möchte ich nicht eingehen. Ich weiß, was es für ein Kind bedeutet, wenn es sich verlassen und ungeliebt fühlt, und das werde ich meinem eigenen Kind nicht antun.« Ich bin dermaßen baff, dass ich keinen Laut von mir geben kann. Ich hatte keine Ahnung, dass Luke so empfindet. Gar keine. Überhaupt keine. »Warum fühlen Sie sich verlassen, Luke?« Nanny Sue spricht mit der weichen, mitfühlenden Stimme, wie immer am Ende ihrer Sendung. »Meine Mutter hat mich verlassen, als ich klein war«, sagt Luke nüchtern. »Wir sind uns zwar später wieder begegnet, aber wir hatten nie ... eine innere Verbindung, könnte man vielleicht sagen. Vor Kurzem kam es zu einer schweren Auseinandersetzung, und ich bin mir ziemlich sicher, dass wir nie wieder ein Wort miteinander sprechen werden.« »Ich verstehe.« Nanny Sue wirkt unbeeindruckt. »Haben Sie schon versucht, sich mit ihr wieder zu versöhnen? Oder hat sie es versucht?« »Meine Mutter verschwendet keinen Gedanken an mich.« Er lächelt bitter. »Glauben Sie mir.« »Becky, sind Sie mit dieser Situation vertraut?« Nanny Sue wendet sich mir zu. »Glauben Sie auch, dass Lukes Mutter keinen Gedanken an ihn verschwendet?« Mein Gesicht wird heiß, und ich gebe einen kleinen, unartikulierten Laut von mir, der nichts bedeutet. »Becky hasst meine Mutter noch mehr als ich«, wirft Luke mit barschem Lachen ein. »Stimmt es nicht, Schatz? Du bist doch bestimmt froh, wenn wir sie nie mehr wiedersehen müssen.« Ich schlucke meinen Tee herunter, mit brennenden Wangen. Es ist nicht auszuhalten. Ich habe etwa zweihundert Nachrichten in meinem Handy, alle von Elinor, alle wegen Luke. Sie will ihm die beste Party der Welt organisieren. Aber ich darf nichts verraten. Was soll ich sagen? »Ich bin bei einer wunderbaren Stiefmutter aufgewachsen«, erzählt Luke weiter. »Sie war meine richtige Mum. Aber trotzdem lässt einen dieses Gefühl des Verlassenseins nie los. Wenn ich noch ein zweites Kind hätte, und es würde sich verlassen fühlen ... « Er verzieht das Gesicht. »Das könnte ich einfach nicht.« »Aber wieso sollte es sich verlassen fühlen?«, fragt Nanny Sue sanft. »Es wäre Ihr Kind. Sie würden es lieben.« Es folgt langes Schweigen. Dann schüttelt Luke den Kopf. »Das ist das Problem. Meine Angst, wenn Sie so wollen.« Plötzlich wird seine Stimme ganz tief und heiser. »Ich weiß nicht, wie ich so viel Zuneigung aufbringen soll, um sie unter mehreren aufteilen zu können. Ich liebe Becky. Ich liebe Minnie. Fertig, aus.« Plötzlich dreht er sich zu mir um. »Geht es dir nicht auch so? Hast du nicht auch Angst, dass dir die Kraft fehlen könnte, noch ein Kind zu lieben?« »Also ... nein, sage ich etwas perplex. »Ich denke immer ... je mehr, desto besser.“ »Luke, diese Angst ist weitverbreitet«, sagt Nanny Sue. »Ich habe viele, viele Eltern erlebt, die vor ihrem zweiten Kind dieselbe Sorge hatten. Sie lieben ihr erstes Kind und fühlen sich schuldig, weil sie nicht genügend Liebe für ein zweites in sich tragen.“ »Genau.« Angestrengt runzelt er die Stirn. »Genau so ist es. Es liegt an den Schuldgefühlen.«  »Aber jeder Einzelne von diesen Eltern -ausnahmslos -hat mir später gesagt, dass sehr wohl genügend Liebe da war. Da war mehr als genug.«  Ihre Stimme wird noch sanfter. »Liebe gibt es im Überfluss.«  Plötzlich fangen meine Augen an zu brennen. Ach, du je. Ich werde nicht zulassen, dass Nanny Sue mich zum Heulen bringt! »Sie wussten doch auch vorher nicht, wie sehr Sie Minnie lieben würden, oder?«, sagt Nanny Sue zu Luke. »Und dennoch hat es Sie nicht daran gehindert.«  Es folgt eine lange Pause. Plötzlich merke ich, dass ich Daumen drücke. Mit beiden Händen. Und Füßen. »Ich ... glaube nicht“, sagt Luke schließlich langsam. »Ich glaube, am Ende muss man wohl einfach Vertrauen haben.« Er blickt zu mir auf und lächelt schief, und ich strahle ihn an. Nanny Sue ist die schlauste Expertin der Welt, und ich liebe sie. Eine Stunde später haben wir endgültig von Nanny Sue Abschied genommen, haben versprochen, auf ewig in Kontakt zu bleiben, und schließlich Minnie zu Bett gebracht. Luke und ich schleichen auf Zehenspitzen aus ihrem Zimmer, lehnen draußen an der Wand und sehen uns schweigend einen Moment lang an. »Okay«, sagt Luke schließlich. »Okay.« »Meinst du, wir sollten einen Jungen oder ein Mädchen bekommen?« Er zieht mich an sich, und ich sinke in seine Arme. »Meinst du, Minnie möchte ein Brüderchen oder ein Schwesterehen herumkommandieren?« Ich kann nicht glauben, dass er so redet. Ich kann nicht glauben, dass er damit so entspannt ist. Nanny Sue ist ein echtes Genie. (Abgesehen von der Sache mit dem Shopping-BootCamp, das fürchterlich klingt und aus dem ich mich irgendwie herauswinden muss.) Ich schließe die Augen und lehne mich an Lukes Brust. Plötzlich wird mir ganz warm und wohlig. Die Party ist geregelt. Luke will noch ein Baby. Minnie ist ein liebenswertes, intelligentes Kind. Und endlich kann ich mich entspannen. »Es gibt so viel, worauf wir uns freuen können«, sage ich selig. »Stimmt.« Gerade lächelt er zurück, da klingelt mein Handy. Ich sehe Bonnies Nummer und mache mich von ihm los, um den Anruf entgegenzunehmen. »Oh, hi!«, sage ich freundlich, aber zurückhaltend. »Luke ist gerade bei mir ... « »Hat er seinen BlackBerry bei sich?«, unterbricht mich Bonnie auf höchst unbonniege Weise. »Äh ... er stellt ihn gerade an«, sage ich, als ich mich zu ihm umsehe. (Er hatte ihn ausgemacht, solange Nanny Sue da war, was nur zeigt, wie sehr er ihre Meinung respektiert.) »Nehmen Sie ihn ihm weg! Suchen Sie irgendeine Ausrede! Er darf es·nicht sehen!« Sie klingt panisch, und ich reagiere sofort. »Gib mal her!« Ich reiße Luke den BlackBerry aus der Hand, als er gerade zu summen und zu blinken anfangt. »Entschuldige!« Ich tarne mich eilig mit einem Lachen. »Es ist nur ... meine Arbeitskollegin will mir gerade was von verschiedenen BlackBerry Modellen erzählen. Du hast doch nichts dagegen, oder?« »Lassen Sie ihn auch nicht an seinen Computer!«, höre ich Bonnies Stimme an meinem Ohr. « Nichts mit E-Mails!« »Luke, würdest du mir vielleicht einen Becher Tee machen?«, sage ich schrill. »Jetzt sofort? Ehrlich gesagt ... ich fühle mich nicht gut. Könntest du ihn mir vielleicht ans Bett bringen? Und dazu einen Toast?« »Also ... okay.« Luke wirft mir einen etwas seltsamen Blick zu. »Was ist los?« »Toilette!«, keuche ich. »Mach mir Tee! Danke!«  Ich hetze ins Badezimmer, schnappe mir sein Notebook vom Schreibtisch und verstecke es in meinem Schrank, dann wende ich mich atemlos wieder dem Handy zu. »Was ist denn los, Bonnie?« »Becky, ich fürchte, mir ist vor einer Weile ... «, sie atmet schnell, » ... ein einschneidender Fehler unterlaufen.« Ein Fehler? Bonnie? Oh, mein Gott. Der Stress hat seinen Tribut gefordert. Sie hat irgendwas bei der Arbeit vermasselt, und jetzt soll ich sie decken. Vielleicht bittet sie mich gleich, Beweisstücke zu fälschen oder Luke zu belügen oder E-Mails von seinem Computer zu löschen. Ich bin gleichzeitig gerührt, dass sie mir so sehr vertraut ... und erschüttert, dass ich' sie so weit getrieben habe. »Waren Sie bestürzt, weil Luke Sie ab gemahnt hat? Ist Ihnen deshalb ein Fehler unterlaufen?« »Ich war heute Nachmittag etwas nervös«, sagt sie zögernd. »Das stimmt.« »Ich wusste es!« Ich fasse mir an den Kopf. »Bonnie, ich habe so ein schlechtes Gewissen. War Luke wirklich böse auf Sie?« »Nicht unangemessen, angesichts der Umstände, aber ich war doch erschüttert, wie ich gestehen muss ... « »Bonnie, kein Wort mehr!« Meine Stimme bebt vor Entschlossenheit. »Was Sie auch getan haben, welcher Fehler Ihnen auch unterlaufen sein mag, wie groß der Schaden für Brandon Communications auch deshalb sein mag ... nie im Leben war es Ihre Schuld. Ich werde nicht zulassen, dass Luke Sie feuert. Ich werde Sie bis aufs Blut verteidigen!« Plötzlich habe ich so ein Bild vor Augen, wie ich mich vor Luke in seinem Büro aufbaue, Bonnie am Handgelenk halte und sage: »Weißt du eigentlich, was für ein Schatz diese Frau ist? Weißt du eigentlich, was für eine Stütze sie ist?« »Becky, seien Sie beruhigt! Mir ist kein Fehler unterlaufen, der Brandon Communications betrifft.« Bonnies Stimme bohrt sich in meine Träumereien. »Ich fürchte, es hat mit der Party zu tun.« »Mit der Party?« Ich spüre ein leises Beben. »Was ist passiert?« »Wie Sie wissen, war heute der Tag, an dem ich unsere Belegschaft von Lukes Geburtstagsüberraschung in Kenntnis gesetzt habe. Ich habe eine Rundmail verschickt, und alles ging glatt. Alle sind gespannt und freuen sich.« »Gut.« Ich versuche, die aufkommende Panik zu ersticken. »Und ... ist irgendwas schiefgegangen?« »Kurz darauf habe ich gemerkt, dass ich die gemeinsame Geburtstagskarte nicht erwähnt hatte. Also habe ich eine weitere Mail vorbereitet und den Empfängern mitgeteilt, dass eine Glückwunschkarte vorbereitet und Luke bei der Party überreicht werden würde. Ich war gerade dabei, die Mail noch mal durchzusehen, als ich dachte, ich höre Lukes Stimme. In der Hektik habe ich die Mail eilig abgeschickt und meinen Bildschirm zugeklappt.« Sie macht eine Pause. »Mein Fehler ist mir erst später aufgegangen.« »Ihr Fehler?« Mein Herz rast. »Oh, Gott. Sie haben sie doch nicht auch an Luke geschickt, oder?« »Doch, leider ist sie auch an Luke rausgegangen«, sagt Bonnie nach einer kurzen Pause. Der Schock lässt winzig kleine Funken in meinem Kopf aufblitzen. Einatmen ... ausatmen ... »Das macht nichts.« Ich staune, dass ich Ruhe bewahre, wie ein erfahrener Notarzt. »Keine Sorge, Bonnie. Ich lösche sie von seinem Computer und vom BlackBerry. Nichts passiert. Gott sei Dank ist es Ihnen noch eingefallen ...«  »Becky, Sie verstehen nicht. Luke hat sie bekommen, weil er auf unserer Liste sämtlicher Kontakte steht. Dahin habe ich die Mail versehentlich geschickt.« »Sämtliche Kontakte?«, wiederhole ich unsicher. »Und ... wen betrifft das? Wer steht auf dieser Liste?« »Ungefähr zehntausend Londoner Analysten und Experten ... und die Presse. Unglücklicherweise ist die Mail an alle raus gegangen.« Wieder blitzt es in meinem Kopf... aber diesmal sind es keine kleinen Funken. Es ist ein gewaltiger, donnernder, überwältigender Tsunami des Entsetzens. »Zehntausend Empfänger?« »Natürlich habe ich umgehend eine Richtigstellung herumgeschickt und um absolute Diskretion gebeten. Nur fürchte ich, so einfach ist es nicht. Manche haben schon geantwortet. Die ersten Geburtstagsgrüße für Luke treffen ein. Sein Postfach ist voll. Er hat schon sechsundfünfzig Mails.« Mit zitterndem Daumen tippe ich mich zu den eingegangenen Nachrichten auf seinem BlackBerry durch. Als die Seite aufgeht, ist der Bildschirm voll von ungelesenen Mails. Alles Gute, mein Freund! Feier schön Glückwünsche & Grüße vom HSBC Marketing Team Ich höre Lukes Schritte, als er die Treppe heraufkommt. Ich könnte schreien. Ich muss den BlackBerry verstecken. Ich muss alles verstecken, alles verhindern. »Er wird es sich zusammenreimen!«, flüstere ich entsetzt und tauche im Badezimmer ab. »Wir müssen sie löschen! Wir müssen sie aufhalten!« »Ich weiß.« Auch Bonnie klingt ziemlich verzweifelt. »Aber anscheinend haben die Leute die Mail bereits weitergeleitet. Er bekommt Glückwünsche von überall her. Ich weiß nicht, wie wir sie aufhalten können.« »Es soll doch ein Geheimnis sein!«, heule ich beinah. »Wissen die das denn nicht?« »Becky.« Bonnie seufzt. »Vielleicht haben Sie das Geheimnis jetzt lange genug gehütet. Die Party ist schon übermorgen. Wäre es nicht an der Zeit, Luke einzuweihen?«  Schockiert starre ich das Handy an. Sie meint, ich soll einfach aufgeben? Nach allem, was gewesen ist? »Nie im Leben!« fauche ich »Niemals! Es soll eine Überraschungsparty werden. Okay? Eine Überraschung. Ich muss Luke nur einfach ablenken, damit er keine E-Mails oder irgend so was sieht.« »Liebes, Sie können ihn unmöglich zwei volle Tage von seinen E-Mails fernhalten ... « »Doch, kann ich! Ich verstecke seinen BlackBerry, und mit dem Notebook werde ich auch irgendwie fertig ... Sorgen Sie dafür, dass die Techniker wenn möglich sämtliche E-Mails löschen. Halten Sie mich auf dem Laufenden. Bonnie, ich muss los ... « »Becky?«, ruft Luke aus dem Schlafzimmer. »Liebling, ist alles okay?«  Ich lege auf, starre Lukes BlackBerry ein paar Herzschläge lang an, dann trete ich schnell darauf, stampfe ihn in die Bodenfliesen. Da! Nimm das! Zehntausend Leute verraten meine Überraschungsparty . »Becky?« Ich öffne die Tür, und da steht er mit einem Becher und einem Teller mit zwei Scheiben Toast . »Alles okay?« Voll Sorge sieht er mich, dann streckt er eine Hand aus »Kann ich meinen BlackBerry wiederhaben?« »Ich hab' ihn kaputt gemacht. Sorry.« »Du meine Güte. »Schockiert starrt er die demolierten Überreste an »Wie hast du das denn hingekriegt?« Er sieht sich im Badezimmer um. »Wo ist eigentlich mein Notebook geblieben? Ich muss Bonnie eine Mail schreiben ... «  »Nein!« Mein Schrei ist so schrill, dass er verdutzt zusammenzuckt und Tee aus dem Becher schwappt. »Vergiss dein Notebook! Vergiss das alles! Luke ... « Verzweifelt sehe ich mich um. »Ich ... ich ovuliere!« Ja! »Was?« Mit leerem Blick starrt er mich an. »Genau jetzt!« Ich nicke heftig. »In diesem Moment! Ich habe gerade einen Test gemacht. Die sind heutzutage sehr genau. Wir müssen sofort loslegen! Schnell! Minnie schläft, wir zwei sind ganz allein zu Haus ... « Verführerisch mache ich mich an ihn heran, nehme ihm Becher und Teller aus der Hand und stelle beides auf ein Regal. »Komm mit, Liebster ... « Ich spreche mit tiefer, heiserer Stimme. »Lass uns ein Baby machen.« »Hm, im Grunde keine schlechte Idee.« Seine Augen leuchten, als ich anfange, sein Hemd aufzuknöpfen, und es ihm aus der Hose ziehe. »Was du heute kannst besorgen ...« »Ganz genau.« Ich schließe die Augen und fahre mit der Hand supersinnlich über seine Brust. »Ich bin total in Stimmung.« Was sogar stimmt. Das ganze Adrenalin in meinem Körper macht mich total heiß und fiebrig. Ich ziehe ihm das Hemd aus und drücke ihn an mich, atme seinen schwachen Duft von Schweiß und Aftershave ein. Mmmmh. Das war eine sehr gute Idee . »Finde ich auch«, murmelt Luke an meinem Hals. Er ist offensichtlich ebenfalls in Stimmung, und zwar gewaltig. Ausgezeichnet. Das könnte ein paar Stunden dauern. Er wird keinen Gedanken an Notebooks oder BlackBerrys verschwenden. Wenn ich es richtig anstelle, müsste es ihn sogar bis morgen früh beschäftigen. Und dann ... Oh, Gott. Keine Ahnung. Ich muss mir einfach was einfallen lassen. Ich hab ja noch reichlich Zeit, mir was zu überlegen. Ich weiß nur eins: Ich werde ihn am Freitag überraschen, und wenn es mich umbringt. 19 Okay, es bringt mich fast um. Es ist halb acht am nächsten Morgen, und ich bin total verpennt, denn jedes Mal, wenn ich am Einschlafen war, hat Luke irgendwas gemurmelt wie: »Ich guck nach meinen E-Mails«, und ich musste schon wieder meine laszive Nymphomanennummer abziehen. Was -offen gesagt -echte Vorteile hatte. Aber jetzt sind wir voll und ganz befriedigt, alle beide. Ich meine, echt jetzt. Wir sind fix und fertig. (Zumindest für den Augenblick.) Und ich weiß, dass Luke nun andere Dinge im Kopf hat. Bisher habe ich es geschafft, ihn im Schlafzimmer zu halten. Ich habe uns das Frühstück ins Bett geholt, und er trinkt seine zweite Tasse Kaffee, während Minnie ein Stück Toast knabbert. Jeden Moment wird er auf seine Uhr sehen und sagen: »Hast du mein Notebook gesehen?« Er blickt auf. Ich wusste es. »Hm ... hast du es verlegt?« Ich weiche ihm aus. »Es muss hier irgendwo sein ... « Er schiebt das Hemd herum, das er gestern Abend auf den Boden geworfen hatte. »Bestimmt.« Ich nicke weise. Ich habe es vorhin heimlich rausgeschafft und hinter den Flaschen im Putzmittelschrank in der Waschküche versteckt. Dann habe ich ein Bügelbrett und einen überquellenden Wäschekorb vor die Schranktür geschoben. Da findet er es nie im Leben. »Ich muss mich bei Bonnie melden und ihr die Lage erklären ... « Zielstrebig sucht er im Zimmer herum. »Wo zum Teufel ist es? Ich habe es doch gestern Abend noch gehabt! Ich glaube, langsam werde ich dement. Kann ich deinen BlackBerry benutzen?« »Der Akku ist alle«, lüge ich lammfromm. »Hab' vergessen, ihn aufzuladen.« »Dann gehe ich an den Computer von deinen Eltern ... « »Die haben ihr Passwort geändert«, sage ich hastig. »Da kommst du nicht rein. Noch Kaffee, Schatz?« Das Telefon auf dem Nachtschränkchen klingelt, und ich gehe ran, so natürlich wie möglich. »Hallo? Oh, es ist für dich, Luke!« Ich gebe mir Mühe, überrascht zu klingen. »Es ist Gary!« »Hi, Gary.« Luke nimmt den Hörer. »Tut mir leid, mein BlackBerry ist kaputt ... « Er stutzt und glotzt das Telefon an. »was?«, sagt er schließlich. »Aber, Gary ... « Sittsam nippe ich an meinem Kaffee, betrachte Luke und versuche, nicht zu lächeln. Endlich legt er auf. Er sieht erschüttert aus. »Ach, du Schande!« Er sinkt in die Kissen. »Das war Gary. Ich glaube, er hat einen Nervenzusammenbruch.« »Gibt's ja nicht!«, rufe ich theatralisch. Der gute, alte Gary. Ich wusste doch, dass er mich nicht im Stich lässt. »Er sagt, wir müssen uns dringend treffen, über die Firma reden, über sein Leben, wie er den Druck loswerden kann. Er klang absolut verzweifelt. Ausgerechnet Gary!« Luke sieht aus, als fehlten ihm die Worte. »Ich meine, er ist der letzte Mensch auf der Welt, von dem ich erwarten würde, dass er zusammenbricht. Er war immer so ausgeglichen. Er sagt, er kann London nicht mehr ertragen. Er will sich mit mir an irgendeinem abgelegenen Ort im New Forest treffen. Du meine Güte!« Es ist das Ferienhaus, zu dem Gary immer mit seiner Familie fahrt. Da gibt es kein Handynetz, kein Internet und auch kein Fernsehen. Gary und ich hatten heute Morgen ein kleines Pläuschchen. Er meinte, er könnte die Sache mit dem Nervenzusammenbruch den Vormittag über durchhalten, und danach würde uns schon noch was einfallen. »Du musst dich um Gary kümmern«, sage ich ernst. »Schließlich ist er deine rechte Hand. Ich finde, du solltest hinfahren und ihn anhören. Sonst macht er noch Dummheiten«, füge ich eilig hinzu, als Luke zu zögern scheint. »Das Risiko willst du doch nicht eingehen, oder? Ruf Bonnie an, und bitte sie, deine Termine zu verlegen.« Schon will Luke nach dem BlackBerry in seiner Tasche greifen, als ihm etwas einfällt. »Das kann ja wohl nicht wahr sein ...« Leise fluchend langt er nach dem Festnetztelefon. »Ich weiß nicht mal ihre Nummer.« »Die ist.. .« Gerade noch rechtzeitig beiße ich mir auf die Zunge. Verdammt. Ich werde unvorsichtig. »Am besten lässt du dich von der Zentrale durchstellen«, sage ich eilig. »Hier!« Ich reiche ihm einen alten Notizblock von Brandon Communications, und mühsam tippt Luke die Nummer ein, mit finsterer Miene im Gesicht. Ich muss mir direkt auf die Lippe beißen, um nicht zu grinsen. Er ist total gereizt. »Hi, Maureen. Hier ist Luke. Könnten Sie mich zu Bonnie durchstellen?« Er nimmt einen Schluck Kaffee. »Bonnie. Gott sei Dank. Sie glauben nicht, was hier gerade los ist. Ich habe weder meinen BlackBerry noch mein Notebook, und eben kriege ich so einen merkwürdigen Anruf von Gary, und ich habe keine Ahnung, wie ich das alles unter einen Hut ... « Er stutzt, und ich sehe, wie sich sein Gesicht allmählich entspannt. »Oh, ich danke Ihnen, Bonnie«, sagt er schließlich. »Das wäre großartig. Dann reden wir später. Haben Sie unsere Privatnummer? Okay. Und ... danke.« Er legt den Hörer auf und sieht mich an. »Bonnie lässt mir per Kurier ein neues Notebook bringen, während ich bei Gary bin. Wenn du es entgegennehmen würdest, könnte ich es auf dem Rückweg zum Büro hier abholen.« »Was für eine großartige Idee!«, rufe ich, als wäre es mir neu und ich hätte nicht schon mindestens fünfzig E-Mails zu dem Thema hin und her geschickt. »Gut, dass Bonnie so tüchtig ist, nicht?«, kann ich mir nicht verkneifen. Bonnie schickt uns ein präpariertes Notebook, das sich aufgrund eines, »Serverfehlers« nicht ins Internet einloggen kann. Die technische Abteilung hat außerdem Lukes E-Mail-Konto lahmgelegt und eine Attrappe eingerichtet. Diese will Bonnie mit so vielen E-Mails bestücken, dass er beschäftigt ist und keinen Verdacht schöpft -sonst aber nichts. Wir schneiden ihn mehr oder weniger von der virtuellen Zivilisation ab. »Und sie besorgt mir einen Wagen, der mich zu Gary bringt. Er müsste in etwa zwanzig Minuten hier sein.« Stirnrunzelnd sieht sich Luke im Zimmer um. »Ich weiß genau, dass ich mein Notebook gestern Abend bei mir hatte. Ich weiß es genau.« »Mach dir keine Gedanken um das Notebook«, sage ich tröstend wie zu einem psychotischen Patienten. »Was hältst du davon, wenn du Minnie anziehst?« Mein BlackBerry meldet mir vibrierend einen Anruf, und sobald Luke außer Hörweite ist, greife ich ihn mir und gehe ran, ohne vorher einen Blick darauf geworfen zu haben. »Hi, Bonnie?« »Nein, hier ist Davina.« Ich bin dermaßen mit meinen Gedanken bei den heutigen Ereignissen, dass ich eine Nanosekunde brauche, bis ich begreife, wer dran ist. »Davina?« Ich kann meine Überraschung nicht verbergen. »Hi! Wie geht es Ihnen?« »Becky! Sie Ärmste! Das ist ja schrecklich!« Einen desorientierten Augenblick lang denke ich, sie meint, dass die Sache mit der Party fast herausgekommen wäre. Dann erst merke ich, wovon sie spricht. »Ach, das.« Ich verziehe das Gesicht. »Ja, ich weiß.« »Was ist denn passiert?« Ich könnte echt darauf verzichten, die ganze Sache noch mal durchzugehen. Irgendwie hatte ich es geschafft, nicht mehr daran zu denken. »Na ja, mein Chef hat das mit dem »Shop in Private Service rausgefunden.« Ich spreche ganz leise. »Und es hat ihm nicht gefallen. Also hat man meinen Arbeitsvertrag vorläufig ausgesetzt und eine Untersuchung des ganzen Vorfalls angekündigt.« Ehrlich gesagt waren die letzten paar Tage so hektisch, dass ich überhaupt nicht an diese Untersuchung gedacht habe. »Aber Sie haben uns das Leben gerettet!« Leidenschaft spricht aus Davinas Stimme. »Wir sind uns alle einig, dass wir es uns nicht gefallen lassen. Wir haben uns gestern getroffen ein paar von Ihren Stammkundinnen. Jasmine hat die Nachricht verbreitet, und dann haben wir uns auf einer E-Mail-Liste eingetragen ... « »Jasmine?« Ich kann nicht glauben, dass Jasmine die Truppen zusammengetrommelt hat. »Wir werden es nicht zulassen! Wir werden etwas unternehmen. Und dieser Chef, den Sie da haben, wird sich noch wünschen, er hätte sich nie mit Ihnen angelegt.« Sie ist so wütend, dass ich ganz gerührt bin. Von Jasmine auch. Obwohl, mal ehrlich: Was können die denn schon machen? Höchstens einen gemeinsamen Beschwerdebrief schreiben. »Also ... danke, Davina. Ich bin Ihnen wirklich dankbar.« »Ich halte Sie auf dem Laufenden. Aber eigentlich wollte ich fragen, ob ich irgendwas für Sie tun kann? Ich habe den ganzen Tag frei, und wenn Sie vielleicht reden möchten, wenn Sie etwas Aufheiterung brauchen ... « Eine Woge der Dankbarkeit ergreift mich. Davina ist wirklich ein Schatz. »Danke, eigentlich nicht.« Es sei denn, Sie könnten irgendwie meinen Mann ablenken ... Oh. Abrupt stehen meine Gedanken still. Davina ist doch Ärztin, oder? Also könnte sie vielleicht ... Nein. Darum kann ich sie nicht bitten. Das wäre doch ein allzu großer Gefallen. Aber es würde mir das Leben retten, und sie hat es mir angeboten ... »Offen gesagt, gibt es da etwas, das mir wirklich helfen würde«, sage ich vorsichtig. »Aber der Gefallen wäre ziemlich groß ... « »Alles! Sagen Sie es einfach!« Davina ist einfach die Größte. Bis Luke wieder mit Minnie zurückkommt, steht der Plan fest. Davina und ich haben Bonnie jeweils eine SMS geschickt. Alles ist vereinbart. Hastig schiebe ich meinen BlackBerry unter die Decke und lächle Luke an, als -wie verabredet -das Telefon klingelt. »Oh, hi, Bonnie!«, sage ich unschuldig. »Ja, Luke ist hier. Möchten Sie ihn sprechen?«  Ich reiche ihm den Hörer, und diesmal muss ich mir noch fester auf die Lippe beißen, als Lukes Gesicht lang und immer länger wird. »Eine dringende medizinische Untersuchung?« wettert er schließlich. Oh, Gott, ich darf nicht lachen. Ich darf nicht! »Das ist doch nicht Ihr Ernst!«, ruft er. »Wie kann das so dringend sein, verdammt? Na, dann sagen Sie denen eben, ich kann nicht.« Ich sehe ihm an, wie er immer frustrierter wird. »Na, dann sagen Sie der Versicherung, die können mich mal. Na, dann ... «  Die gute Bonnie. Offenbar spielt sie ihre Rolle am anderen Ende absolut glaubwürdig. »Das darf doch wohl nicht wahr sein!« Endlich knallt er den Hörer auf. »Offensichtlich muss ich heute Nachmittag eine ausführliche medizinische Untersuchung über mich ergehen lassen. Irgendein Versicherungsscheiß.«  »Das ist ja blöd!«, sage ich mitfühlend. Davina hat versprochen, Luke die denkbar ausführlichste Untersuchung angedeihen zu lassen. Sie wird mindestens sechs Stunden dauern, er wird in einem Krankenhauskittel stecken und weder sein Notebook noch sein Handy benutzen können, und niemand kann Kontakt zu ihm aufnehmen. »Dieser Tag ist absolut haarsträubend ... « Er fährt sich mit den Händen durch die Haare und sieht aus, als stünde er total unter Druck. Luke ist es nicht gewohnt, dass sich etwas seiner Kontrolle entzieht. Fast täte er mir leid, wenn mir nicht derart zum Lachen zumute wäre. »Ist doch nicht so schlimm.« Liebevoll drücke ich seine Hand. »Spiel einfach mit.« Ich werfe einen Blick auf meine Uhr. »Müsste der Wagen nicht jeden Moment da sein? Solltest du dich nicht bereit machen?«  Als Luke seine Jacke anzieht, summt eine SMS in meinem BlackBerry, und ich klicke sie heimlich an. Sie ist von Bonnie kurz und knapp. Becky. Haben Sie YouTube gesehen? Okay. Gerade wenn ich denke, dass absolut alles passiert ist, was passieren kann, kommt schon wieder was. Die Marketing-Abteilung von Foreland Investments hat ein Video gedreht, in dem alle Happy Birthday, Luke!, in die Kamera sagen, und sie haben es bei YouTube reingestellt, unter dem Titel »Happy Birthday, Luke Brandon!«  Ich bin hin und her gerissen, ob ich total gerührt sein oder total die Wände hochgehen soll. Ich meine: YouTube. Meine Güte, hätten sie nicht was weniger Diskretes machen können? Hätten sie es nicht erst morgen Abend reinstelIen können? Jedes Mal, wenn ich es anklicke, brauche ich ein paar Bachblüten-Notfalltropfen. Bis zehn Uhr hat das Video schon 145 Klicks, wobei nicht mehr als zehn von mir sind. Bis elf Uhr -als Janice und Suze kommen -sind es schon 1.678, und ungläubig muss ich mitansehen, dass zwei weitere Videos gepostet wurden. Eins stammt von der Sacrum-Vermögensberatung, auf dem jemand auf einem Schreibtisch »Happy Birthday, Luke Brandon«,  mit Büroklammern geschrieben hat. Das andere kommt von Wetherby's, und darauf singt die versammelte Marketing-Abteilung >Happy Birthday< in die Kamera. »Das ist so cool!« Fassungslos starrt Suze mein Notebook an. »Ich weiß.« Ich bin auch richtig stolz. Ich meine, alle diese Leute müssen Luke doch wirklich mögen, wenn sie sich die Mühe machen, ein Video für ihn zu drehen. Aber ich bin doch auch etwas nervös. »Was ist, wenn er es sieht?« »Er wird es schon nicht sehen«, sagt Suze zuversichtlich. »Was soll er denn bei YouTube? Ich wette, er geht nie zu YouTube. Er hat viel zu viel zu tun. Nur Trauerklöße wie du und ich sind dauernd online.« Gerade will ich einwenden, dass ich kein Trauerkloß bin, als es an der Tür klingelt und wir alle zusammenzucken. »Das wird er doch wohl nicht sein, oder?«, flüstert Janice stöhnend und schlägt eine Hand auf ihr Herz. Ehrlich. Janice übertreibt völlig. Ich habe meinen Kaffee fast gar nicht verschüttet. »Natürlich nicht. Das sind bestimmt die Zeltleute.« Aber sie sind es nicht. Es ist Danny. Er steht vor der Tür, in einem ramponierten Ledermantel, zerfetzten Jeans und silbernen Converse-Tretern, mit einem Haufen Kleiderbeuteln in Händen. »Jemand ein Kostüm?«, sagt er mit unbewegter Miene. »Danny, du bist ein Schatz!« Ich greife mir die Tüten. »Ich kann gar nicht glauben, dass du es wirklich getan hast!« Ich spähe in eine der Tüten und sehe Goldbrokat aufblitzen, mit glitzernder Spitze besetzt. Oh, mein Gott. Die sind perfekt! »Ich musste es einfach tun. Meine Güte! Deine Schwiegermutter ist aber auch ein echter Stalin. Der schlimmste Chef, den ich je hatte.« Ängstlich sieht er sich um. »Sie ist doch nicht hier, oder?« »Noch nicht«, sage ich beruhigend. »Aber Suze ist da. Sei vorsichtig. Sie ist immer noch sauer auf dich wegen dieser Sache mit den Fotos.« »Oh.« Danny wird es unbehaglich, und er tritt einen Schritt zurück. »Suze hat einfach kein Gespür für Ästhetik. Du musst bedenken, dass sie im Grunde ihres Herzens kein kreativer Mensch ist ... « »Ist sie wohl! Sie ist eine echte Künstlerin! Sieh dir ihre Bilderrahmen an!« »Stimmt auch wieder.« Danny versucht eine andere Strategie. »Na gut, okay, sie ist ein kreativer Mensch, aber sie hat überhaupt nicht begriffen, auf welchen Look ich aus war ...« »Habe ich wohl!«, Suzes grimmige Stimme wird hinter mir laut. »Ich habe den Look«  genau durchschaut! Tarkie hat sich von dir einwickeln lassen, Danny! Gib es zu!«  Schweigend sieht Danny sie einen Moment lang an. Er scheint seinen nächsten Schachzug zu bedenken. »Wenn ich es zugebe«, sagt er schließlich, »würdest du mir dann verzeihen, keine weiteren Fragen stellen und wieder so sein wie vorher?«  »Ich ...«, Suze zögert. »Also ... wahrscheinlich.«  »Okay, ich habe ihn bequatscht. Ich hab dich auch lieb.« Danny gibt ihr einen Kuss auf die Wange und marschiert an mir vorbei ins Haus. »Gibt es bei euch Kaffee? Janice!«  Er begrüßt sie überschwänglich. »Meine Stilikone! Meine Muse! Was ist das nur wieder für eine zauberhafte Lippenstiftfarbe!«  »Er ist ... unmöglich!«  Suze sieht so böse aus, dass ich lachen möchte. Doch ein Geräusch von draußen lenkt mich ab. Ein großer Lastwagen biegt in Janices Auffahrt ein. Er piept beim Zurücksetzen, und ein Mann in Jeans weist ihn ein. Das muss das Festzelt sein! Okay. Jetzt geht die Party richtig los. Um vier Uhr nachmittags ist das Zelt in Janices Garten aufgestellt. Es ist noch nicht dekoriert, sieht aber trotzdem schon toll aus, so groß und bauschig. (Mein kleiner Pavillon steht auch schon auf der anderen Seite. Elinors Zeltleute haben mich endlos damit aufgezogen.) Ich muss dafür sorgen, dass Luke nichts sieht, aber wenn er heute Abend nach Hause kommt, ist es sowieso schon dunkel. Janice wollte, dass ich unsere Vorhänge zusammennähe, was ich dann doch ein bisschen übertrieben fand. Gary konnte seinen Nervenzusammenbruch drei Stunden durchhalten, und jetzt ist Luke bei Davina und lässt sich in irgendeinem Kellerraum ihres Krankenhauses untersuchen. Gerade eben hat sie angerufen, um mich auf den neuesten Stand zu bringen. »Ich habe ihn für eine Stunde aufs Laufband gestellt, um sein Herz zu prüfen. So richtig Spaß hat er nicht daran«, fügt sie fröhlich hinzu. »Wohin soll er denn von hier aus gehen« »Ich ... weiß noch nicht genau«, muss ich zugeben. »Ich rufe Sie zurück.« Den nächsten Teil meines Luke-Beschäftigungs-Programms habe ich noch nicht ausgearbeitet, und langsam mache ich mir Sorgen, besonders da es mittlerweile dreizehn »Happy Birthday, Luke Brandon«-Videos bei YouTube gibt. Den ganzen Tag ist Martin schon online und ruft ständig: »Da ist schon wieder ein neues!« Und dann hat jemand eine Website mit dem Namen happybirthdaylukebrandon.com eingerichtet, die alle miteinander verlinkt und die Leute auffordert, ihre lustigen/netten/ pikanten Geschichten über den »König der Meinungsmacher« zu posten, wie man Luke offenbar nennt. Ich weiß bald nicht mehr, was ich dazu sagen soll. Wer macht das alles? Danny hat die Theorie geäußert, dass im Moment in der Londoner City kein Mensch mehr arbeitet und sich alle langweilen, sodass sie sich über jede kleine Abwechslung freuen. »Nummer vierzehn ist gerade reingekommen«, ruft Martin von seinem Notebook herüber, als ich den Hörer auflege. »Irgendwelche Mädchen von Prestwick PR, die Happy Birthday (wie Marilyn Monroe singen) Nackt «, fügt er hinzu. »Nackt?«Ich renne hinüber, mit Suze auf den Fersen. Okay, also ... sie sind nicht völlig nackt. Die entscheidenden Stellen werden von Büropflanzen und Aktenordnern und einem Fotokopierer verdeckt. Aber ehrlich. Wissen die eigentlich nicht, dass Luke verheiratet ist? Besonders die eine mit den dunklen Locken und dem ausgeprägten Hüftschwung. Ich hoffe, die kommt nicht zur Party. »Was hast du denn mit Luke als Nächstes vor?«, sagt Suze, die mein Gespräch mit Davina gehört hat. »Ich meine, er kann ja nicht den ganzen Tag untersucht werden, oder? Der tobt inzwischen doch bestimmt.«  »Ich weiß.« Ich beiße mir auf die Lippe. »Ich dachte, ich bitte Bonnie, ihm unendlich viele Mails zu schicken. Und stapelweise Akten, die er alle sofort lesen muss.« »Und morgen?«, meint Suze. »Weiß nicht. Vielleicht noch mehr Akten.« Suze schüttelt den Kopf. »Du brauchst was Größeres. Womit könntest du garantiert seine Aufmerksamkeit erregen? Bei Tarkie wüsste ich sofort, was ich sagen würde. Ich würde sagen, die Historische Gesellschaft hat angerufen, weil sie Beweise haben, dass Ur-ur-ur-Onkel Albert die Kanone doch nicht selbst abgefeuert hat. Er würde auf der Stelle alles stehen und liegen lassen.« »Wow« Voller Bewunderung starre ich Suze an. »Das ist echt speziell. Wer war Ur-ur-ur-Onkel Albert?« Suze verzieht das Gesicht. »Es ist eher langweilig. Willst du es wirklich wissen?« Hm. Vielleicht lieber nicht. »Entscheidend ist, dass ich weiß, womit ich Tarkie ablenken kann«, sagt Suze. »Du kennst Luke doch. Also, was wäre das bei ihm?« »Ein Problem bei der Arbeit«, sage ich nach kurzer Überlegung. »Was anderes fällt mir nicht ein. Er ist immer gleich zur Stelle, wenn ein großer Kunde Schwierigkeiten hat.« »Und könntest du so ein Problem erfinden?« »Vielleicht.« Spontan greife ich nach meinem Handy und rufe Bonnie an. »Hey, Bonnie. Ich brauche Hilfe, um Luke noch weiter abzulenken. Man kann seinem Geburtstag ja gar nicht mehr entgehen. Haben Sie noch mal bei YouTube reingesehen.« »Ach, Becky«, sagt Bonnie betrübt. ,)Ich fühle mich so schuldig. Hätte ich doch diese E-Mail nur nie abgeschickt.. .« »Machen Sie sich darum jetzt keine Gedanken«, sage ich eilig. »Vielleicht können wir den Umstand sogar nutzen, dass alle Bescheid wissen. Könnten Sie seinen Klienten in einer Rundmail sagen, dass wir ihn bis morgen Abend ablenken müssen, und sie bitten, sich irgendein Problem auszudenken, mit dem er beschäftigt wäre?“ »Was für ein Problem denn?«, sagt Bonnie zweifelnd. »Ich weiß nicht! Sie könnten so tun, als würden sie pleitegehen, oder einen Sexskandal erfinden ... irgendwas! Nur um ihn ein paar Stunden auf Trab zu halten. Sagen Sie denen, jeder, der irgendeine Idee hat, soll Sie anrufen, und Sie können die Ideen dann koordinieren.“ Einer seiner Klienten wird sich schon was Schlaues überlegen. Ich meine, wenn sie Videos drehen können, dann können sie sich ja wohl auch eine kleine Krise einfallen lassen, oder? Schon wieder klingelt mein Telefon, und diesmal sehe ich mir die Nummer vorher an, kenne sie aber nicht. »Hallo?“ »Rebecca?“, tönt eine fröhliche Stimme. »Ja«, antworte ich vorsichtig. »Wer ist da?“ »Eric Foreman von der Daily World. Sie erinnern sich an mich?“ »Eric!«, rufe ich freudig aus. »Wie geht es dir?“ Eric ist Journalist bei der Daily World, und ich kannte ihn schon, als er noch Finanzjournalist war. Manchmal habe ich sogar was für ihn geschrieben, aber irgendwann habe ich es aufgegeben, und wir haben uns aus den Augen verloren. Wieso hat er mich aufgestöbert? ».Mir geht es blendend, meine Hübsche. Ich stelle gerade einen Artikel über den Geburtstag deines Mannes für den Lokalteil zusammen und wollte dich um ein Zitat bitten. Oder besser noch, ihn selbst. Ist er da?“ »Was?« Sprachlos starre ich mein Handy an. »Wieso schreibst du über seinen Geburtstag?“ »Machst du Witze? So ein erstklassiger Klatsch und Tratsch? Hast du YouTube gesehen? Hast du gesehen, wie viele Klicks er hat?“ »Ich weiß«, sage ich verzweifelt. »Aber das war so nicht geplant. Es sollte doch ein Geheimnis bleiben!«  Erics brüllendes Gelächter macht mich fast taub. »Ist das dein Zitat?«, sagt er. »Es sollte doch ein Geheimnis bleiben? »Ich habe heute schon acht E-Mails deshalb bekommen. Ich dachte, du hättest die Kampagne selbst angeschoben, meine Liebe!« »Nein! Ich will, dass es aufhört!« Wieder brüllt er vor Lachen. »Da ist jetzt nichts mehr zu wollen. Alle wissen davon. Sogar Leute, die ihn gar nicht kennen, geben es weiter. Wusstest du, dass das Marketing-Team von Atlas Fund Management nach Kent in Klausur gegangen ist? Die haben Happy Birthday, Luke mit ihren Autos auf dem Parkplatz geschrieben. Hab gerade das Foto bekommen. Ich werde es morgen drucken, sofern ich nicht noch was Besseres finde.« »Nein!« Ich schreie fast vor Entsetzen. »Das darfst du nicht! Es soll doch eine Überraschungsparty für Luke sein! Was bedeutet, dass er überrascht sein soll!« Mit wird ganz heiß vor Frust. Will das denn niemand begreifen? »Ach, das wird ja immer besser. Er hat also keine Ahnung, ja?« »Nein!«  »Und die Party ist morgen Abend?« »Ja«, sage ich wie ferngesteuert, dann verfluche ich mich. Eric mag ein Freund sein, aber vor allem ist er Journalist bei der Regenbogenpresse. »Dann pass mal auf, dass er keine Daily World in die Finger bekommt.« Eric lacht. »Das wird mein Aufmacher. London kann eine kleine Aufheiterung gebrauchen, nach allem, was in letzter Zeit so los gewesen ist. Du, junges Fräulein, hast der Stadt einen Anlass gegeben, sich ein bisschen zu amüsieren. Das will ich niemandem nehmen. Unser Reportagechef wird sich bestimmt auch noch bei dir melden. « »Aber ... «  »Und wir werden nicht die Einzigen sein. Du solltest deinen Liebsten also besser von der Presse fernhalten.« »Nein! Das darfst du nicht!«  Aber er hat aufgelegt. Sprachlos starre ich mein Handy an. Das kann nicht wahr sein. Meine ultrageheime Überraschungsparty, von der kein Mensch was wissen sollte... steht morgen in der Zeitung? Abends habe ich die Lage gerade noch so im Griff, obwohl es inzwischen 23 YouTube-Glückwünsche gibt und Eric schon einen Artikel über Lukes Party auf der Online-Seite der Daily World veröffentlicht hat. Ich habe eine verzweifelte E-Mail an alle Partygäste und Kunden von Brandon Communications geschickt, ihnen mitgeteilt, dass die Party nach wie vor eine Überraschung werden soll, und sie gebeten, dass sie bitte, bitte keinen Kontakt zu Luke aufnehmen. Bonnie hat per Kurier einen Riesenstapel Akten vorbeigeschickt, der Luke ablenken soll, und ein paar freundliche Klienten haben eingewilligt, ihn morgen mit diversen erfundenen Problemen einzudecken. Leider klingt nichts davon sonderlich überzeugend. Ehrlich gesagt, stehe ich voll unter Strom. Wir haben noch eine ganze Nacht und einen Tag bis zur Party, und die ganze Welt weiß Bescheid, und nebenan flattert ein Riesenfestzelt im Garten. Ich meine, wie soll ich es nur geheim halten? »Keine Sorge. Jetzt dauert es nicht mehr lange.« Suze gibt mir einen Kuss, hat Mantel und Schal schon an. »Ich muss los. Wir sehen uns morgen, wenn der große Tag gekommen ist!« »Suze!«, Ich nehme sie bei den Händen. »Ich danke dir. Ich weiß überhaupt nicht, was ich ohne dich gemacht hätte, und ohne Tarkie und ... alles.«  »Sei nicht albern. Es war lustig! Außerdem hat Elinor die meiste Arbeit gemacht. Und, Bex ...« Plötzlich wird sie ernster. »Es wird Luke von den Socken hauen. Ganz bestimmt.« »Glaubst du wirklich?«, »Ich weiß es. Es wird sensationell.« Sie drückt meine Hände. »Ich muss los, sonst sieht er mich noch.«  Als die Haustür ins Schloss fällt, klingelt mein Handy schon wieder, und ich werfe einen müden Blick darauf. Ich war heute so lange am Telefon, dass meine Stimmbänder gelitten haben. Endlich bringe ich die Energie auf ranzugehen. Ich kenne die Nummer nicht, was mich nicht überrascht . »Hallo? Hier ist Becky.« »Becky?«, höre ich eine sanfte, weibliche Stimme. »Sie kennen mich nicht. Mein Name ist Sage Seymour.« Bitte? Ein gewaltiger Adrenalinstoß schwappt durch mich hindurch, wie drei Dosen Red Bull und ein Olympiasieg auf einmal. Ich spreche mit Sage Seymour? Sie weiß, wie ich heiße? Sage Seymour sitzt irgendwo mit einem Handy in der Hand und spricht mit mir. Ich frage mich, was sie wohl anhat. Ich meine, nicht dass ich jetzt pervers wäre. Ich meine eher ... Komm schon, Becky. Sag was . »Oh. Oh, hi.« Verzweifelt versuche ich, cool zu klingen, aber meine blöde Stimme ist drei Oktaven hochgerutscht. »Äh, hi! Hi!« Anscheinend komme ich nicht über das Wort »hi« hinaus . Ich habe Ihren Mann engagiert, damit er die PR für mich macht«, sagt sie, und ihr singender Tonfall klingt total vertraut. »Aber das wissen Sie wahrscheinlich.« Meine Gedanken überschlagen sich. Weiß ich es? Ich meine natürlich: »offiziell«  Wenn ich sage, dass Luke mir nichts davon erzählt hat, klingt das komisch? Als wäre es ihm nicht wichtig oder er spräche nicht mit seiner Frau? »Wie aufregend!« Ich schlucke. »Ich bin ein Riesenfan.« Ich könnte mich erschießen. Ich klinge so was von lahm. »Es war etwas >ungewöhnlich<. Aber wissen Sie, ich hatte genug von diesen Hollywood-Schwätzern. Ihr Mann hatte in zehn Minuten mehr vernünftige Ideen als jeder Einzelne von diesen Quatschköpfen.« Mir wird ganz warm vor Stolz. Ich wusste, dass Luke gute Arbeit leistet. »Also, ich habe von Ihrer Party gehört«, sagt Sage. »Klingt nach 'ner ziemlich großen Geschichte.«  Ja, aber ... woher weiß sie ... »J-ja«, stottere ich. »Ich meine ... ziemlich groß ...«  »Ich war bei YouTube. Eindrucksvolle Glückwünsche. Dann hat mein Assistent die E-Mail von Bonnie bekommen. Sie müssen Luke ablenken, stimmt's?« »Ja! Übers Internet ist alles rausgekommen, und dabei sollte es doch eine Überraschung werden und ...«  »Wie wäre es, wenn ich ihn für Sie mit Beschlag belege?«, sagt Sage ganz ruhig. »Ich könnte ihn auffordern, ans Set zu kommen. Die Diva raushängen lassen. Ich kann eine ziemlich gute Show hinlegen. Wenn er erst mal am Set ist, kümmern wir uns um ihn. Führen ihn herum, beschäftigen ihn, bis Sie ihn brauchen. Dann setzen wir ihn in einen Wagen.« »Wow.« Ich schlucke. »Das wäre allerdings der Hammer.«  Ich bin so was von neidisch. Ich möchte zum Filmset. Ich möchte herumgeführt werden. Verzweifelt suche ich nach einem überzeugenden Grund, wieso ich mitkommen sollte, als sie hinzufügt: »Sie waren früher mal im Fernsehen, oder? Morning Coffee?«  »Ja!«, sage ich erstaunt. »Ich habe Sie oft gesehen, wenn ich frei hatte. Sie waren lustig.« « Oh ... danke!«, Ich schlucke. »Wir sollten uns bei Gelegenheit mal auf einen Drink verabreden.« Es ist völlig verrückt. Ich halte mein Handy fest und frage mich, ob ich das eben geträumt habe. Sage Seymour hat vorgeschlagen, dass wir was zusammen trinken gehen? Ein weltberühmter, Oscar-gekrönter Filmstar hat vorgeschlagen, dass wir uns auf einen Drink verabreden? Mein Leben lang habe ich mir diesen Moment vorgestellt. Ich hatte immer das Gefühl, es würde so kommen. Habe ich es nicht gesagt? Habe ich nicht immer schon gewusst, dass ich dafür gemacht bin, mich unter die Filmstars zu mischen? Vielleicht werden wir noch richtig gute Freundinnen! Vielleicht werde ich ihre Brautjungfer. Also, falls sie heiratet oder so. Ich müsste ja nicht die eine sein, die gleich neben ihr steht. Ich könnte auch die dritte von links sein. »Das wäre ... toll«, bringe ich irgendwie hervor. »Okay. Also, keine Sorge wegen Luke. Wird schon werden. Und viel Glück morgen! Bye, Becky.«  Und schon ist sie wieder weg. Fieberhaft speichere ich ihre Nummer in meinem Handy. Sage Seymour. In meinem Adressbuch. Als wären wir befreundet. Oh, mein Gott, das ist so cool! Eilig schicke ich Gary und Bonnie eine Nachricht -Gute Neuigkeiten! Sage Seymour sagt, sie will sich morgen bis zur Party um Luke kümmern -, als ich Lukes Schlüssel in der Haustür klappern höre. Ich werfe mein Handy weg und schnappe mir eine Zeitschrift. Okay. Benimm dich unauffällig. Ich habe nicht eben gerade mit meiner neuen besten Freundin Sage Seymour geplaudert. »Hi!« sage ich und blicke auf. »Alles klar? Wie geht's Gary?« »Was weiß ich ... « Luke schüttelt den Kopf. »Er redet wirres Zeug. Ich habe ihm gesagt, er braucht Urlaub.« Er verzieht das Gesicht, als er seinen Mantel ablegt. »Verdammt noch mal. Mein Arm. Ich habe fünftausend Spritzen gekriegt.«  »Ach du Armer!«, sage ich mitfühlend. »Die waren bestimmt nötig. Schließlich geht es um deine Gesundheit ...«  »So eine Untersuchung habe ich noch nie erlebt. Diese Ärztin hat mich eine Stunde rennen lassen.« Er sieht aus, als könnte er es nicht fassen. »Und ich musste sechs Fragebögen ausfüllen, die sich alle wiederholten. Ich weiß nicht, wer sich so was ausdenkt. Das sind komplette Vollidioten.«  Davina hat mir vorhin erzählt, Luke sei der pampigste Patient, den sie je hatte, und er habe ihr einen Vortrag darüber gehalten, was für eine Zeitverschwendung ihre Untersuchung sei. Was man ihm wohl nicht verdenken kann angesichts der Tatsache, dass sie sich vier Stunden länger hinzog als normal. »Du Ärmster.« Ich verkneife mir mein Lachen. »Tja, leider ist ein ganzer Stapel Akten für dich gekommen, den du dringend durcharbeiten musst ... « Für den Fall, dass du dachtest, du könntest mir kurz entkommen. Ich schleppe die Kiste heran, die Bonnie heute Nachmittag per Kurier geschickt hat, randvoll mit Verträgen und Korrespondenz. Damit müsste er vorerst beschäftigt sein. »Lass mich erst mal ins Netz.« Luke richtet sich auf. »Ist das mein neues Notebook? Ausgezeichnet.« Leise Panik prickelt auf meiner Haut, als er es aus dem Karton holt. Obwohl ich weiß, dass nichts passieren kann. Sie haben es mir versprochen. Und tatsächlich -bald darauf flucht Luke schon wieder. »Das Scheißding kommt nicht ins Internet!« Er tippt ein paar Mal darauf ein. »Was ist mit diesem verdammten Server los?« »Ach, du je«, sage ich unschuldig. »Na ja, vielleicht solltest du dich erst mal mit den Akten befassen, hm? Um dein Notebook kannst du dich auch morgen kümmern. Hast du was gegessen? Möchtest du etwas Risotto? Janice hat uns was rübergebracht.« Ich bin gerade dabei, das Risotto in der Küche aufzuwärmen, als ich Lukes Handy klingeln höre. »Luke Brandon.« Ich kann ihn kaum hören, als er sagt: »Oh, Sage! Hallo, Moment mal eben ... « Die Wohnzimmertür ist zu. Mist. Ich zögere einen Moment, dann schleiche ich auf Zehenspitzen den Flur entlang und drücke mein Ohr an die Tür. »Oh. Tut mir leid, das zu hören«, sagt Luke gerade. »Selbstverständlich genießen Sie bei uns absolute Priorität. Sage ... hören Sie, Sage ... aber das sagt doch niemand ... « Ja! Sie legt offensichtlich eine brillante Show hin. Wie zu erwarten. Sie ist eben Schauspielerin. »Aber natürlich kann ich ... acht Uhr morgens? In Pinewood. Okay, gut. Bis dann.« Im Wohnzimmer ist alles still, und ich überlege schon, ob ich wieder wegschleichen soll, als ich seine Stimme höre. »Bonnie? Hier ist Luke. Ich hatte eben Sage Seymour am Telefon. Ich fürchte, sie hat alle Vorurteile bestätigt, die ich je hatte. Ein Alptraum, diese Frau. Sie besteht darauf, dass ich gleich morgen früh zu ihren Dreharbeiten komme.« Er schweigt. »Ich weiß nicht wieso! Es kam aus heiterem Himmel! Sie hat irgendwelchen Quatsch von Presseverlautbarungen und Strategien geredet. Die denkt, alles dreht sich immer nur um sie. Sie hat eine Wahnsinnsangst, dass wir uns nicht genug um sie kümmern ... Na gut, ich rufe Sie an, sobald ich auf dem Weg ins Büro bin.« Er spricht leiser, sodass ich mein Ohr noch fester an die Tür pressen muss, um ihn zu verstehen. »Gott sei Dank habe ich Becky nichts erzählt. Irgendwie hatte ich mir schon gedacht, dass ich lieber warten sollte, bis ich sicher sein konnte, wie es sich entwickelt ...« Er stockt. »Nein! Natürlich habe ich Becky davon noch nichts gesagt. Es ist nur eine Möglichkeit. Darum kümmern wir uns, wenn es so weit ist.« Ich spitze die Ohren. Welche Möglichkeit? Worum kümmern? »Wir sehen uns morgen, Bonnie. Vielen Dank erst mal.« Scheiße. Er kommt. Ich wetze in die Küche zurück, wo das Risotto natürlich angebrannt ist. Hastig rühre ich das Verkohlte unter den Rest, als Luke hereinkommt. »Ich muss morgen übrigens früh raus«, sagt er zugeknöpft. »Ich treffe mich mit einem Klienten.« »Komm, iss was.« Ich stelle einen Teller vor ihn hin, wie eine perfekte, ahnungslose Ehefrau. »GroßerTag morgen. Du weißt, dass du Geburtstag hast, oder?«  »Scheiße. Du hast recht.« Kurz zuckt blanke Panik über seine Miene. »Becky, du hast doch hoffentlich nichts geplant, oder? Du weißt, dass wir diese große Schulung haben? Die geht bis in den Abend. Ich weiß nicht, wann ich wieder da bin ... «  »Natürlich.« Ich schaffe es, locker zu klingen. »Keine Sorge! Wir machen Samstag irgendwas Schönes.«  Oh, Gott. Ich schaff es nicht. Mein Mund zuckt vor leiser Hysterie, und ich fühle mich, als schwebten Seifenblasen über meinem Kopf. Draußen vor dem Fenster steht ein Zelt! Morgen ist die große Party! Alle wissen Bescheid, nur du nicht! Ich kann gar nicht glauben, dass er nichts ahnt. Ich kann nicht glauben, dass ich es so lange geheim halten konnte. Mir ist, als hinge nur ein hauchdünner Vorhang vor meinen Gedanken, und jeden Moment würde er ihn beiseiteschieben und alles sehen. »Becky ... « Luke mustert mich stirnrunzelnd. »Ist irgendwas los? Liegt dir etwas auf der Seele?« »Was?« Ich zucke zusammen. »Nein! Nichts! Sei nicht albern« Ich greife mir mein Weinglas, nehme einen Schluck, dann strahle ich Luke so überzeugend an, wie es mir möglich ist. »Nichts ist los. Alles ist gut.« Reiß dich zusammen, Becky. Reiß dich einfach zusammen. Keine vierundzwanzig Stunden mehr. Leute, die aber die Party Bescheid wissen Leute, die über die Party Bescheid wissen Ich Suze Tarquin Danny Jess Tom. Mum Dad Jaice Martin Bonnie Diese drei Frauen die am Nebentisch gelauscht haben Gary Janices Klempner Rupert und Harry bei The Service Vertriebschefs von Bollinger, Dom Perignon, Bacardi, Veuve Cliqnot, Party Time Beverages, Jacob´s Creek, Kentish English Sparkling Wine Cliff Maniküre (ich war so gestresst, dass ich mit irgendwem sprechen musste und sie hat versprochen, nichts auszuplaudern) 165 geladene Gäste (ohne die Leute von Brandon C) 500 Leser von Style Central Elinor Kellner im Ritz (hat bestimmt gelauscht) Elinors Personal (6) Partyservice (wie viele wissen wirklich was? Vielleicht einer oder zwei) 35 Mitarbeiter bei Brandon C 10.000 Kontakte von Brandon C 97.578.000 Nutzer von You Tube. (eigendlich 98.471.000 ist schon wieder raufgegangen) 1,8 Millionen Leser der Daily World Insgesamt = 1.909.209.000 Okay. Keine Panik. Solange sie es alle bis morgen für sich behalten. 20 Und plötzlich ist es fünfzehn Uhr am nächsten Tag. Keine vier Stunden mehr. Ich hab den ganzen Tag noch nichts gesessen, und meine Beine tun mir weh, und mein Handgelenk. ist ganz steif vom Telefonieren ... aber es ist so weit. Endlich ist es so weit. Alles befindet sich an Ort und Stelle, und es sieht einfach wunderschön aus. Alle stehen bereit. Die Team-Leader haben ein letztes Mal getagt. Elinor schuftet wie wild. Sie und Jess bilden ein eigenes, kleines Team, das Listen abhakt und noch einmal jedes Detail checkt. Die beiden sind ganz besessen davon, mögliche Fehlerquellen auszuschalten, und übertrumpfen sich gegenseitig als Party-Krisenfeuerwehr. Dauernd sagt Jess zu Elinor, wie gut sie das mache und dass sie nach Chile kommen und ihr Organisationstalent für etwas Sinnvolles einsetzen solle. Ob sie denn schon mal daran gedacht habe, sich ehrenamtlich zu engagieren? Woraufhin Elinor nur diese leere, steinerne Miene aufsetzt. (Sodass ich mir Jess gegenüber nicht verkneifen konnte: » Wer sagt, eine Party sei nichts Sinnvolles?«) Luke ist immer noch bei Sage auf ihrem Filmset in den Pinewood Studios, und sie hält mich per SMS auf dem Laufenden. Offensichtlich wissen alle Bescheid, die Schauspieler und auch das Team. Sie haben ihm erst mal sein neues Handy abgenommen und ihn mit Kopfhörern auf einen Regiestuhl gesetzt. Als er irgendwann unruhig wurde, haben sie ihn zwischen Set und Wohnwagen herumgeführt. Dann haben sie ihm ein Mittagessen verpasst. Dann hat sich Sage eine kleine Beschwerdenummer ausgedacht. Dann haben sie ihn wieder auf den Regiestuhl gesetzt. Jedes Mal, wenn er was sagen will, sagt sie: »Schscht! Ich muss mich konzentrieren!«, oder der Regisseur schnauzt ihn an. Im Grunde ist er also bis um sechs beschäftigt. Dann will Bonnie ihn anrufen und sagen, dass sie ihm aus Versehen einen wichtigen Vertrag nach Hause geschickt hat, der noch heute unterschrieben werden muss, und ob er den wohl unterzeichnen und ihr rüberfaxen kann ... und der Wagen bringt ihn dann hierher. Und ich nehme ihn an der Tür in Empfang. Und dann ... Jedes Mal, wenn ich daran denke, kriege ich Gänsehaut. Ich kann es nicht mehr abwarten. Ich kann nicht mehr warten! Die Leute vom Partyservice wuseln in Janices Küche herum. Das Zelt ist hell erleuchtet wie ein Raumschiff. Janices Garten sieht aus wie ein Wimpelmeer. Jetzt muss ich nur noch in die Badewanne und meine Nägel machen und Minnie anziehen ... »Hallo, Becky, Liebes.«  Als ich Mums Stimme höre, fällt mir fast mein Teebecher aus der Hand. Ich habe sie gar nicht kommen hören. Mir wird ganz flau im Magen, als sie das Zimmer betritt. Dafür bin ich noch nicht bereit. Die einzige Kommunikation zwischen Mum und mir bestand in den letzten Tagen aus kryptischen Nachrichten über Janices Handy. Es fing damit an, dass Janice Mum und Dad auf einen Drink vor der Party eingeladen hat, woraufhin Mum antwortete, wenn ihre eigene Tochter sie nicht einlüde, wolle sie auch nicht kommen. Janice schrieb zurück, sie sei sicher, dass Mum eingeladen sei. Ob sie denn keine Einladung bekommen habe. Mum antwortete gereizt, man habe sie wieder ausgeladen. Also habe ich Janice gesagt, sie soll Mum sagen, sie sei nur ausgeladen, wenn sie es auch sein wolle. Und Mum sagte, sie wolle sich nicht aufdrängen, wenn sie nicht willkommen sei. Dann mischte sich Dad ein und rief Janice an und sagte, wir hätten doch nicht mehr alle Tassen im Schrank. Und dabei blieb es dann irgendwann. »Oh.« Ich schlucke. »Hi, Mum. Ich dachte, ihr seid noch im West Place. Wo ist Dad?«  »Draußen im Auto. Heute Abend ist also die Party, ja?« Ihre Stimme klingt so steif und verletzt, dass ich direkt vor ihr zurückschrecke und gleichzeitig etwas grantig werde. Sie hat es sich doch mit Schlammpackungen und Cocktails gut gehen lassen. Wieso ist sie denn jetzt so grantig? »Ja.« Ich mache eine kurze Pause, dann füge ich achselzuckend hinzu: »Du hattest übrigens recht. Es wäre beinahe ein Desaster geworden. Wie sich herausstellte, konnte ich es tatsächlich nicht allein.« »Liebchen, niemand hat gesagt, dass du es allein machen solltest. Und es tut mir leid, dass ich gesagt habe ... « Mum kommt ins Stocken. »Also, mir tut es auch leid«, sage ich etwas hölzern. »Ich hoffe, ich enttäusche dich heute Abend nicht.« »Mir war nicht klar, dass ich eingeladen bin.« »Nun ... mir war nicht klar, dass du es nicht bist.« So stehen wir einander gegenüber, die Blicke abgewandt. Ich weiß nicht, wie es jetzt weitergehen soll. »Ach, Liebes.« Mums kühle Fassade fällt zuerst in sich zusammen. »Lass uns nicht streiten. Es tut mir leid, dass ich ihn erwähnt habe, diesen ... du weißt schon. Mr. Wham diesen Club-Tropicana-Bengel. Wake me up before you go go.« »Ich weiß, wen du meinst«, sage ich eilig, bevor sie das komplette Wham-Programm herunterrattert.« Ich wollte dich nicht entmutigen. Ich hatte nur Angst um dich, Liebes.« »Mum, du musst dir um mich keine Sorgen machen.« Ich rolle mit den Augen. »Ich bin erwachsen, oder? Ich bin neunundzwanzig. Ich bin Mutter.« »Ich bin auch Mutter!« Mit theatralischer Geste schlägt sie sich an die Brust. »Du wirst es sehen, Liebes! Es hört nie auf, niemals!« Oh, mein Gott. Stimmt das? Werde ich mir immer noch Sorgen um Minnie machen, wenn sie achtundzwanzig und verheiratet ist? Nein. Nie im Leben. Ich bin nicht wie Mum. Da bin ich inzwischen auf Kreuzfahrt in der Karibik und amüsiere mich. »Jedenfalls ... », sagt Mum. »Dad und ich haben in den letzten paar Tagen viel geredet, im Dampfbad und während der Massagen ... «  Ehrlich. Sind meine Eltern eigentlich auch mal aus der Wellness-Oase rausgekommen? »Ich verstehe, wieso du vielleicht das Gefühl hattest, du müsstest uns wegen des Hauses in die Irre führen«, sagt Mum mit hellroten Wangen. »Es tut mir leid, dass ich überreagiert habe, Liebes. Und ich bin mir darüber im Klaren, dass ich in den letzten Wochen etwas ... verspannt war.« Sie seufzt schwer. »Es war eine schwierige Zeit, wir alle zusammen im selben Haus ... und das Kürzertreten hat es nicht einfacher gemacht ...« »Ich weiß.«, Sofort tut es mir leid. »Und ich bin so dankbar, dass wir hier sein durften ...« »Du musst nicht dankbar sein! Hier ist dein Zuhause, Liebes!« »Aber trotzdem. Es war einfach zu lange. Kein Wunder, dass wir alle etwas gereizt waren. Tut mir leid, dass dich unser ganzes Zeug belastet hat, und die Flunkerei tut mir auch leid ...« Auch meine kühle Fassade ist in sich zusammengefallen. »Und selbstverständlich wünsche ich mir, dass du zur Party kommst, wenn du möchtest.«  »Natürlich möchte ich! Janice sagt, es wird ganz wundervoll. Sie sagt, sie kümmert sich ums Make-up! Sie hat extra drei Tuben Tauche Eclat besorgt!« Ich muss mit Janice sprechen. »Es wird bestimmt ganz toll. Wart's ab!« Es sprudelt nur so aus mir heraus. »Warte, bis du den Geburtstagskuchen siehst, Mum! Und die Deko!«  »Ach, Schätzchen, komm her.« Mum breitet ihre Arme aus und drückt mich fest an sich. »Ich bin so stolz auf dich. Bestimmt wird es ganz wunderbar! Janice sagt, das Thema ist jetzt Stolz und Vorurteil? Luke sieht als Mr. Darcy bestimmt super aus! Ich habe mir eine Haube gekauft, und Dad hat Knickerbocker bekommen, und ich will mir noch Locken in die Haare ... « »Bitte?« Ich weiche zurück. »Das Thema ist nicht Stolz und Vorurteil! Wo kommt das denn her?« »Oh.« Mum ist erstaunt. »Also, ich bin mir sicher, dass Janice gesagt hat, sie trägt das hübsche, blaue Kleid, das sie bei dieser Aufführung ihrer Theatergruppe ...« Du meine Güte. Nur weil Janice ihr Mrs.-Bennet-Kostüm trägt, ist alles plötzlich Stolz und Vorurteil? »Das Thema ist nicht Stolz und Vorurteil! Und es ist auch nicht Japan. Also komm mir gar nicht erst mit deinem Kimono.«  »Aber was dann? Gibt es denn ein Thema?«  »Mehr oder weniger.» Einen Moment lang debattiere ich mit mir selbst -dann fälle ich eine spontane Entscheidung. »Komm mal mit.« Ich ziehe sie in die Küche, schließe meine Aktenkiste auf und hole Dannys Zeichnungen hervor. »Hier sind die Entwürfe. Top secret. Kein Wort zu irgendwem.«  Mum betrachtet sie einen Moment lang unsicher, dann sehe ich ihr an, dass sie es wiedererkennt. »Oh, Becky«, sagt sie schließlich. »Oh, Schätzchen.« »Ich weiß.« Ich strahle sie an. »Ist das nicht toll?«  Ich war es, die darauf bestanden hat, dass es eine individuelle, maßgeschneiderte Party werden soll, die eher Luke etwas bedeutet als allen anderen. Und ich war es auch, die mit der entscheidenden Idee ankam. Aber wenn ich ehrlich sein soll, war es Elinor, die das alles ermöglicht hat. Elinor, ihr Multimillionen-Scheckbuch und ihre Weigerung, sich mit abschlägigen Antworten abzufinden. »Aber wie um alles in der Welt ...« Staunend blättert sich Mum durch die Seiten. »Ich hatte Hilfe«, sage ich vage. »Große Hilfe. »Nur Suze, Jess, Bonnie und Danny wissen, dass Elinor beteiligt ist. Irgendwie hat Elinor es fertiggebracht, die Fäden aus dem Hintergrund zu ziehen. Der Partyservice und das Personal glauben, ich hätte das Sagen, denn ich bezahle auch alles, und ich bin der Boss. Nicht mal Janice ahnt etwas. Womit ich mich zunehmend unwohl fühle, je länger es dauert. Ich meine, Elinor hat so viel getan. Sie sollte auch die Anerkennung dafür einstecken. Aber was kann ich daran ändern? »Und was hast du mit Luke angestellt?« Mum sieht sich um, als hätte ich ihn vielleicht in einen Küchenschrank gesperrt. »Alles okay. Er ist auf einem Filmset, bei einer neuen Klientin.« »Filmset?« Mum macht große Augen. »Schscht! Ich soll nichts davon wissen! Er ist noch drei Stunden beschäftigt.« Ich werfe einen Blick auf meine Uhr. »Dann kommt er her und ... Überraschung!« »Und was willst du anziehen, Becky, Schätzchen?« Neugierig dringt Mum auf mich ein, mit leuchtenden Augen. »Hast du dir was Neues gekauft?« Einen Moment lang tue ich, als hätte ich die Frage nicht gehört. Ich habe den Gedanken verdrängt. »Becky? Hast du dir etwas gekauft?« »Nein«, sage ich schließlich. »Habe ich nicht. Ich suche mir irgendwas aus meinem Schrank.« »Süße!« Mum klingt erstaunt. »Das sieht dir gar nicht ähnlich!« »Ich weiß.« Ich sinke auf einen Stuhl und pule etwas mutlos an meinen Fingernägeln herum. »Aber ich durfte ja schließlich nicht shoppen gehen, oder? Ich hatte es Luke versprochen.« »Damit meinte er doch bestimmt nicht so eine Party. Ich meine, da würde er doch sicher eine Ausnahme machen ... « »Ich wollte es nicht riskieren. Du verstehst ihn nicht, Mum. Er nimmt alles so ernst. Nanny Sue hat gesagt, ich bin ein Shopaholic«, füge ich finster hinzu. »Sie hat gesagt, ich muss ins Boot Camp, sonst wird Minnie auch so.« »Was?« Mum sieht angemessen aufgebracht aus. »Was für ein Unsinn! Hör nicht darauf Geldgierige Scharlatane, alle, wie sie da sind. Boot Camp klingt in meinen Ohren nach Abzocke« »Da gehst du doch nicht hin, oder, Schätzchen?« Ich liebe meine Mum. Sie sagt immer das Richtige. »Weiß nicht. Vielleicht. Die Sache ist, dass Luke ihr total geglaubt hat.« Ich seufze. »Und schließlich ist es sein Geburtstag. Es ist sein Tag. Wie könnte ich mir da ein neues Kleid kaufen?« Ich möchte nicht zugeben, wovor ich mich eigentlich fürchte ... nämlich davor, dass ich eine großartige Überraschungsparty organisiere, dann aber alles verderbe, weil er mich fragt, wie viel meine neuen Schuhe gekostet haben, und wir dann am Ende deshalb Streit bekommen. »Also habe ich einen Entschluss gefasst.« Ich hebe mein Kinn an. »Es wird etwas aus meinem Schrank sein. Schluss. Aus.« »Nun ... schön für dich, Liebes.« Sie lächelt mich aufmunternd an. »Ich sag dir was: Lass uns jetzt gleich mal zu deinem Schrank gehen und dir was aussuchen. Mal sehen, was wir finden. Hopp-hopp!« Als ich ihr die Treppe hinauf folge, sind meine Beine schwer. Deshalb habe ich diesen Augenblick hinausgezögert. Alle anderen werden heute Abend neue Kleider tragen, sogar Minnie. Egal. Macht nichts. Ich habe ein Versprechen gegeben und muss das Beste daraus machen. Es ist ja nicht so, als hätte ich nichts anzuziehen. »Und hattest du denn schon eine Idee?«, sagt Mum, als wir das Schlafzimmer betreten. »Was hast du denn in deinem Schrank?« »Vielleicht mein schwarzes Spitzenkleid?« Ich versuche, heiter zu klingen. »Oder dieses blaue Kleid, das ich vor Weihnachten anhatte? Oder vielleicht. .. « Ich öffne die Schranktür und erstarre mitten in der Bewegung. Was ist das? Wieso hängt da dieser brandneue, elegante Kleiderbeutel von The Look mitten in meinem Schrank? Und wieso ist da eine große Schleife dran? »Mach ihn auf!«, sagt Mum ganz aufgeregt. »Los, mach!«  Mit kleinen, argwöhnischen Blicken ziehe ich den Reißverschluss auf. Ich sehe teure, dunkelgrüne Seide und atme scharf ein. Nein. Das kann doch nicht ... Ich ziehe den Reißverschluss ganz herunter, nur um sicherzugehen ... Und die Seide fließt aus dem Kleiderbeutel wie ein dunkelgrün schimmernder Fluss. Es ist von Valentino. Es ist das enge Togakleid von Valentino mit dem Strass an der Schulter, das vor einem Monat bei The Look hereinkam und das ich mindestens zwanzig Mal anprobiert habe, das ich mir aber nie im Leben leisten könnte und ... Plötzlich entdecke ich am Bügel eine Geschenkkarte und öffne sie mit tastenden Fingern. Für Becky. Eine Kleinigkeit, die Du Dir aus Deinem Schrank aussuchen kannst. In Liebe von Mum und Dad. »Mum.« Mir schießen Tränen in die Augen, und ich zwinkere wie wild. »Das muss doch nicht ... ihr sollt doch nicht ... « »Es war Janice!« Mum kann nicht länger an sich halten. »Sie hat mir erzählt, dass du dir nichts Neues kaufen willst. Na, das konnten wir doch nicht zulassen! Nicht unsere kleine Becky! Und so ist es doch aus deinem Kleiderschrank! Verstehst du? Begreifst du, Liebes?« Sie ist außer sich vor Stolz. »Es hing schon in deinem Schrank! Du hältst dein Versprechen Luke gegenüber!« »Ich verstehe, glaub mir«, sage ich halb lachend, halb weinend. »Aber, Mum, das Kleid ist von Valentino! Es kostet ein Vermögen!« »Ach, nicht der Rede wert!« Mum atmet tief ein. »Aber weißt du, Wendy's Boutique in Oxshott führt sehr preiswerte Abendkleider, und manchmal frage ich mich, wieso ihr Mädchen ... « Sie stutzt, als sie meinen Gesichtsausdruck sieht. Im Laufe der Jahre waren wir oft genug unterschiedlicher Ansicht, wenn es um Wendy's Boutique ging. Jedenfalls habe ich deine nette Kollegin Jasmine gefragt, was ich kaufen sollte, und sie hat mir gleich dieses Kleid empfohlen. Und sie hat es mir zum Personalpreis überlassen, plus einem weiteren, großen Rabatt, weil es beschädigt ist!“, endet sie triumphierend. Beschädigt?“ Ich sehe es mir genauer an. »Es ist nicht beschädigt!«  »Sie hat den Saum eingeschnitten«, sagt Mum verschwörerisch. »Die Kleine ist echt clever. Und dann haben alle deine netten Freundinnen gesammelt und was dazugegeben. Von denen ist es also auch.« »Welche Freundinnen?“ Ich komme nicht ganz mit. »Du meinst Jasmine?“ »Nein! Alle deine Shopping-Freundinnen. Deine Kundinnen! Weißt du, die waren auch alle da. Die haben auch eine Karte unterschrieben ... wo ist sie nur?«  Sie fängt an, in ihrer Tasche herumzuwühlen. »Da ist sie ja.«  Sie reicht mir eine schlichte Smythson-Karte, auf die jemand gekritzelt hat: »Viel Spaß heute Abend, Becky! Wir sehen uns GANZ BALD bei The Look wieder! Alles Liebe von Davina, Chloe und allen deinen treuen Freundinnen.«  Darunter stehen ungefähr zwanzig weitere Unterschriften, und ich lese sie mit wachsender Verwunderung . »Aber was haben die denn alle gleichzeitig im Laden gemacht?“ »Sie haben ihre Kleider zurückgebracht!«, sagt Mum, als sei das naheliegend  »Wusstest du das nicht? Sie haben eine Kampagne gestartet, dass man dich wieder einstellen soll!«  Sie gibt mir ein knallpinkes Flugblatt, und ich nehme es ungläubig entgegen. Davon hat Davina gesprochen? HOLT BECKY ZURÜCK!!! Die Unterzeichner protestieren gegen die Behandlung unserer hoch geschätzten Freundin und Modeberaterin Becky Brandon (geborene Bloomwood). Aufgrund der herzlosen und ungerechtfertigten Behandlung durch The Look werden wir die -Personal-Shopping-Abteilung boykottieren -die Botschaft an unsere Freunde und Bekannten weitergeben -uns mit sofortiger Wirkung entshoppen. »Entshoppen?« Lachend blicke ich auf. »Was soll das bedeuten?« »Sie bringen alles zurück, was sie gekauft haben«, sagt Mum zufrieden. »Und zu Recht. Da war eine lange Schlange, alle hübsch gekleidet, und alle brachten teure Sachen zurück, noch eingepackt. Und allen wurde ihr Geld auf ihre goldenen Kreditkarten zurückgebucht. Ich wage mir gar nicht vorzustellen, wie viel das alles wert war. Eine Frau hatte drei lange Kleider. Yves Saint irgendwas? Fünftausend Pfund pro Stück. Blonde Frau aus Russland oder irgendwie so?« »Olenka?«, sage ich erstaunt. »Diese Kleider waren Sonderanfertigungen. Sie hat sie zurückgebracht?« »So hat sie sie auf den Tresen geworfen.« Mum zeigt es mir mit großer Geste. »Ganz schön theatralisch, oder? »Dasss ist für Becky, und dasss ist für Becky.«  Dann kam der Geschäftsführer runter in die Abteilung.« Mum läuft gerade erst warm, um mir alles zu erzählen. »Ich kann dir sagen, der kriegte es mit der Angst zu tun, als er sah, wie lang die Schlange war. Er wurde echt nervös. Er meinte: »Aber meine Damen, überlegen Sie es sich doch noch mal.«  Er hat allen einen Cappuccino angeboten. Aber sie haben ihn nur ausgelacht.« »Da möchte ich wetten!« Ich kann mir richtig vorstellen, wie Trevor versucht, meine Kundinnen zu bändigen. Die sind ein ganz schön burschikoser Haufen. »Sollte er dich also nicht heute noch anrufen, um sich zu entschuldigen, fresse ich einen Besen«, sagt Mum zuversichtlich. »Nach allem, was ich so höre, solltest du von denen etwas fordern.« »Moment.« Plötzlich pocht das Blut in meinen Schläfen. »Moment mal, Mum! Ich habe dir doch gar nicht erzählt, dass ich vorläufig entlassen wurde.« »Das weiß ich wohl«, sagt sie nüchtern. »Ich war etwas überrascht, das muss ich zugeben. Ich meine, ich wusste ja, dass es dein freier Tag war. Ich habe nur nicht geahnt, dass du jetzt Jeden Tag frei hast!« Sie lacht fröhlich. »Du bist also hergekommen ...«, sage ich ungläubig, »und wusstest, dass ich meinen Job los war, und hast kein Wort gesagt?« »Was soll ich sagen? Du wirst es schon regeln. Wir machen uns wohl Sorgen um dich, Becky. Aber wir glauben doch auch an dich!« Mum tätschelt meine Hand. »Es wird schon werden.« »Oh, Mum.« Mein Blick schweift vom Valentino-Kleid zu ihrem lieben, vertrauten Gesicht, und ich merke, wie mir schon wieder die Tränen kommen. »Ich kann nicht fassen, dass ihr mir ein Kleid gekauft habt.« »Tja, Liebes.« Wieder tätschelt sie meine Hand. »Wir hatten es so schön im West Place. Wir wollten uns bei dir bedanken. Mit Schuhen übrigens auch!« Sie nickt zum Schuhkarton unten im Schrank. »Schuhe auch?« Ich greife nach dem Karton. »Ja, Aschenputtel!« Mums Augen blitzen. »Nach allem, was man hört, will sogar Jess zu diesem Anlass ein hübsches, neues Kleid anziehen.« » Was du nicht sagst ... « Ich rolle mit den Augen. Jess' Kleid war ein endloses Drama. Erst wollte sie dieses triste, farblose Baumwoll-Shiftkleid aus dem Öko-Katalog bestellen. Da habe ich ihr gesagt, sie soll doch lieber etwas Schickeres anziehen, aber sie saß sofort wieder auf dem hohen Ross und meinte, wieso sie die Wegwerfgesellschaft unterstützen soll, wenn sie es ja doch nur einen Abend trägt? Woraufhin ich sagte: »Ich meinte eigentlich, du sollst dir was ausleihen. Das machen alle Promis, und es ist viel umweltfreundlicher, als sich was aus dem Katalog zu bestellen. Worauf sie keine Antwort hatte. Also wird sie ein exklusives Stück von Danny Kovitz tragen. Da gibt es kein Entrinnen. Begeistert reiße ich gerade den Schuhkarton auf, als mein Handy klingelt. »Ich hol's dir, Liebes.« Mum langt über den Stuhl, auf dem mein Handy liegt. »Es ist. .. « Sie sieht sich den kleinen Bildschirm genauer an, mit offenem Mund. »Sage Seymour? Sage Seymour, die Schauspielerin?« »Ja!« Ich muss richtig lachen. »Schscht! Cool bleiben!« Ich gehe davon aus, dass Sage mir ein neues Update geben will, was Luke angeht. Als sie zuletzt anrief, aß er offenbar gerade einen Burrito und unterhielt sich mit dem Choreografen. »Hi, Sage! Wie läuft's?« »Er ist weg!« Sie klingt verzweifelt. »Es tut mir so leid.« »Was?« Ich richte mich auf, und ein Stück Seidenpapier bleibt an meinen Fingern kleben. »Aber ... wie?« »Er ist einfach aufgestanden und abgehauen. Hat sich einen Wagen besorgt und ist weg. Hat nicht mal sein Handy beim Aufnahmeleiter abgeholt. Ich war in der Maske und hab nichts mitbekommen ... « »Wie lange ist es her?« »Eine halbe Stunde vielleicht ... « Eine halbe Stunde? Mein Puls geht schneller. »Und wo ist der Wagen hingefahren? Können Sie das rausfinden?« »Nein! Es war nicht mal einer von uns. Offenbar hat er gesagt, er muss los, und der Produzent hatte versprochen, ihm einen Wagen zu besorgen, sobald einer frei wäre, um ihn noch etwas hinzuhalten ... aber er wollte wohl nicht warten.« Das ist mal wieder typisch Luke. Er kann einfach nicht stillsitzen und es einfach mal genießen, sich auf einem Filmset herumzutreiben wie jeder andere auch. Nein, er muss sich einen Wagen besorgen und wieder an die Arbeit gehen. Prominente sind bei ihm glatt verschwendet. »Ich muss zurück«, sagt Sage. »Becky, es tut mir leid. Wir haben es vermasselt.« Sie klingt, als täte es ihr ehrlich in der Seele weh. »Nein! Seien Sie nicht albern! Sie haben es ganz toll gemacht. Es ist nicht Ihre Schuld, dass er weg ist. Wir finden ihn bestimmt wieder.« »Okay, aber lassen Sie mich wissen, wie die Sache ausgegangen ist, ja?« »Natürlich.« Schwer atmend stelle ich mein Handy ab und sehe Mum an. »Du wirst es nicht glauben. Luke ist verschwunden. Keiner weiß, wo er ist.« »Na, dann ruf ihn doch an, Liebes! Bestimmt hat er sein Handy ... « »Er hat kein Handy!«, heule ich fast. »Ich habe seinen BlackBerry kaputt gemacht, und das lausige Ersatzding hat er im Studio liegen lassen. Ich weiß nicht, welche Taxifirma er benutzt. Ich meine, ich schätze, er wird wohl wieder ins Büro fahren, aber ich kann es nicht sagen ...« Ich spüre den Paukenschlag der Panik, als mir die ganze Monstrosität der Lage bewusst wird. Was ist, wenn er gar nicht auf dem Weg ins Büro ist? Was ist, wenn er nach Hause kommt? Er könnte einfach so hereinstolpern, bevor wir fertig sind. »Okay.« Abrupt komme ich in Bewegung. »Wir müssen alle warnen. Ich rufe Bonnie an, du sagst Janice Bescheid, wir rufen alle Taxizentralen an ... wir werden ihn schon finden!« Zehn Minuten später habe ich alle zu einem Krisentreffen in der Küche versammelt. Es ist alles noch viel schlimmer, als ich dachte. Bonnie hat mir eben eine Mail von Luke weitergeleitet, die er ihr vom E-Mail Konto der Filmfirma aus geschickt hat, bevor er das Studio verließ. Er meinte, er könnte es nicht rechtzeitig zur Schulung wieder ins Büro schaffen, entschuldigte sich dafür und wünschte ihr ein schönes Wochenende. Was zum Teufel hat er vor? Wo will er hin? Okay, Becky. Ganz ruhig. Er taucht schon wieder auf. »Gut. .. « Ich wende mich der versammelten Mannschaft zu. »Oxshott, wir haben ein Problem. Luke hat sich abgesetzt. Also, ich habe eine Karte gezeichnet.« Ich deute auf mein eilig gebasteltes Flipchart. »Das hier sind die Richtungen, die er von den Pinewood Studios aus eingeschlagen haben könnte. Ich denke, den Norden können wir ausschließen ... «  »Oh!«, ruft Suze plötzlich mit Blick auf ihr Handy. »Tarkie schreibt, jemand von der Königlichen Familie hat die YouTube Clips gesehen und möchte Luke einen Glückwunsch senden. Die beiden sind irgendwo draußen auf der Jagd.« erklärt sie etwas verschämt, als alle sie anglotzen. »Welches Mitglied?« Janice faltet die Hände. »Doch wohl nicht Prinz William!?« »Hat Tarkie nicht gesagt. Es könnte vielleicht Prinz Michael von Kent sein«, fügt Suze kleinlaut hinzu. »Ach.« Alle sinken enttäuscht ein wenig zusammen. »Oder David Linley?« Janice wird wieder munter. »Ich liebe seine Möbel, aber habt ihr mal die Preise gesehen?« »Schluss damit!« Frustriert rudere ich mit beiden Armen. »Konzentriert euch! Wen interessieren denn die Möbel? Wir haben einen Notfall. Erstens brauchen wir draußen einen Wachposten, damit wir Luke ablenken können, falls er hierherkommt. Zweitens müssen wir uns überlegen, wohin er gefahren sein könnte. Drittens ... « »Dein Telefon«, sagt Mum plötzlich. Mein BlackBerry vibriert auf dem Tisch und zeigt eine Nummer an, die ich nicht kenne. »Das könnte er sein!«, sagt Dad. »Schscht!« »Still!«  »Stell ihn auf laut!« »Nein!«  »Seid endlich still.«   Es ist, als riefe ein terroristischer Kidnapper an, nach tagelangem Warten. Alle sind ganz leise und starren mich an, als ich rangehe. »Hallo?«  »Becky?<